Am Montag überraschte die Umweltschutz-Organisation Greenpeace mit einer Aussendung. In aufrüttelnder Sprache wird darin vor einer von der EU-Kommission geplanten angeblichen „Aufweichung“ von „Gentechnik-Schutzstandards“ gewarnt. Dies würde aus einem der NGO zugespielten Dokument, einem Entwurf der Kommission, hervorgehen. Es sei „schockierend, wenn manche Gentechnik-Lebensmittel in Zukunft ohne umfassende Risikobewertung und ungekennzeichnet auf dem Europäischen Markt landen sollen“, heißt es in dem Statement. Das Problem: Was Greenpeace und viele andere Umwelt-NGOs als Bedrohungsszenario darstellen, wird von weiten Teilen der Wissenschaft wegen seines Potenzials für eine umweltfreundlichere Landwirtschaft als bedeutender Fortschritt betrachtet. Konkret geht es dabei um eine mögliche Neubewertung dessen, was derzeit rechtlich als Gentechnik gilt.
Naturwissenschaftlich betrachtet ist die Sache einfach: Nutzpflanzen, die mithilfe von Gentechnik gezüchtet wurden, sind mit keinem höheren Risiko verbunden als Pflanzen, deren Eigenschaften mit konventionellen Züchtungsmethoden kombiniert wurden – weder für die menschliche Gesundheit noch für die Umwelt. Darüber besteht ein Konsens innerhalb der weltweiten Pflanzenwissenschaften.
Zahlreiche Studien belegen, dass manche Gentechnik-Pflanzen sogar gesünder sind (weil sie beispielsweise unter weniger Schimmelpilzbefall leiden) und die Umwelt schonen (weil ihr Anbau weniger Pestizide erfordert). Andere gentechnisch veränderte Pflanzensorten (GVO) haben Landwirte dazu veranlasst, mehr des Unkrautvernichters Glyphosat zu verwenden.
Bei der Gentechnik kommt es also sehr darauf an, was man damit macht.
Wichtig für ein grundlegendes Verständnis ist, dass so gut wie alles, was wir essen, ein Produkt teils massiver „Genmanipulationen“ ist. Viele Jahrtausende lang geschah die züchterische Manipulation durch Auslese (etwa der dicksten Körner), seit grob hundert Jahren durch Kreuzung, und inzwischen auch durch Gentechnik und etliche andere Verfahren. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass menschliche Zivilisation, ohne irgendeine Form der „Genmanipulation“ alias Züchtung undenkbar ist. Biologische Grundlage aller Züchtungsfortschritte ist die Mutation, also die in der Natur zufällig passierende Änderung von Teilen des Erbguts (der DNA), auf der die gesamte Evolution basiert.
In diesem Video erklärt der Molekularbiologe Martin Moder die wichtigsten Züchtungstechniken sowie die verblüffenden Unterschiede zwischen natürlichen Pflanzen und dem, was wir essen.
Die derzeit geltenden Gesetze orientieren sich bei der Einstufung von Pflanzensorten nicht an deren Eigenschaften, sondern am Werkzeug, mit dem diese Eigenschaften eingebracht wurden. Alles, was juristisch als Gentechnik gilt, unterliegt in der EU äußerst strengen Regeln in puncto Zulassung, Risikoprüfung und Kennzeichnung. Abgesehen von Futtermittel-Importen hat dies zu einer praktischen Verbannung der Gentechnik in fast allen EU-Ländern geführt. Von ein paar Spezial-Supermärkten abgesehen, die US-amerikanische Schokoriegel verkaufen, kann man nirgendwo in Österreich etwas zu essen kaufen, das den Hinweis „gentechnisch modifiziert“ trägt. Es gibt auch kein einziges Feld, auf dem derartiger Mais oder Raps wachsen würde. Nicht einmal Universitäten trauen sich noch entsprechende Feldversuche durchzuführen, weil diese ohne 24-Stunden-Bewachung mit hoher Wahrscheinlichkeit von Feldzerstörern zunichte gemacht würden.
Das Problem: Die juristische Einstufung verschiedener Züchtungstechniken entspricht ungefähr dem Wissenstand der 1990er Jahre. Sie ist vergleichbar mit einem Gesetz, das für den Betrieb von Pferdekutschen erlassen, dann aber auf akkubetriebene Flugtaxis angewendet wird.
Genauso wie sich die Zeiten des digitalen Smartphones in keiner Weise mit der vergangenen Analogepoche des österreichischen Vierteltelefons vergleichen lassen, hat sich auch in der Pflanzenzüchtung eine Revolution ereignet: mit dem sogenannten „Genome Editing“ und insbesondere der Genschere CRISPR (gesprochen: Krisper) stehen Forschern heute Präzisionswerkzeuge zur Verfügung, die kaum noch mit den alten Gentechnik-Methoden vergleichbar sind. Mit ihrer Hilfe lassen sich im Erbgut einzelne Buchstaben löschen oder umschreiben, um dadurch zum Beispiel in den Pflanzen schlummernde Krankheitsresistenzen zu aktivieren oder sie weniger empfindlich gegenüber Trockenheit zu machen. Eigenschaften, die in der Natur ohnehin vorhanden sind, lassen sich so auf Sorten übertragen, die hohe Erträge bringen – und das sehr viel leichter und teils um Jahrzehnte schneller als per Kreuzungszüchtung. Forscher haben zum Beispiel mit Hilfe der Genschere CRISPR eine mehltauresistente Weizensorte gezüchtet.
Solche Sorten wären für die Umwelt ein doppelter Gewinn: Erstens benötigen sie für denselben Ertrag weniger Boden. Nicht benötigte Flächen könnten dadurch mit Wald oder Brache belegt werden und so Klima- und Artenschutz gleichzeitig dienen. Zweitens lassen sich durch resistente Sorten Spritzmittel bzw. Pestizide sparen, was ebenfalls ein Gewinn für den Artenschutz darstellt. Forscher sehen in der der Genschere eine Möglichkeit, die Vorteile der Biolandwirtschaft mit der Flächeneffizienz der konventionellen Landwirtschaft zu kombinieren .
Diese neue Form der gezielten Züchtung – manchmal auch als Neue Gentechnik bezeichnet – fällt allerdings seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Juli 2018 unter dieselben strengen Regelungen für Gentechnik wie alle anderen früheren Gentechnik-Pflanzen, bei denen Gene aus ganz anderen Organismen (z.B. Bakterien) mit eher unpräzisen Methoden in die Pflanzen eingeschleust werden.
Gleichzeitig fallen aber andere Sorten, bei denen durch radioaktive Strahlung oder die Behandlung mit Chemikalien tausende unkontrollierte Zufallsmutationen ausgelöst wurden (klassische Mutagenese), nicht unter die strengen Gentechnik-Regeln. Die Ergebnisse solcher groben Methoden dürfen in ganz Europa angebaut werden und sogar das Bio-Siegel tragen.
Bio-Lebensmittel oder solche, die das Label „Ohne Gentechnik“ tragen, gelten als frei von Gentechnik. Juristisch betrachtet ist das nicht die reine Wahrheit. Entsprechende Siegel dürfen grundsätzlich nämlich auch Produkte aus Pflanzen tragen, die mittels klassischer Mutagenese, also mithilfe von radioaktiver Strahlung oder Chemikalien gezüchtet wurden. Sie sind aber: GVO im Sinne der EU-Freisetzungsrichtlinie.
In einer speziellen UN-Datenbank sind über 3300 derartige Sorten registriert, darunter viele Getreidesorten, aber auch Äpfel, Tomaten oder die beliebte Grapefruit-Sorte Star Ruby, die mittels Neutronenbeschuss entstand und seit den 1970er Jahren als tiefrote, fast kernlose Sorte den Markt eroberte.
Solche Produkte klassischer Mutagenese nehmen in der Gentechnik-Richtlinie der EU eine Art Zwitterposition ein: Sie gelten zwar als „genetisch veränderter Organismus“ (GVO), sind aber trotzdem von den strengen Regeln (z.B. für Kennzeichnung) ausgenommen, die für andersartige GVO gelten.
Bestätigt wird der Zusammenhang ausgerechnet von Juristen des deutschen „Verband Lebensmittel ohne Gentechnik“, (das Pendent der österreichischen „ARGE Gentechnik-frei“). In einer ins Netz gestellten juristischen Interpretation des EuGH-Urteils heißt es: „Mit Urteil vom 25.07.2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) festgestellt, dass durch Mutagenese gewonnene Organismen genetisch veränderte Organismen (GVO) im Sinne der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG sind.“
Dass entsprechende Lebensmittel trotzdem als gentechnik-frei verkauft werden dürfen, wird von den Verbands-Juristen mit der engeren GVO-Definition des Lebensmittelrechts erklärt. Sie schreiben: „Damit sind durch klassische Mutagenese gewonnene Organismen zwar GVO im Sinne der Freisetzungsrichtlinie, aber keine GVO im Sinne des Lebensmittelrechts. Sie unterliegen damit weder den Zulassungs- noch den Kennzeichnungsanforderungen für GVO.“
Wissenschaftler und Pflanzenzüchter drängen nun auf eine Anpassung der Regelungen, die die sogenannte EU-Freisetzungsrichtlinie aus dem Jahr 2001 mit sich bringt. Ein Minimalkompromiss könnte sein, weiterhin die strengen Gentechnik-Regeln anzuwenden, wenn Gene aus einer anderen Art in eine Pflanze eingebracht wurden, sie aber nicht anzuwenden, wenn das Erbgut ausschließlich innerhalb der Artgrenzen verändert wird – so wie es auch mittels herkömmlicher Züchtung schon sehr lange praktiziert wird. Ähnliche Regelungen sind in Nordamerika oder Australien bereits in Kraft.
Seit dem EuGH-Urteil vom vergangenen Jahr gab es etliche in diese Richtung weisende Appelle. So fordern etwa die Österreichischen Akademien der Wissenschaften im Juli diesen Jahres ein „Update“ der Gesetzgebung mit dem Ziel, „eine nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion auch in Zeiten des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums“ zu ermöglichen. Die Forderung war Teil eines, gemessen an den nüchternen Gepflogenheiten von Wissenschaftlern, fast dramatischen gemeinsamen Appells von mehr als hundert Universitäten und Forschungsinstitutionen aus ganz Europa. Darin ist zu lesen:
Und weiter:
„Die europäische Wissenschaftsgemeinschaft fordert die europäischen Institutionen einschließlich der künftigen Europäischen Kommission dringend auf, geeignete rechtliche Maßnahmen zu ergreifen, um europäischen Wissenschaftlern und Züchtern die Anwendung der Genom-Editierung für eine nachhaltige Landwirtschaft und Ernährung zu ermöglichen.“
Innerhalb von Laboren kann zwar schon jetzt mit den neuen Methoden gezüchtet und geforscht werden, allerdings steht dafür kaum Geld zur Verfügung, solange die Nutzung der dabei entstehenden Pflanzensorten auf den heimischen Äckern aussichtslos bleibt.
Mit ihrem Aufruf zur Neubewertung der Gentechnik stehen die Wissenschaftler nicht alleine da. Zuvor hatten auch schon das wissenschaftliche Beratergremium der EU-Kommission oder Urs Niggli, einer der renommiertesten Forscher im Bereich Bio-Landwirtschaft, in dieselbe Richtung argumentiert. Sogar innerhalb der Grünen in Deutschland zeigt die grundsätzliche Gentechnik-Ablehnung inzwischen immer wieder Risse. Debatten-Beiträge einzelner Mitglieder fordern genauso ein Umdenken wie im Frühjahr 2018 die grüne Wissenschaftsministerin Baden-Württembergs Theresia Bauer.
Demgegenüber steht die reale Politik. In Österreich ist die Ablehnung von Gentechnik in der Landwirtschaft Konsens. Sie zieht sich durch das gesamte politische Spektrum inklusive der Bauern-Partei ÖVP.
Warum blockiert Greenpeace durch seine Fundamentalablehnung eine nachhaltigere Landwirtschaft? Das wollte Addendum von Greenpeace Österreich wissen. Die Antwort:
„Die Verfahren des Genome Editing sind vergleichsweise neue Verfahren, deshalb gibt es auch noch wenig Erkenntnisse über mögliche unbeabsichtigte Folgen. Darauf hat auch der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom Juli 2018 hingewiesen und ausgeführt, dass Risiken für Umwelt und Gesundheit bisher nicht hinreichend bestimmt werden konnten. In der Europäischen Union hat das Vorsorgeprinzip einen hohen Stellenwert und daher erscheint es Greenpeace nur folgerichtig und sinnvoll lebensfähige Organismen, die gentechnisch verändert wurden, nicht einfach in die Natur auszubringen, ohne sie einer umfassenden Risikobewertung zu unterziehen.“ (weiterlesen)
Entgegen der in der Frage unterstellten Behauptung einer Fundamentalablehnung, ist für Greenpeace eine sorgfältige und wissenschaftsbasierte Risikobewertung auf Basis des Vorsorgeprinzips für eine Zulassung notwendig. Für dieses Verfahren gibt es eine gültige europäische Rechtsgrundlage, die Verordnung (EG) Nr. 1829/2003.
Aktuelle repräsentative Umfragen zeigen, dass die österreichischen Konsumentinnen und Konsumenten keine Lebensmittel kaufen wollen, die mit Hilfe der neuen Gentechnik, also zum Beispiel Genome Editing, hergestellt wurden. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, welche Produkte sie kaufen, ist eine Kennzeichnung notwendig. Auch diese wird durch die aktuelle Rechtslage sichergestellt. Auch für LandwirtInnen und ZüchterInnen wird erst durch diese Kennzeichnung der gentechnisch veränderten Produkte Wahlfreiheit sichergestellt.
Die in der Frage postulierte These, die Wissenschaft sage klar und deutlich, dass die neue Gentechnik von den strengen Regeln der EU-Freisetzungsrichtlinie ausgenommen werden sollte, hält der Überprüfung nicht stand. Das European Network of Scientists for Social and Environmental Responsibility (ENSSER) warnt beispielsweise davor, dass die Genombearbeitung „zu zahlreichen unerwarteten, unvorhersehbaren und unerwünschten Ergebnissen führen kann“). Auch ein vom deutschen Bundesamt für Naturschutz beauftragtes Rechtsgutachten zeigt, dass es „keine ausreichende Kontrolle neuer Techniken außerhalb des Gentechnikrechts“ für die neuen gentechnischen Verfahren gäbe.
Die Anwendung neuer gentechnischer Methoden zur Produktion von Lebensmitteln ist auch unter WissenschaftlerInnen umstritten.“
Vollständige Antwort von Sebastian Theissing-Matei (Landwirtschaftssprecher Greenpeace Österreich)
Dem steht gegenüber, dass „mögliche unbeabsichtigte Folgen“ für Mensch und Umwelt theoretisch auch bei jeder anderen Züchtungsmethode auftreten können. Damit das nicht passiert, wird jede Sorte ohnehin einem aufwendigen Prüfungsverfahren unterzogen, bevor sie kommerziell vertrieben werden darf. Zudem hat der EuGH keine wissenschaftliche, sondern eine juristische Prüfung der geltenden Gesetze und seine Anwendung auf die neuen Züchtungstechniken vollzogen.
Rein logisch betrachtet ergibt es schlicht keinen Sinn, gezielte und skalpellartige Minimaländerungen im Erbgut (Genome Editing) einer strengeren Risikoprüfung zu unterziehen als die schrotflintenartigen Zufallsänderungen klassischer Züchtungsmethoden wie der Mutagenese mit Radioaktivität.
Unter den kompromisslosen Gentechnik-Gegnern finden sich auch viele Prominente, wie die TV-Köchin und Investment-Bäuerin Sarah Wiener, die seit kurzem zusätzlich für die Grünen im EU-Parlament sitzt. Sie reagierte auf die am Montag von Greenpeace enthüllten mutmaßlichen Pläne der EU-Kommission mit einer eigenen Aussendung. Darin verspricht sie „in Kooperation mit NGOs und Zivilgesellschaft“ gegen die neue Gentechnik zu kämpfen.
Dass dieses offenbar religiös motivierte Statement allen nachprüfbaren Fakten widerspricht, zeigt sich nicht nur daran, dass selbst auf Wieners eigenem 800 Hektar großen Gut Kerkow in Ostdeutschland keine Pflanzen angebaut werden, die nicht züchterisch bearbeitet, also manipuliert sind.
Tatsache ist, dass der EU-Rat die Kommission am 8. November per Beschluss aufgefordert hat, rechtliche Änderungen der Gentechnik-Regelungen mittels einer Studie bis zum Frühjahr 2021 zu prüfen. Bis solche tatsächlich umgesetzt wären, dürften weitere Jahre vergehen.