Debatten wie jene um die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln im Angesicht der Corona-Pandemie oder um geeignete Strategien zur Anpassung an den Klimawandel , sind seit Veröffentlichung dieses Artikels neu entfacht worden. Dahinter liegen teils ungeklärte, aber mit-entscheidende landwirtschaftliche Detailfragen, wie:
Dazu hat die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes am Donnerstag ein wegweisendes Urteil veröffentlicht: Es dürfen keine europäischen Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen und Tiere mehr erteilt werden.
Zwar sahen dies im Prinzip auch die bereits geltenden Regelungen vor. Allerdings konnten Antragssteller immer wieder Schlupflöcher nutzen, um die Regelung zu umgehen.
Umweltgruppen sprechen nun von einem Meilenstein, auch wenn noch nicht alle Schlupflöcher restlos geschlossen seien. Auch europäische Saatzuchtfirmen begrüßen die Entscheidung.
Ausgenommen sind Patentanträge, die vor dem 1. Juli 2017 eingereicht wurden.
Warum sie das tun und wie sich Züchter Sorten auch weiterhin schützen lassen können, lesen Sie in diesem Text vom Dezember 2018:
Die lieblichen, himmelblau leuchtenden Blütenteppiche des Leins sind aus der Landschaft verschwunden. Genauso wie die betörend riechenden Hanffelder und der Färberkrapp. Selbst den uns geläufiger erscheinenden Hafer sieht man nur noch selten.
Nutzpflanzenarten wie diese spielten in der Landwirtschaft Europas teils jahrtausendelang eine gewichtige Rolle – und sind heute nahezu bedeutungslos. Würden sie noch immer angebaut, könnten sie die Landschaft abwechslungsreicher und farbenfroher machen, sie könnten einen Beitrag zur Biodiversität leisten und helfen, Insekten zu ernähren oder andere ökologische Funktionen in der Kulturlandschaft zu übernehmen. Wer trägt Schuld an dieser Art des Biodiversitäts-Verlusts?
Wir alle sind es, die heute lieber günstig zu habende und als angenehmer empfundene Baumwoll-Kleidung tragen, statt ruppiger Hanf- oder Leingewebe. Olivenöl schmeckt uns besser als Leinöl. Um Textilien rot zu färben, bevorzugen wir billige Produkte der chemischen Industrie statt des roten Farbstoffs Alizarin, den man aus den getrockneten Wurzeln des Färberkrapps gewinnen kann. Und auf den Hafer können wir weitgehend verzichten, weil die schnellere und pflegeleichtere Motorkutsche die Pferdekutsche ersetzt hat, die man fortlaufend mit Hafer betanken musste. Und auch, weil eintöniger Haferbrei noch nie zu den exquisitesten Speisen zählte und früher meist nur mangels Alternative auf den Tisch kam, auch wenn er heute unter dem Decknamen Porridge wieder ein kleines Zwischenhoch zu durchleben scheint.
Kurzum: Es wird nicht so sehr gegessen, was angebaut wird. Vielmehr wird angebaut, was gegessen wird. Ein Landwirt muss sich bei der Planung seiner Fruchtfolge genau überlegen, welche Produkte auf dem Markt gefragt sein könnten.
So oder so: Es gibt Zahlen, die erschrecken. So schätzen Experten der FAO, also der Weltlandwirtschafts-Organisation der Vereinten Nationen, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts rund 75 Prozent der genetischen Vielfalt der Nutzpflanzen verloren gegangen sind. 75 Prozent der Welternährung beruhen demnach auf nur 12 Pflanzenarten, wobei drei davon – Reis, Mais und Weizen – 60 Prozent der Kalorien und Proteine des menschlichen Speiseplans liefern. Bei Katherine Dolan vom Verein Arche Noah lösen solche Zahlen Besorgnis aus: „Klar ist, dass der Rückgang der Vielfalt am Acker eine sehr problematische Entwicklung ist, da die Menschheit auf immer weniger Arten, Sorten und Gene für ihre Ernährung setzt. Je weniger genetische Vielfalt angebaut wird, desto mehr sind wir neuen Schädlingen, Krankheiten und Klimabedingungen ausgesetzt.“
Michael Oberforster, der am AGES-Institut für Nachhaltige Pflanzenproduktion mit der Prüfung und Bewertung landwirtschaftlicher Sorten betraut ist, sagt: „Heutzutage werden in Österreich mehr Sorten angebaut als beispielsweise in den 1960er und 1970er Jahren.“ Wie kann diese Aussage zu den Schätzungen der FAO passen?
Bei der Frage nach der schrumpfenden Pflanzenvielfalt in der Landwirtschaft gilt es, wichtige Begrifflichkeiten auseinanderzuhalten. Zum Beispiel „Sorte“ und „Art“. Während Weizen, Mais, Apfel oder Melanzani verschiedene Nutzpflanzen-Arten ausmachen, gibt es innerhalb der Arten unterschiedliche Sorten. Bei österreichischem Weizen etwa tragen diese Sorten Namen wie Capo, Winnetou, RGT Sunnyboy oder schlicht Josef.
Vor allem aber trägt jede Sorte einen individuellen, streng definierten Mix an unterschiedlichen Eigenschaften in sich. Es geht um Kriterien wie das Ertragspotenzial an trockeneren oder feuchteren Standorten, die Wuchshöhe, die Widerstandsfähigkeit gegenüber diversen Weizenkrankheiten, den Proteingehalt, die Mehlausbeute oder die Backqualitätsgruppe. Die Österreichische Beschreibende Sortenliste ist so etwas wie der IKEA-Katalog für Landwirte und Getreide-Verarbeiter. Als schmökernder Laie staunt man über Sätze wie: „Teige mit niedrigem Dehnwiderstand neigen zum Breitlaufen und ergeben flache Gebäcke.“ (Seite 32)
Mit Stand 1. April 2018 sind in dieser Beschreibenden Sortenliste, die auf dem Saatgutgesetz von 1997 beruht, 1.007 Sorten landwirtschaftlicher Pflanzenarten zugelassen. Das heißt: Diese Sorten dürfen in Österreich und der EU in Verkehr gebracht werden. (Sie finden sich parallel dazu auch in der EU-Sortenliste, die derzeit alleine für Weizensorten 2.477 Einträge umfasst.) Beachtlich ist, dass die Zahl österreichischer Sorten in den 70er Jahren noch unter 300 lag. Für dieses Segment ist in den vergangenen Jahrzehnten also ein deutliches Mehr an Vielfalt zu verzeichnen. Wohlgemerkt geht es dabei um Arten, die großflächig auf Äckern angebaut werden; also um Getreide, Futterpflanzen oder Erdäpfel. (Obst- und Gemüsearten finden sich auf anderen Listen; mehr dazu hier, hier oder hier.)
Warum bedarf es überhaupt einer Zulassung, wenn man Saatgut vermehren und verkaufen möchte? Wieso gibt es so etwas wie ein Sortenschutzgesetz, das das geistige Eigentum der Saatgutzüchter schützt? Sollten freie Bauern nicht frei über die Früchte ihrer Arbeit verfügen dürfen? Genau das wird von manchen NGOs immer wieder plakativ gefordert. Sie zeichnen dabei das Bild eines Landwirts, der jedes Jahr einen Teil seiner Ernte zurückbehält, um ihn im kommenden Jahr als Saatgut zu benutzen; so wie es jahrtausendelang gängige Praxis war.
Der Bauer als Anbauer und Züchter in Personalunion ist heute kaum noch Teil der modernen landwirtschaftlichen Praxis. Landwirte kaufen heutzutage regelmäßig und freiwillig neues Saatgut, weil sie auf dessen Grundlage höhere Erträge und bessere Qualitäten ernten.
Und was ist mit den sogenannten „Alten Sorten“, also mit jenen Landsorten, die über Jahrhunderte durch fortlaufendes Wiederaussäen durch die Bauern entstanden sind? In Medienberichten entsteht immer wieder der Eindruck, diese – großteils in Vergessenheit geratenen – Saaten, seien modernen Sorten weit überlegen. Dabei fallen die Nachteile dieser alten Sorten häufig unter den Tisch.
Johann Birschitzky, Geschäftsführer der mittelständischen Saatzucht Donau meint dazu in der Addendum-Reportage „Schöne neue Gentechnik – Revolution in der Landwirtschaft“ : „Wir brauchen heute im Getreidebau Erträge von fünf, sechs, acht Tonnen pro Hektar, um mit diesen Erträgen die Weltbevölkerung ernähren zu können. Die alten Sorten konnten keine so schweren Ähren tragen, weil die Halme zu lang und zu schwach waren, und sie hatten auch, bei einer modernen Produktionstechnik mit Düngung, zu viele Pflanzenkrankheiten.“
Trotzdem sei es wichtig, die alten Sorten als genetische Quelle zu erhalten, um in der Züchtung darauf zurückgreifen zu können. In Österreich kümmern sich darum knapp 15 über das Land verteilte Genbanken, die weltweit wohl berühmteste wurde vor zehn Jahren in einen gefrorenen Berg am Nordpolarmeer gehämmert.
Es werden also enorme Anstrengungen unternommen, um die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen zu sichern und auszuweiten. Züchter Birschitzky kann aktuell kein Schrumpfen der Vielfalt erkennen: „Wir sehen eher, dass die Sortenzahl steigt. Es kommen jedes Jahr, zum Beispiel bei Weizen, zwischen fünf und zehn neue Sorten dazu. Natürlich werden auch zwei bis vier ältere beendet. Aber in den letzten Jahren hat der Umfang der Sortenliste, bei den wichtigsten Kulturarten in Österreich, eigentlich ständig zugenommen.“ Nachdem eine Sorte aus der Sortenliste gestrichen und damit vom kommerziellen Gebrauch ausgeschlossen ist, wird sie in einer Genbank gesichert.
Beim Anbau ist das Ziel eine möglichst ertragreiche Ernte von guter Qualität. Die Ernte dient als Lebensmittel, Tierfutter oder Rohstoff für andere Verwendungen.
Ein Züchter möchte das Erbgut der Pflanze (oder eines Tiers) verändern, um so neue Sorten (Rassen) mit verbesserten Eigenschafts-Kombinationen zu gewinnen.
Geschrumpft ist die Vielfalt trotzdem. Allerdings vor allem in einer rund hundert Jahre zurückliegenden Periode, am Übergang zwischen traditioneller und moderner Landwirtschaft. Eine Zeit, in der Bauern mehr und mehr auf die neuen Sorten der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich beginnenden professionellen (Kreuzungs-)Züchtung zurückgriffen. In Verbindung mit Dünge- und Pflanzenschutzmitteln konnten die Erträge der stetig neuen Getreidesorten seither Jahr für Jahr um durchschnittlich 1–2 Prozent gesteigert werden. Diese Entwicklung bildet neben bedeutenden und anhaltenden Auswirkungen auf das Ökosystem auch einen der Grundpfeiler für das weltweite Bevölkerungswachstum.
Auch Saatgutexperte Oberforster von der AGES bedauert den historischen Landsorten-Verlust der 1920er und 30er Jahre. Und legt dabei Wert auf Begrifflichkeiten: „Landsorten waren keine Sorten im Sinne der heutigen Saatgutgesetze, sondern eigentlich Populationen, Gemenge verschiedener Typen. Die Bauern tauschten untereinander aus, es gab eine Vielfalt, die sich über die Jahrhunderte entwickelt hat. Ein erheblicher Teil dieser Vielfalt ist unwiederbringlich verloren, weil nur wenige Personen den Weitblick und das Engagement hatten, diese Landsorten zu sammeln und aufzubewahren.“
Solchen in sich genetisch uneinheitlichen Population alias Landsorten möchten Organisationen wie Arche Noah wieder zu mehr Bedeutung verhelfen. „Wir sehen Vielfalt als eine Art Risiko-Diversifikation, die auch zur Erhaltung von traditionellen Anbaumethoden und Kulturgütern sowie zur Freude beim Essen beiträgt“, betont Katherine Dolan vom Verein Arche Noah. „Dazu kommt, dass Sorten anpassungsfähiger sind, die eine breitere genetische Basis haben, d.h. nicht so eng- bzw. hochgezüchtet wie die üblichen kommerziellen Sorten sind. Sie können sich sozusagen im Dialog mit ihrer Umwelt entwickeln. Das wird in Zeiten des Klimawandels ganz wichtig.“
Die Idee dahinter: Wird ein genetisch möglichst vielfältiges Saatgut in einer bestimmten Region Jahr für Jahr gesät, geerntet und wieder gesät, dann setzen sich langfristig vor allem jene Einzelpflanzen durch, deren Gene am besten zu den spezifischen Standortbedingungen aus Klima und Boden passen. Es entsteht allmählich eine widerstandsfähige, sich fortlaufend anpassende Population.
Nach Definition des Internationalen Übereinkommens zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (UPOV-Übereinkommen), das am 2. Dezember 1961 auf einer diplomatischen Konferenz in Paris beschlossen wurde und 1968 in Kraft trat (Beitritt Österreichs 1994), handelt es sich bei einer Sorte um:
„… eine pflanzliche Gesamtheit innerhalb eines einzigen botanischen Taxons der untersten bekannten Rangstufe, die, unabhängig davon, ob sie voll den Voraussetzungen für die Erteilung eines Züchterrechts entspricht,
Die Unterschiede zwischen einer Sorte und einer Population mögen nach einer eher akademischen Diskussion für Liebhaber der Materie klingen. Sie waren aber schon Grundlage für handfeste politische Auseinandersetzungen bzw. sind es noch immer. Im Kern geht es darum, dass sich eine Sorte gerade dadurch definiert, dass es sich um eine Gruppe von Pflanzen einer Art handelt, die sich untereinander sehr ähnlich sind und die man als Gruppe von anderen Pflanzen derselben Art, zumindest in einem Merkmal, klar unterscheiden kann. Heißt also: Das Erbgut bzw. die Gene aller Körner eines Sacks mit einer zugelassenen Saatgutsorte sollen möglichst identisch sein bzw. zeichnen sich durch eine große Homogenität aus. Hier, auf der Ebene der einzelnen Sorte, soll es also nach dem Gesetz gerade keine genetische Vielfalt geben. Warum eigentlich nicht?
Zwar hält auch Michael Oberforster von der AGES Vielfalt für essenziell. Aber eben in Bezug auf das Spektrum an Pflanzenarten und deren Sorten und nicht in Bezug auf die einzelnen Pflanzen innerhalb einer „Sorte“. Der Begriff „Hochzucht“ sei früher positiv besetzt gewesen und habe neue, verbesserte Sorten bezeichnet. „Heute macht man sich in manchen Kreisen verdächtig, wenn man für ein professionelles Züchtungsunternehmen arbeitet“, sagt Oberforster. „‚Hochgezüchtet‘ wird als unnatürlich dargestellt. Substanziell steht hinter solchen Zuschreibungen so gut wie nichts.“ So seien neue Sorten gegen Krankheiten tendenziell eher widerstandsfähiger als alte. Und auch die Abwertung moderner Züchtung als „kommerziell“ stört ihn. „Auch ein Biozüchter ist froh, wenn seine Sorte vom Markt angenommen wird und er entsprechend Saatgut verkauft.“
In der Praxis kaufen (Bio-)Landwirte der Industrieländer denn auch regelmäßig neues, amtlich geprüftes, zugelassenes und zertifiziertes Saatgut. So können sie am züchterischen Fortschritt teilhaben, von höheren Erträgen oder neu eingekreuzten Krankheitsresistenzen profitieren. Oder auf geänderte Marktanforderungen reagieren.
Zwar wird auch eigene Ernte wiederausgesät, aber eben selten durchgehend über viele Jahre hinweg. Das „Landwirteprivileg“ im Sortenschutzgesetz erlaubt es Kleinlandwirten ausdrücklich, diesen sogenannten „Nachbau“ zu betreiben. Von Nicht-Kleinlandwirten könnten die Lizenzinhaber theoretisch eine Nachbaugebühr eintreiben, was in Österreich derzeit aber nicht geschieht. Im Gegensatz zu Deutschland.
Laut Anton Brandstetter, Geschäftsführer von Saatgut Austria, beträgt die Nachbaurate bei nachbaufähigen Kulturarten – also Nicht-Hybriden – hierzulande zwischen 30 und 70 Prozent. „Durch den EU-Sortenschutz hat eine Einhebung von Nachbaugebühren eine rechtliche Basis. Eine Nachbaugebühr hat es in Österreich bisher aber nicht gegeben, da es keine politische Unterstützung dazu gab.“ Mit den auch in Österreich größer werdenden landwirtschaftlichen Betrieben sei es aber „in naher Zukunft angedacht“.
Bei ausschließlichem Nachbau, ohne aktive züchterische Maßnahmen, würde die Sorte durch die in der Natur ständig stattfindenden Mutationen allmählich genetisch aufgespalten und keine einheitlichen Eigenschaften mehr aufweisen.
Das Saatgutgesetz lässt bei der Sortenzulassung Ausnahmen zu. Knapp 30 der von weitsichtigen Landwirten und Enthusiasten geretteten (alten) Landsorten sind in der Sortenliste des Bundesamts für Ernährungssicherheit als Erhaltungssorten gelistet und dürfen, ohne die sonst geltenden Anforderungen an die Sortenreinheit zu erfüllen, in beschränktem Umfang von weniger als einem Prozent des inländischen Saatgutbedarfs vermarktet werden. Meist werde das Kontingent gar nicht ausgeschöpft, weil sich das Interesse auf einzelne Sonderprojekte beschränkt: Die Sommergerste Tiroler Imperial war schon einmal zwischen 1951 und 1953 registriert und feiert seit 2013 ein Comeback als Erhaltungssorte; und als Rohstoff für eine regionale Bierspezialität. Oder Ebers Nackthafer, der im Mühlviertel wächst.
Hybride sind das Produkt einer eigenen, speziellen Züchtungsmethode. Dabei werden zwei unterschiedliche (Linien-)Sorten jeweils immer wieder mit sich selbst gekreuzt. Über mehrere Generationen hinweg entstehen so zwei degenerierte, verkümmerte Elternlinien. Kreuzt man nun allerdings die Eltern miteinander, entstehen über den sogenannten Heterosiseffekt größere und ertragreichere Früchte als die der Ausgangspflanzen. Das Problem: Der Effekt zeigt sich von Natur aus einmalig in der 1. Generation. Die Samen erneut auszusäen ist sinnlos, was Hybride allerdings für Züchter besonders attraktiv macht. Der Sortenschutz ist quasi biologisch eingebaut.
Arche Noah und andere Organisationen fordern also weniger strenge Kriterien bei der Zulassung von Saatgut. Im Frühjahr wurde genau das auf EU-Ebene beschlossen, zumindest für einen Teilbereich: Am 1. Jänner 2021 tritt nämlich die neue EU-Bio-Verordnung in Kraft. Sie wird es Bio-Züchtern erlauben, auch Saatgut mit einem höheren Grad an genetischer Heterogenität zu vermarkten – ohne die bislang prinzipiell auch im Bio-Bereich erforderliche Prüfung auf Unterscheidbarkeit, Homogenität und Stabilität (DUS-Kriterien). „Das ist eine sehr wichtige Öffnung“, kommentiert Katherine Dolan. „Und wir hoffen, dass man dadurch mehr Erfahrung mit dem heterogenen Material sammeln kann. Es ist aber auch eine große Herausforderung, weil der Markt im großen Ganzen sehr einheitliche, standardisierte Pflanzen verlangt.“
Michael Oberforster glaubt, dass es für solch heterogenes Saatgut, das per Gesetz eigentlich keine Sorten darstellt, auch in Zukunft lediglich kleine, regionale Marktlücken zu füllen gibt. Im selben Atemzug verweist er auf Experten-Kollegen, die das Ganze „euphorischer sehen“.
Bleibt die Frage, wem das Saatgut gehört. Hier macht in den vergangenen Jahren das Patentrecht zunehmend von sich reden; gewissermaßen als Gegenentwurf zum europäischen System des Sortenschutzes. Beide Systeme schützten das geistige Eigentum jener, die jahrelange und kostenintensive Arbeit verrichten, um am Ende neue Sorten von Nutzpflanzenarten auf den Markt zu bringen. Ohne diesen Schutz verlören die Firmen ihre Geschäftsgrundlage.
Dann müsste entweder der Staat neue Sorten züchten, oder Landwirte müssten wieder komplett auf das System der alten Landsorten (Populationen) zurückwechseln. Und das will niemand, der bei Verstand ist. „Ich glaube, da sollte man pragmatisch denken: Züchtungsarbeit muss finanziert werden, und irgendeine Art von Sortenschutz macht in diesem Kontext Sinn“, findet auch die Leiterin der Abteilung Politik von Arche Noah, Katherine Dolan.
Aber was macht den Unterschied, ob dieser Schutz mittels Sortenschutz oder über das Patentrecht installiert wird?
Ganz wesentlich ist: Teil des Sortenschutzes ist das Züchterprivileg, dass es allen Züchtern erlaubt, jede geschützte Sorte anderer Züchter als Ausgangsbasis für eigene Züchtungen zu verwenden. Jeder kann so auf dem Fortschritt des anderen aufbauen.
„Wenn wir glauben, dass eine registrierte französische Sorte für uns eine Bereicherung der Genetik darstellen könnte, können wir mit dieser französischen Sorte kreuzen, ohne dafür etwas bezahlen zu müssen, selbst ohne den Züchter fragen zu müssen“, verdeutlich Johann Birschitzky, der nicht nur Züchter, sondern auch stellvertretender Obmann von Saatgut Austria ist. „Genauso kann jeder andere europäische Züchter mit unserem Material kreuzen. Das ist bei Sortenschutz möglich, bei Patentierung wäre das nicht mehr möglich.“
Daniel Alge, Patentanwalt aus Wien, erklärt den grundsätzlichen Charakter eines Patents: „Eine patentierbare Erfindung muss im Wesentlichen neu, erfinderisch und gewerblich anwendbar sein. Während der Sortenschutz speziell für neue Pflanzensorten geschaffen worden ist, ist das Patentrecht auf Erfindungen auf allen Gebieten der Technik gerichtet – wobei die Landwirtschaft hier explizit als Gebiet der Technik definiert wird.“
Dabei sind Patenten im Bereich von Züchtungen aber längst noch nicht Tür und Tor geöffnet. Das Europäische Patentübereinkommen sowie die Gesetze (z.B. die EU-Bio-Patentrichtline) sehen nämlich bei der Patentierbarkeit landwirtschaftlicher Erfindungen zwei wesentliche Ausnahmen vor.
1. Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzensorten oder Tierrassen sind.
2. im Wesentlichen biologische Verfahren. (Grundsätzlich sind sehr wohl nicht nur Produkte, sondern auch Verfahren patentierbar.)
Der Teufel steckt im juristischen Detail. Und als die Patent-Prinzipien vor vielen Jahrzehnten begründet wurden, waren Begriffe wie Gentechnik oder CRISPR noch für lange Zeit unbekannt. „Die Streitpunkte, die sich dann ergaben, waren zum einen die Frage, wie mit der Patentierbarkeit gentechnisch veränderter Pflanzen umzugehen ist“, so Patentexperte Alge, „und zum anderen, welche Verfahren unter ‚im Wesentlichen biologische Verfahren‘ fallen.“
Unbemerkt von der öffentlichen Wahrnehmung haben sich die Methoden, mit denen das Erbgut von Pflanzen verändert wird, in den letzten Jahren grundlegend verändert, erklärt Science Buster Martin Moder im Video.
Um die Auslegung der Texte wird seither gerungen.
Im Sommer 2018 etwa wurde einer niederländischen Saatzuchtfirma das Patent auf eine ganz bestimmte Eigenschaft von Blattsalat gewährt.
„Patentiert wurde die Eigenschaft des Salates, auch bei höheren Temperaturen noch keimfähig zu sein. Das Patent schützt also nicht eine bestimmte Sorte, sondern theoretisch alle Salatpflanzen, die diese patentierte Eigenschaft haben. Das heißt, auch wenn ein österreichischer Züchter diese Eigenschaft durch ein ganz anderes Verfahren oder in einem ganz anderen genetischen Ausgangsmaterial findet, dürfte er nicht frei damit arbeiten.“
Der betreffende Salat war übrigens nicht mit Techniken gezüchtet worden, die gemeinhin als Gentechnik gelten, wobei die Grenze zwischen Gentechnik und anderen Züchtungstechniken ohnehin immer mehr verschwimmen und die juristischen Interpretationen für Naturwissenschaftler meist wenig sinnvoll erscheinen.
Im Juni 2017 beschloss der Verwaltungsrat des zuständigen Europäischen Patentamts in München, dass nicht nur „im Wesentlichen biologische Verfahren“, sondern auch „die aus solchen Verfahren hervorgehenden Erzeugnisse vom Patentschutz auszunehmen“ sind.
Das klingt einerseits danach, als seien die Produkte klassischer Kreuzungszüchtung damit klar außen vor. Andererseits erkennen Kritiker noch immer viele Schlupflöcher und befürchten, „dass sich Konzerne die Natur unter den Nagel reißen“.
Jedenfalls wurden Patenterteilungen auch schon wieder gekippt oder eingeschränkt, zum Beispiel ein Patent auf bestimmte Eigenschaften von Braugerste der Brauereikonzerne Carlsberg und Heineken. Organisationen wie „No Patents on Seeds“ erheben regelmäßig Einspruch, um Patente auf Pflanzen bzw. deren Eigenschaften zu blockieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen: die Lage ist unklar. Und zwar selbst für jene, die sich hauptberuflich mit dem Thema befassen. Erst Anfang Oktober lässt sich der Patentanwalt des Agrarkonzerns Syngenta in der Tageszeitung Die Presse mit dem Satz zitieren: „Die Rechtslage beim Europäischen Patentamt ändert sich. Uns ist nicht klar, wo die Grenze verläuft. Aber wir müssen verstehen, wie weit der Patentschutz reichen kann.“
Klar ist aber: Die heimische Saatgutbranche mit ihren 25 zum großen Teil kleinen und mittelständischen Unternehmen spricht sich gegen Patente in der konventionellen Pflanzenzüchtung aus. Und ebenso gegen die Möglichkeit, sich die Entdeckung bestimmter Eigenschaften und Inhaltsstoffe patentieren lassen zu können.
Auch neue Züchtungsmethoden wie CRISPR/Cas zählen, laut dem Spruch des Europäischen Gerichtshof vom 25. Juli, zur Gentechnik. Ihre leichtere Patentierbarkeit führen Kritiker als Argument gegen das Werkzeug per se ins Feld. So würde es Konzernen wie Bayer inklusive dessen Neukauf Monsanto erleichtert, ihre Marktposition zu stärken.
„Weltweit betrachtet ist die Patentierung von Saatgut ein treibender Faktor zunehmender Monopolisierung auf dem Saatgutmarkt“, findet Katherine Dolan. „Das können sich nur die ganz Großen leisten. Einerseits, weil ein Patentantrag viel Geld kostet. Andererseits braucht man sehr viele Anwälte, die herumschauen, wo und von wem die patentierten Eigenschaften von anderen benutzt werden.“
Patentanwalt Daniel Alge sieht in Patenten dagegen „eine der wenigen Möglichkeiten, die einem technologisch versierten ‚David‘ hilft, sich gegen einen multinationalen ‚Konzern-Goliath‘ auf einem Markt durchzusetzen.“
Und Naturwissenschaftler pochen darauf, dass sich sowohl mit den „alten“ als auch den neuen Gentechnik-Methoden auch in Europa wesentlich schneller Pflanzen züchten ließen, die weniger Pestizide oder Land in Anspruch nehmen. Mutationszüchtung per CRISPR könnte gerade der Bio-Landwirtschaft helfen.
Grundsätzlich lassen sich Bestimmungen und Gesetze rund um Gentechnik und Patente auf Pflanzen auch ändern. Wenn die Politik es will.