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Flüchtlingsdeals: „Die Türkei-Gelder hat auch Ägypten vor Augen“
25. Februar 2019 Grenzschutz Lesezeit 6 min
Der Berliner Nahost-Experte Stephan Roll kritisiert im Interview die blauäugige Verhandlungsführung mit dem autoritären Regime in Kairo und glaubt, dass Ägypten bald nicht nur Transit-, sondern Herkunftsland für Migranten sein wird, die nach Europa wollen.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Grenzschutz und ist Teil 3 einer 4-teiligen Recherche.
Bild: Addendum

Europa will (und braucht?) Ägypten als Partner bei der Steuerung der Migration. Am 23. und 24. Februar gab es dazu einen Gipfel im großen Rahmen mit der Arabischen Liga, zu der auch das Land am Nil gehört. Doch wie verlässlich ist das autoritäre Regime in Kairo als Partner?

Einer, der dieser Frage wissenschaftlich nachgeht, ist Stephan Roll. Er ist Leiter der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Dort, in der deutschen Hauptstadt, treffen wir Roll zum Interview. Kairo würde beim Migrationsthema hoch pokern, sagt er. In seinen Arbeitsräumen erzählt er uns von seinen vielen Forschungsreisen nach Ägypten. Fast betrübt sagt er, dass es heute für ihn nicht mehr sinnvoll sei, vor Ort zu forschen. Regimekritische Gesprächspartner hätten Angst vor Repressionen, wenn sie sich mit ausländischen Experten unterhielten. Und sonst, Herr Roll?

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Die EU intensivierte ihre Beziehungen zu Ägypten im vergangenen Jahr. Zuletzt auch im Rahmen eines Gipfels mit der Arabischen Liga. Warum?

Ein ganz wichtiger Grund ist das Migrationsthema. Ägypten ist als das bevölkerungsreichste Land in der südlichen Nachbarschaft für die Europäer sehr wichtig. Es gibt aber auch Wirtschaftsinteressen. Frankreich zum Beispiel hat zahlreiche Rüstungsgeschäfte mit Ägypten. Daher geht es auch darum Waffen an Ägypten zu verkaufen. Natürlich ist auch der internationale Kampf gegen den Terror ein gemeinsames Interesse. Allerdings sehen wir in den letzten Jahren auch, dass Ägyptens regionale Bedeutung stark zurück gegangen ist, weil das Land mit sich selbst beschäftigt war.

Wie wurde Ägypten zum Partner in der Migrationsfrage?

Ägypten hat dieses Thema eigentlich erst nach 2015 für sich entdeckt. Damals wurde das Thema der irregulären Migration für Europa plötzlich sehr wichtig. Gleichzeitig ging es für Ägypten auch darum, Finanzhilfen zu bekommen, um den Staat vor der Zahlungsunfähigkeit zu retten. Die Golfländer, von denen Ägypten in der Vergangenheit sehr viel Geld bekam, waren nicht mehr bereit, im selben Ausmaß Gelder nach Ägypten zu transferieren. Deswegen musste sich das Land auf ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einlassen. Meine These ist, dass dieses Abkommen auch im Kontext der Migrationsproblematik verhandelt wurde. Es wurde letztlich massiv von den Europäern unterstützt. Natürlich nicht offiziell, aber hinter verschlossenen Türen.

Wie viele potenzielle Migranten gibt es in Ägypten?

Verglichen mit den irregulären Migranten, die über Libyen und auch über Spanien nach Europa kommen, ist die Zahl, die von Ägypten ausgehend nach Europa kam, sehr gering. Aber es gab dennoch eine Steigerung. Es gab auch diese sehr aggressive Rhetorik der Sisi-Administration gegenüber Entscheidungsträgern in Europa. Es wurde permanent darauf hingewiesen, wie viele irreguläre Migranten und potenzielle irreguläre Migranten das Land beherbergt . Hier wurde immer die Zahl von fünf Millionen Migranten genannt, die in Ägypten leben würden. Das hat massiven Druck erzeugt. Und es hat dafür gesorgt, dass es sehr viel Verunsicherung in Europa gab, weil man Angst hatte, dass hier eine neue Flüchtlingsroute entstehen könnte.

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Was erwartet sich Ägypten dafür, dass es die Seegrenzen geschlossen hält?

Ägypten hat sehr aufmerksam das EU-Türkei-Abkommen beobachtet. Rund sechs Milliarden Euro fließen an die Türkei, damit diese Flüchtlinge zurücknimmt und somit verhindert, dass weitere Flüchtlinge nach Europa kommen. Diese Summen hat auch Ägypten vor Augen, denn: Spitzenpolitiker in Europa wiesen immer wieder darauf hin, dass wir auch mit Ägypten einen vergleichbaren Deal bräuchten. Aus verhandlungsstrategischer Sicht ist das sehr unglücklich. Es war in Europa sicherlich in erster Linie eine Botschaft an die eigene Bevölkerung: „Wir kümmern uns und wir werden auch mit einem Land wie Ägypten fertig, indem wir hier auch ein Abkommen schließen.“ Aber letztendlich hat es dazu geführt, dass in Ägypten Erwartungen geweckt wurden. Die ägyptische Seite denkt, dass man in diesem Kontext sehr viel Geld von Europa bekommen kann.

Im vergangenen Jahr kam kein einziges Flüchtlingsboot aus Ägypten in Europa an. Wie schafft es Ägypten, seine Grenzen dicht zu halten?

Ägypten ist ein Überwachungsstaat. Es ist ein sehr bevölkerungsreiches Land, und es hat einen riesigen Sicherheitsapparat und Inlandsgeheimdienst. Aber auch Militär und Militärgeheimdienst sorgen dafür, dass die Grenzregionen abgesichert sind. Dadurch hat man einen Hebel. Man kann die Sicherheit laxer handhaben und dadurch irregulären Migranten ermöglichen, auf Boote zu steigen und von Ägypten abzulegen. Man kann dies aber auch komplett unterbinden, indem man die Küstenregion absichert und zum anderen verhindert, dass Leute überhaupt Boote bekommen.

Außerdem gibt es Strafen. Ägypten hat mittlerweile in einer Gesetzesänderung festgelegt, dass Menschenschmuggel illegal ist. Die Ägypter sagen, sie würden nur Menschenschmuggler bestrafen und eben nicht Menschen, die verzweifelt versuchen das Land zu verlassen. Ganz richtig ist das nicht, denn der illegale Grenzübertritt ist immer noch eine Straftat. Wenn jemand illegal nach Ägypten einreist und festgenommen wird, reicht das als Grund, diese Person erstmal ins Gefängnis zu bringen. Was genau in den Gefängnissen passiert, können wir nur vermuten, weil die ägyptische Seite keine internationalen Beobachter zulässt. Aber wir hören, dass hier Migranten tatsächlich schutzlos der Staatswillkür und Staatsgewalt ausgesetzt sind.

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Im Gespräch soll derzeit sein, dass die ägyptische Küstenwache auch in libyschen Gewässern Flüchtlingsboote abfangen könnte. Sogenannte „Anlandeplattformen“ lehnte Ägypten zuvor ab.  

Grundsätzlich ist man gegen Lager. Innenpolitisch wäre es sicher schwierig zu verkaufen, dass es solche Flüchtlingscamps gäbe. Das würden viele Ägypter nicht gutheißen. Dieses kategorische „Nein“ der Ägypter, solche Camps zu bauen, ist für mich ein Zeichen, dass wenn es gar keine anderen Möglichkeiten mehr gibt, um externe Gelder zu generieren, Ägypten auch hierüber verhandeln könnte. Es wäre auch gut vorstellbar, dass die ägyptische Küstenwache weiter westlich patrouilliert und Ägypten sich dafür bezahlen lässt. Ich weiß aber nicht, ob das schon passiert oder passieren wird. Aber es wäre plausibel, wenn Ägypten dafür Geld bekommt.

2016 wurde der italienischen Doktorand Giulio Regeni in Kairo – mutmaßlich von ägyptischen Beamten – entführt. Einige Tage später wurde seine Leiche mit Spuren schwerster Folter gefunden. Es folgte eine diplomatische Krise mit Italien. Setzte Ägypten hier auch auf das Druckmittel Flüchtlinge?  

Der Tod von Regeni war ein Schock für die Europäer, insbesondere für die Italiener. Es gab zuvor keinen vergleichbaren Fall, in dem ein Europäer tatsächlich auf diese Weise in Ägypten zu Tode gekommen war. Es war durchaus bekannt, dass solche Verbrechen in Ägypten passieren und dass sie von Staatssicherheitskräften durchgeführt werden, aber eben nur an Ägyptern. Ich würde aber sagen, dass die Irritation nicht besonders nachhaltig war. Es gab Proteste von Italien. Es gab den Appell an die ägyptische Seite, den Mord aufzuklären. Es hat allerdings keine bleibenden Störungen in die Beziehung zwischen Europa und Ägypten gebracht. Aber es war eine der wenigen Situationen, in denen Ägypten öffentlich die Migrationskarte spielte. Italien hatte nämlich gesagt, dass es aufgrund dieses Vorfalls bestimmte Rüstungsgüter nicht mehr exportieren würde. Die ägyptische Seite wies in der Folge darauf hin, dass man das Migrationsabkommen mit Italien infrage stellen würde, sollte sich Italien nicht kooperativ verhalten. Zuvor war so etwas nur hinter verschlossenen Türen geschehen.

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Wirtschaftliche Probleme, hohe Jugendarbeitslosigkeit und Geburtenraten – wie sieht Europa die Entwicklung Ägyptens?

Diese Probleme schüren die Hauptangst der Europäer. Ägypten wird 2020 wahrscheinlich über 100 Millionen Einwohner haben. Tatsächlich sind die Zahlen der Migranten, die Ägypten als Transitland sehen und jetzt in Ägypten festsitzen, nicht sonderlich hoch. Das sind ein paar Hunderttausend. Aber es gibt ein extremes Migrationspotenzial, weil es diesem Land wirtschaftlich nicht gut geht. Gerade junge Ägypter sehen keine Beschäftigungsmöglichkeiten für sich. Es herrscht eine große Perspektivlosigkeit. All das macht Ägypten potenziell zu einem Pulverfass. Die Frage ist, wie man mit diesem Land umgehen muss, um zu verhindern, dass Ägypten in Zukunft massiv zum Ausgangsland von Migration wird. Momentan ist es ja primär ein Transitland. Die Strategie der Europäer ist erstmal kurzfristig darauf ausgerichtet, dass Ägypten die Seegrenze geschlossen hält. Langfristig gesehen ist das sehr problematisch, weil die Entwicklungsstrategie der Sisi-Administration nicht dazu führen wird, dass es dem Land perspektivisch besser geht. Ich sehe keinen wirtschaftlichen Aufschwung, der der gesamten Bevölkerung zugute kommt. Deswegen muss Europa sich überlegen, ob dieses kurzfristige Ziel der Grenzschließung und der damit verbundenen Unterstützung der Sisi-Administration im europäischen Interesse ist, oder ob man nicht deutlich kritischer mit Ägypten umgehen muss, damit die Politik in Ägypten sich mehr auf eine langfristige Stabilisierung des Landes ausrichtet. 

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