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Migration nach Europa: Wird Ägypten vom Helfer zum Problem?
25. Februar 2019 Grenzschutz Lesezeit 6 min
Beim Gipfel in Sharm El-Sheikh sprachen EU und die Arabische Liga vor allem über Migration und Ägyptens Rolle als Puffer, für die der Westen Geld und Waffen verspricht. Allerdings könnte das 100-Millionen-Einwohner-Land am Nil selbst bald zum Problem für Europa werden.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Grenzschutz und ist Teil 2 einer 4-teiligen Recherche.
Bild: Addendum

Ägypten hat sich im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 – ähnlich wie die Türkei – als strategischer Partner zur Eindämmung von Massenmigration nach Europa positioniert. Dabei wurden von der Regierung in Kairo auch Zahlen ins Spiel gebracht, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten – mutmaßlich, um den eigenen Preis zu erhöhen. Davon abgesehen stellt sich die Frage, wie das Land mit dem hohen Bevölkerungswachstum umgehen wird. Seit dem Arabischen Frühling 2011 ist das politische System zunehmend autoritär geworden. Die Menschenrechtslage ist insbesondere für Flüchtlinge und Migranten verheerend. Ist das 100-Millionen-Einwohner-Land ein Pulverfass?

Falsche Zahlen

Für Flüchtlinge und Migranten aus dem Mittleren Osten und Afrika ist Ägypten ein bedeutendes Transitland auf dem Weg nach Europa. Seit der Flüchtlingskrise 2015 ist die Zahl der Flüchtlinge stark gestiegen. Wie stark, ist allerdings unklar. Laut UNHCR gab es Anfang 2013 nur 18.245 syrische Flüchtlinge im Land, das ägyptische Außenministerium sprach allerdings von etwa 250.000 bis 300.000. Im September 2015 verlautbarte Präsident Abdel Fatah El-Sisi sogar, dass sich eine halbe Million Syrer im Land befände. Die Gesamtzahl aller Flüchtlinge und Migranten in Ägypten lag ihm zufolge bei insgesamt fünf Millionen. Gleichzeitig machte die ägyptische Regierung den europäisch-türkischen Flüchtlingsdeal für die stark gestiegenen Flüchtlingszahlen verantwortlich. Der Verdacht liegt nahe, dass Sisi einen gewinnbringenden Deal schließen will. Die Zahlen, die Ägypten offiziell verlautbart hat, dürften jedenfalls nicht stimmen. Laut UNHCR waren Mitte 2016 rund 114.000 Syrer und insgesamt 193.400 Flüchtlinge und Asylwerber im Land, keine fünf Millionen. Bis Ende 2018 stieg die Zahl der Syrer auf 132.871, insgesamt sollen es 193.400 Flüchtlinge und Asylwerber gewesen sein.

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Woher kommen die ägyptischen Zahlen?

Die Behauptungen Sisis sind allerdings keine simple Erfindung, sondern ein (wohl bewusstes) Zahlenspiel. Ägyptens Präsident hat nämlich nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Migranten in seine Zahl hineingerechnet. In letztere Kategorie fällt insbesondere die sudanesische Minderheit im Land. Die Schätzungen über deren Größe reichen von drei bis fünf Millionen. Oft leben sie bereits seit mehreren Generationen im Land: Lange galt für Sudanesen ein rechtlicher Sonderstatus. Viele von ihnen sind auch geblieben, nachdem dieser aufgekündigt wurde. Jetzt werden sie von Sisi gewissermaßen als Pokerchips eingesetzt, um höhere Zahlungen von ausländischen Partnern wie der EU zu rechtfertigen.

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Flüchtlinge auf einem Pritschenwagen, Kairo 2018

Hohes Bevölkerungswachstum

Daneben stellt sich die Frage nach der Zukunft Ägyptens. Immerhin ist es mit rund 97 Millionen Einwohnern das mir Abstand bevölkerungsreichste arabische Land. Seit 2000 ist die Zahl derer, die das Land verlassen haben, von 173.000 auf 478.000 gestiegen. In Relation zur Gesamtbevölkerung ist der Wert mit 0,5 Prozent allerdings nach wie vor gering (zum Vergleich: In Libyen sind es 12,4 Prozent, in Syrien 5,5 Prozent, in Afghanistan wiederum nur 0,4 Prozent). Die meisten bleiben außerdem innerhalb der Region, die primären Zielländer ägyptischer Migranten sind Saudi-Arabien, Libyen und Kuwait.

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen wird Ägypten von 2017 bis 2050 das weltweit zehntgrößte Bevölkerungswachstum verbuchen. Bis 2030 soll die ägyptische Bevölkerung auf knapp 120 Millionen Menschen anwachsen, 2100 wird sie knapp unter der 200-Millionen-Grenze liegen.

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Fraglich bleibt, ob die ägyptische Wirtschaft mit einem derartigen Wachstum Schritt halten kann. Im November 2016 musste das Land einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds aufnehmen. Die danach eingeleiteten Reformen dürften gefruchtet haben, Ägypten wird nach Auslaufen des Programms keine zusätzlichen Kredite brauchen. Die dahinter liegenden Probleme bleiben aber: Der Industriesektor ist schwach, das Land ist nicht nur auf Rohstoffe, sondern auch auf verarbeitete Produkte aus dem Ausland angewiesen. Die wichtigsten Geldquellen sind der Tourismussektor und Überweisungen von Auslands-Ägyptern. 2016 (neuere Zahlen gibt es derzeit nicht) hat kein anderes Land im Mittleren Osten und Nordafrika mehr Auslandsüberweisungen bekommen. Nur zur Einordnung: Diese übersteigen die Gebühreneinnahmen aus dem Betrieb des für die Weltwirtschaft unverzichtbaren Suezkanals inzwischen um um das Dreifache.

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Das sind nicht die einzigen Gründe, wieso es künftig zu verstärkter Emigration aus Ägypten kommen könnte. Vielen jungen Menschen fehlt die Perspektive, ein entscheidender Push-Faktor. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt schon jetzt bei rund 34 Prozent. Junge Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen, sind wiederum oft von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen: So haben 43 Prozent der jungen Arbeitskräfte (15- bis 24-Jährige) keinen festen Arbeitsvertrag.

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Verheerende Menschenrechtslage

Eine Diktatur

Bevölkerungswachstum, viele (vor allem junge) Menschen ohne Arbeit oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen: Das birgt die Gefahr von Unruhen. Wird es irgendwann einen zweiten „Arabischen Frühling“ geben?

Das gegenwärtige politische System scheint jedenfalls wenig geeignet, um auf die Bedürfnisse der Menschen zu reagieren. Zwar gab es 2012 nach dem Sturz von Hosni Mubarak die ersten freien Präsidentschaftswahlen in der Geschichte Ägyptens. Allerdings ging der Kandidat der Muslimbrüder Mohammed Mursi als Sieger aus der Wahl hervor. Den Muslimbrüdern wird nachgesagt, Demokratie auf Wahlen zu reduzieren und diese als bloßes Mittel zur Machtergreifung zu verstehen. Andere demokratische Wesensmerkmale wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit kümmern sie daher wenig.

Das Militär war dementsprechend beunruhigt. Nachdem Mursi damit begann, seine Kompetenzen zu erweitern und die Verfassung zu ändern, folgte ein blutiger Putsch, der Sisi an die Macht brachte. Das Raaba-Massaker sechs Wochen später, bei dem 800 Mursi-Sympathisanten getötet wurden, markierte das endgültige Ende des Arabischen Frühlings. Heute ist das Land weiter von Demokratie entfernt als noch unter Mubarak.

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735.255 Euro

Wert österreichischer Waffenlieferungen nach Ägypten von 2004 bis 2017

Waffenlieferungen

Das hält das Ausland allerdings nicht davon ab, weiter Waffen zu liefern. Ägypten gilt schließlich als stabilisierender Faktor in der Region. Neben den USA – dem mit Abstand größten Waffenexporteur – ist Ägypten auch für österreichische Hersteller ein Absatzmarkt, insbesondere für Handfeuerwaffen und Munition, geworden. Wie die Unruhen 2011 gezeigt haben, scheut das Militär im Falle eines Falles allerdings nicht davor zurück, diese Waffen auch gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen.

Die Menschenrechtssituation in Ägypten hat auch verheerende Auswirkungen auf Flüchtlinge. Erst im Jänner 2019 hat der UN-Flüchtlingskommissar mehr Geld für Ägypten gefordert. Syrische Flüchtlinge sind schon seit geraumer Zeit Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt, das Militär tut wenig zu ihrem Schutz. Im vergangenen Jahr berichtete die israelische Haaretz sogar von illegalem Organhandel, der vor allem die im Land befindlichen Syrer betreffen soll.

Quo vadis, Ägypten?

Die Ruhe in Ägypten ist fragil. Hohes Bevölkerungswachstum, eine marode Wirtschaft und die fatale Menschenrechtssituation machen das Land zum Pulverfass. Hinzu kommt das reformstarre politische System. Gut möglich, dass Ägypten früher oder später selbst zu einem Abwanderungsland wird. Vor allem die junge Generation könnte bald vermehrt geneigt sein, sich nach Europa zu begeben. Dennoch soll das Land – auch aus Mangel an Alternativen – als europäischer Partner bei Migration aus dem arabischen Raum und afrikanischen Ländern aufgebaut werden. Die EU muss sich die Frage gefallen lassen, mit wem sie da zusammenarbeitet. 

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