In einem Punkt funktioniert der Rat der Europäischen Union wie der Nationalrat: Man weiß meist schon vor den Abstimmungen, wie sie ausgehen werden. Das Abstimmungsprozedere ist bekannt, der Vorsitz hat schon bei der Erstellung der Tagesordnung Bedacht darauf genommen, dass nur Dinge zur Abstimmung kommen, die mehrheitsfähig sind. Der Rest sind Diskussionspunkte.
An 872 Abstimmungen haben Österreichs Vertreter seit Ende 2009 teilgenommen. 821-mal wurde dabei mit Ja gestimmt. Keine einzige der 23 Nein-Stimmen konnte die Annahme eines Abstimmungspunktes verhindern. Überhaupt hat im gesamten Zeitraum kein Land im Rat selbst ein Projekt zu Fall gebracht.
Was keine Mehrheit findet, wird von den Mitgliedstaaten vorab im Ausschuss der Ständigen Vertreter, in Verhandlungen mit dem Parlament oder untereinander beerdigt. Nur 21-mal stimmte der Rat gegen Änderungsvorschläge des Europäischen Parlaments.
Gegen ein Dossier zu stimmen, von dem man weiß, dass es nach den Regeln des Rates eine Mehrheit finden wird, ist daher vor allem Show. Man will seinen Dissens plakativ kundtun, auch wenn man mit dem Ergebnis leben muss.
Dass es wenige knappe Abstimmungsergebnisse gibt, liegt an der eingehenden Vorbereitung und der ausgeprägten Konsenskultur. Wer bei welchen Themen mit welchen anderen Mitgliedstaaten mit Nein stimmt oder sich der Stimme enthält, ist dennoch aufschlussreich.
Es zeigt sich nämlich, dass viele Staaten in ihrer Abstimmungspolitik durchaus konzertiert vorgehen. Österreich gehört allerdings eher nicht dazu.
Schweden, Dänemark, die Niederlande und das Vereinigte Königreich stimmen häufig gemeinsam gegen ein Projekt. Oft betrifft das Themen aus dem Bereich Finanzen.
Schweden stimmte seit Ende 2009 insgesamt 21-mal gegen eine Vorlage im Rat. Dabei koordinierte es sich vorwiegend mit fünf Staaten, darunter auch Österreich, mit dem es viermal eine Gegenstimme abgab. Nur neunmal tat sich Schweden mit anderen Ländern als seinen fünf Hauptalliierten zusammen.
Österreich gab 23 Nein-Stimmen ab und hatte ebenfalls fünf Kernverbündete: die Niederlande, das Vereinigte Königreich, Deutschland, Schweden und Dänemark. Allerdings stimmte es mit diesen wesentlich seltener gemeinsam gegen ein Dossier. Im Gegensatz zu den schwedischen stimmten die österreichischen Vertreter diffuser ab. Schweden stimmte 15-mal mit den Niederlanden mit Nein, Österreich nur siebenmal.
24 gemeinsame Gegenstimmen kamen von anderen Ländern als den fünf genannten. Dieses Ergebnis spricht gegen eine aktive Bündnispolitik Österreichs im Rat. Sieht die Zusammenarbeit außerhalb der Abstimmung im Rat ähnlich aus, würde das die Stellung Österreichs in der Union entscheidend schwächen.
Ein Grund für die mangelnde Linie im österreichischen Stimmverhalten findet sich im parlamentarischen System sowie im Ministerialprinzip. Kurz: Es gibt mehrere Parteien in der Regierung, deren Minister für sich entscheiden können und sich nicht mit ihren Kollegen abstimmen müssen.
Ein Abtausch von Stimmen im Rat – nach dem Muster: Der Wirtschaftsminister stimmt mit Dänemark für Projekt X, dafür stimmt der dänische Sozialminister mit Österreich gegen Projekt Y – ist unter diesen Voraussetzungen erschwert.
Was außerdem auffällt: Die zwei großen Mitgliedstaaten Deutschland und das Vereinigte Königreich stimmen vorwiegend alleine gegen Vorlagen. Die Briten waren beispielsweise die einzigen, die gegen gemeinsame Beschlüsse in der Außenpolitik stimmten. 14-mal konnten sich alle Mitgliedstaaten auf eine Erklärung einigen – mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs.
Es überrascht auch, dass Deutschland bei den Gegenstimmen hinter dem britischen Austrittskandidaten und den Niederlanden den dritten Platz belegt.
Doch selbst die Briten haben mit 49 Nein-Stimmen nur 5,6 Prozent der Vorlagen abgelehnt. Das zeigt, wie stark nicht konsensfähige Themen vorselektiert werden. Allerdings hat das Vereinigte Königreich damit immer noch mehr Dossiers abgelehnt als 14 andere Mitgliedstaaten zusammen – darunter Frankreich und Italien.
Frankreich gibt seinen Widerstand im Rat meist auf. In achteinhalb Jahren gab es nur eine Gegenstimme ab und enthielt sich zweimal.
An vierter Stelle der Nein-Stimmer kommt bereits Österreich. Jeweils drei der Gegenstimmen betrafen die beiden Bereiche Landwirtschaft sowie Inneres und Justiz, sechsmal stimmte Österreich gegen Finanzthemen. Auch andere Länder stimmen regelmäßig gegen Vorhaben in bestimmten Themenfeldern.
Noch weiter vorne liegt Österreich bei den Stimmenthaltungen. Hier belegt es Platz zwei. Spitzenreiter ist wiederum das EU-skeptische Vereinigte Königreich.
Stimmenthaltungen können erfolgen, wenn ein Land von einer Maßnahme selbst nicht betroffen ist oder einen anderen Mitgliedstaat oder die heimische Öffentlichkeit mit seiner Stimme nicht verärgern möchte. Der Großteil der österreichischen Enthaltungen betraf den Umweltbereich, den Binnenmarkt und das Thema Inneres und Justiz.
Es gibt allerdings einen weiteren möglichen Grund, warum Österreich im Rat nicht abstimmt: Sind zwei Minister für ein Dossier zuständig und können sich auf keine gemeinsame Vorgehensweise einigen, ist die Enthaltung der letzte Ausweg.