Addendum: Herr Professor Haller, wieso neigt der Mensch überhaupt zur Sucht?
Reinhard Haller: Der Mensch ist generell ein Wesen, das nach anderen Lebensinhalten drängt. Man will sein Bewusstsein verändern, seine Befindlichkeit. Suchtmittel sind dafür ein probater Weg. Man will sich aus der Wirklichkeit herausverrücken, und manchmal bleibt man in diesen Verhaltensweisen und in diesen Substanzen hängen. Man kann Sucht nicht durch einen einzigen Grund erklären, es sind immer viele Gründe, die zusammenspielen. Ein Teil liegt in unseren Genen. Eine wichtige Rolle spielt die frühe Kindheit. Wenn der Mensch beispielsweise in seiner Kontaktaufnahme über den Mund gestört wird, dann könnte er sich später vermehrt an der Zigarette oder an der Flasche festsaugen. Es spielen lebensgeschichtliche Faktoren eine große Rolle, bei jungen Menschen vor allem der Umgang mit anderen, die vielleicht auch Drogen konsumieren.
Ein ganz wichtiger Grund für die Sucht ist der Versuch, sich selbst zu heilen. Menschen, die süchtig werden, leiden oft unter Angstzuständen, Depressionen, Minderwertigkeitskomplexen oder Vereinsamungsgefühlen. Das Suchtmittel nimmt ihnen zumindest für ein paar Stunden diesen unangenehmen Zustand. Der Mensch, der depressiv ist, wird dann vielleicht besser gelaunt. Jemand, der sehr nervös ist, wird entspannt, und jemand, der unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, fühlt sich unter Kokain oder unter Alkohol plötzlich mächtig, stark und bewundernswert.
Das sind klassische Suchtsubstanzen. Wie sieht es mit der Spielsucht aus?
Der Mensch ist ein Homo ludens, also ein spielendes Wesen. Durch das Spielen erlernen wir verschiedene Fähigkeiten, das Spielen bereitet aber auch Vergnügen. Warum ist es beispielsweise so, dass Kinder Sprachen viel leichter erlernen? Weil sie es spielerisch tun. Warum kennen sich Kinder mit Handy, Internet usw. viel besser aus als wir Erwachsene? Weil das Ganze einen stark spielerischen Charakter hat. Leider gibt es aber auch Menschen, die daran hängen bleiben, immer mehr davon brauchen und nicht damit aufhören können.
Kann man Spielsucht mit einer Heroin- oder einer anderen Drogensucht gleichsetzen?
Man kann Verhaltenssüchte nicht unbedingt mit substanzgebundenen Abhängigkeiten vergleichen. Bei den substanzgebundenen Süchten kommt das Moment der Vergiftung unserer Organe, unseres Gehirns, unserer Psyche dazu. Aber wir dürfen Verhaltenssüchte trotzdem nicht unterschätzen. Denn die phänomenologischen Kriterien einer Sucht sind, ob man Kokainist, Alkoholist oder Spielsüchtiger ist, gleichermaßen erfüllt. Ich brauche immer mehr davon. Der Spielsüchtige beginnt auch nicht mit tausend Euro, sondern vielleicht mit fünf Euro. Die Frequenz nimmt zu, man spielt nicht einmal im Monat, sondern vielleicht jeden Tag vier-, fünfmal. Man verliert die Kontrolle. Das Spiel bestimmt mich, alle anderen Werte verlieren an Bedeutung. Dann bin ich ein Süchtiger, ein abhängiger Mensch geworden, und es spielt dann keine Rolle mehr, ob diese suchtmachende Substanz Opium heißt, oder ob es eine Verhaltensweise wie das Spiel ist.
Sie bezeichnen Spielsucht als die reinste Sucht. Können Sie das erläutern?
Von allen Patienten mit Suchtproblemen, die ich behandelt habe, waren die Spielsüchtigen mit Abstand die schwierigsten. Die psychischen Basiserkrankungen, die psychischen Begleitreaktionen finden wir bei keiner anderen Abhängigkeitsform in so ausgeprägter Weise wie bei der Spielsucht. Wir haben hier ein unheimlich hohes Maß an Persönlichkeitsstörungen, an Depressionen, an manisch-depressiven Erkrankungen, häufig auch an Angstzuständen. Und ich denke, dass gerade unter der Spielsucht vor allem das Umfeld enorm leidet. Es kommt in vielen Fällen zur Scheidung, zur Auflösung der Familie; und, was man nicht vergessen darf: Von allen Suchtformen haben die Spielsüchtigen mit deutlichem Abstand das höchste Selbstmordrisiko.
Steigen die Zahlen der Spielsüchtigen?
Sucht hängt immer von zwei Faktoren ab. Das eine ist die Verfügbarkeit einer Droge, das zweite ist die Entkultivierung. Das heißt, solange ich ein Suchtmittel in kultivierter, kontrollierter Weise verwende, wird das nicht gefährlich sein. Bei der Spielsucht haben wir die Entwicklung, dass die Verfügbarkeit unglaublich zugenommen hat. Vor 20 Jahren musste ich noch, wenn ich spielen wollte, eine Krawatte anziehen, mich ins Casino begeben, mich dort ausweisen und dergleichen. Heute kann ich mich völlig unkultiviert zu jeder Tages- und Nachtzeit, wie auch immer gekleidet, in das Spiel hineinwerfen. Ich kann nachts um drei den Rechner anwerfen und zu spielen beginnen. Durch dieses hohe Maß an Rundumverfügbarkeit und der völligen Entkultivierung des Suchtmittels ist es zu einem enormen Anstieg gekommen, ungefähr parallel zur digitalen Revolution verlaufend. Wir konnten beobachten, dass spielsüchtiges Verhalten bis zum Jahr 2000 ungefähr 1,8 Prozent der Bevölkerung erfasst hat. Dann ist es zu einem sehr starken Anstieg gekommen. Etwa seit 2012 haben wir einen Stillstand, also ein Einpendeln auf hohem Niveau – etwa bei der Anzahl anderer Kultursüchte. Beim Alkohol haben wir einen Anteil von circa drei Prozent erreicht, und beim Spiel wird das ungefähr ähnlich sein.
Ist eigentlich jemand, der wöchentlich im Lotto spielt, schon suchtkrank?
Wenn jemand wöchentlich Lotto oder Toto spielt, ist er natürlich nicht suchtkrank. Suchtkrankheit setzt immer eine gewisse Häufigkeit, eine Permanenz mit kurzen abstinenten Phasen voraus, die sind natürlich nicht gegeben, wenn ich an sechs Tagen nicht spiele, dieses aber im siebten Tag mache.
In einigen Bundesländern ist das kleine Glücksspiel verboten. Ist das sinnvoll – oder greift das zu kurz?
Regulationsmaßnahmen von staatlicher Seite können eine gewisse Einschränkung bedingen, aber niemals für den Betroffenen selbst die Sucht ausmerzen. Das heißt, der beste Therapeut im Suchtprozess ist immer der Betroffene selbst. Es ist ein alter politischer Streit, wie man mit Süchten generell von staatlicher Seite umgeht, ob man die Suchtmittel verbietet oder total freigibt. Beide Modelle hätten etwas für sich. Durchgehend aber ist das ambivalente Verhalten des Staates. Auf der einen Seite versucht er im Rahmen der Gesundheitsprävention alles süchtige Verhalten zu minimieren, indem er beispielsweise das Glücksspiel auf der einen Seite verbietet, aber auf der anderen Seite nimmt er sehr viel Steuergeld über Suchtmittel jeglicher Art ein. In den USA hat es bekanntermaßen die Prohibition gegeben, die gescheitert ist, aber nicht an sozialen Umständen oder an der fehlenden Durchführbarkeit, sondern ausschließlich daran, dass der Staat die Alkoholsteuer gebraucht hat. In Österreich haben wir uns lange schwer damit getan, Nichtraucherschutz-Bestimmungen einzuführen, weil der Staat offensichtlich kalkuliert hat, dass ein Raucher viele, viele Jahre lang hohe Rauchersteuer zahlt, aber dann, wenn er die Rente kassieren könnte mit 65, den Löffel raucherbedingt abgibt und somit auch den Pensionskassen nicht mehr zur Last fällt. Mit dem Spiel ist das natürlich nicht anders. Wenn aber einzelne österreichische Bundesländer das kleine Glücksspiel verbieten, dann ist das schon ein richtiger Ansatz. Auf der einen Seite wird dadurch die Verfügbarkeit zwangsläufig eingeschränkt, aber noch viel wichtiger ist, dass man dem Menschen ein Signal gibt: Wir wollen nicht, dass man viele Spielsüchtige produziert, und wir wollen schon gar nicht, dass der Staat am Elend dieser Leute noch verdient.
Was halten Sie von Spieler-Sperren?
Das Wegsperren ist bei Suchtmitteln immer so eine Sache. Das kann niemals ganz gelingen. Ein Erfolg wird immer nur dann zu erwarten sein, wenn die betroffene Person von sich aus sagt: „Ich muss nicht mehr, ich will nicht mehr spielen.“ Sperren sind meines Erachtens eine gewisse Alibimaßnahme. Sie können in vielfältigster Weise umgangen werden, heute mehr denn je. Insofern dienen sie letztlich ein bisschen der Beruhigung, dass Spielsuchtkonzerne sagen: „Wir tun eh alles, was man tun kann.“ Aber das sind letztlich billige und nicht sonderlich wirksame Maßnahmen. Ein wirklich verantwortungsvoller Umgang mit Spielsucht würde beinhalten, den Spielkonzernen, die ja enormste Gewinne lukrieren – einen wesentlichen Teil davon auf Kosten von kranken Menschen – aufzuerlegen, dass sie die ganzen Präventionskampagnen finanzieren müssen und Kliniken betreiben, in denen spielsuchtkranke Menschen behandelt werden.
Novomatic sponsert einen Teil der Suchtambulanz in Linz, nämlich für Spielsüchtige. Ist das nicht so, wie wenn eine Schnapsbrennerei eine Ambulanz für Alkoholsüchtige sponsern würde?
Wir können das Suchtproblem nicht wirklich lösen, müssen aber den Menschen, die davon betroffen sind und loskommen wollen, eine faire Chance geben, damit sie das schaffen können. Der beste Weg dazu sind Fachkliniken mit hochqualifiziertem Fachpersonal. Das wäre eine von mehreren Maßnahmen, die aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit gehen darf, sondern auf Kosten derer, die vorher die Menschen entsprechend ausgenommen haben.
Es gibt im Sportbereich Prominente, die für das Wetten werben. Es gibt aber auch bei klassischen Automatenspielen Testimonials wie Niki Lauda, die mit Novomatic-Kappen herumlaufen. Welche Wirkung hat das auf den Bürger?
Man weiß, dass die erfolgreichste Antiraucherkampagne und die erfolgreichste Präventionsmaßnahme gegen Alkoholprobleme jene war, dass man in Hollywood ein Gentlemen’s Agreement getroffen hat, dass die Helden nicht mehr rauchen und nicht mehr trinken. Das hat natürlich einen viel größeren Effekt, als wenn man Werbung macht. Aber wir dürfen aus gutem Grund für Zigaretten nicht mehr werben. Die Alkoholwerbung ist entscheidend eingeschränkt worden – und selbstverständlich muss das auch auf das Spiel zutreffen. Für Suchtmittel und suchtfördernde Verhaltensweisen darf es keine Werbung geben, weder direkt noch indirekt. Ein Verhalten, das letztlich zur Verelendung, nicht nur von Individuen, sondern auch von ihrem ganzen Umfeld führen kann, das darf doch unter keinen Umständen auf irgendeine Art und Weise beworben werden.
Die Wiener Spielsuchthilfe ist die Hauptanlaufstelle für Spielsüchtige in Ostösterreich. Hier können sich Betroffene beraten lassen, Einzel-, Gruppen- oder Familientherapien absolvieren. Klienten werden an stationäre Einrichtungen weitervermittelt bzw. nach einem Aufenthalt in einer Klinik weiterbetreut. Angeboten wird auch eine Sozial- und Schuldnerberatung, und auch Angehörige finden hier ein offenes Ohr.
Finanziert wurde die Einrichtung zu Beginn, in den 1980er Jahren, primär von den Casinos bzw. Lotterien. Mitte der 1990er Jahre wurde der Novomatic-Konzern als zusätzlicher Sponsor gewonnen. Seit 2011 übernimmt u.a. die Stadt Wien einen kleinen Teil der Kosten (2016: Behandlungskosten für 30 von 423 Glücksspielsüchtigen).
Wie fragil dieses Finanzierungskonzept ist, offenbarte sich Ende 2014, als Großsponsor Novomatic plötzlich absprang, wie im Jahresbericht der Spielsuchthilfe 2016 nachzulesen ist: „Die finanzielle Unterstützung durch Anbieter birgt aber auch Probleme: Seit Anfang 2015, nach dem Verbot der Automaten in Wien, blieben als Hauptunterstützer nur noch Casinos Austria und Österreichische Lotterien, nachdem sich die Firma Novomatic mit dem Argument zurückzog, keine Spielangebote mehr in Wien zu haben.“
Seit 2015 ist das kleine Glücksspiel in der Bundeshauptstadt gesetzlich untersagt. Izabela Horodecki, Leiterin der Wiener Spielsuchthilfe, sagt aber, trotz des Automatenverbots in Wien gebe es für Novomatic nach wie vor eine Möglichkeit, Geschäfte zu machen: „Die Novomatic-Tochterfirma Admiral hat sehr wohl noch ein Wettangebot in Wien.“
Der Rückzug des Großfinanciers war für die Spielsuchthilfe jedenfalls fatal, wie Horodecki schildert: „Ende November 2014 waren auf einen Schlag 60 Prozent des Jahresbudgets weg.“ Die Finanzierung von Therapeuten, Therapieräumlichkeiten und Infomaterialien war also von einem Tag auf den anderen gefährdet, die wichtigste ambulante Einrichtung für Spielsüchtige in Wien und Umgebung in argen Turbulenzen. Aufrechterhalten werden konnte das Hilfsangebot nur dadurch, dass nun vermehrt mit Psychotherapeuten gearbeitet wird, die zum Abschluss ihrer Ausbildung noch eine gewisse Anzahl an Praxis-Stunden absolvieren müssen – und daher ehrenamtlich arbeiten würden, erklärt Horodecki.
Nachhaltig wäre ein anderes Finanzierungssystem, sagt die Expertin: „Wenn der Gesetzgeber erwartet, dass Glücksspiel-Anbieter die Beratungs- und Behandlungsangebote für Spielsüchtige finanzieren, dann müsste er gesetzlich verankern, dass die Unternehmen einen Teil ihres Umsatzes oder Gewinns für die Behandlung spielsüchtiger Menschen, für Prävention und Forschung zur Verfügung stellen müssen. Eine ähnliche Lösung gibt es zum Beispiel in der Schweiz als Spielsuchtabgabe.“
Damit ist die klinische Psychologin und Psychotherapeutin ähnlicher Meinung wie der Vorarlberger Suchtforscher Reinhard Haller, der sagt, dass die Behandlung von Spielsüchtigen „nicht auf Kosten der Allgemeinheit gehen darf“.