Der Konzentrationslagerkomplex im oberösterreichischen Gusen wurde von den Nationalsozialisten als „Nebenlager“ des KZ Mauthausen geführt, und auch in der österreichischen Erinnerungskultur spielt Gusen seit Jahrzehnten im Vergleich mit Mauthausen eine Nebenrolle. Zwar gibt es in dem Ort eine Gedenkstätte, die wird aber der tatsächlichen historischen Bedeutung Gusens nicht annähernd gerecht. Im aktuellen Regierungsprogramm der türkis-grünen Regierung findet sich deshalb der Plan , einen Gutteil der von der Republik nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungsmacht privatisierten Gründe, auf denen das KZ stand, zu erwerben. Auch die polnische Regierung macht Druck in Richtung einer ausgebauten Gedenkstätte und hat ebenfalls Interesse am Erwerb der Grundstücke angemeldet: Unter den Opfern des von den Nationalsozialisten in Gusen verwirklichten Konzeptes „Vernichtung durch Arbeit“ waren mindestens 13.000 Polen .
Was die Situation in Gusen so komplex und wohl auch die anstehenden Verhandlungen über die Grundstückskäufe so heikel macht, ist die Tatsache, dass es einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil gibt. Über der Erde stehen Wohnhäuser und Gewerbebetriebe dort, wo einst das KZ stand, unter der Erde befand sich das von Häftlingen in Zwangsarbeit geschaffene Stollensystem „Bergkristall“ , in dem während der letzten Kriegsmonate Messerschmitt-Düsenflugzeuge gefertigt wurden. Zuletzt sorgten 2019 angeblich auf amerikanischen Geheimdienstunterlagen beruhende Meldungen für Aufsehen, dass das unterirdische Stollensystem sehr viel größer als bisher bekannt gewesen sei – und dass noch tausende Häftlinge unter der Erde von Gusen begraben sein könnten. Ob dem tatsächlich so war, soll durch eine internationale Kommission geklärt werden, der österreichische Historiker Stefan Karner sprach bereits davon, dass die Geschichte des KZ Gusen „neu geschrieben werden“ müsse.
Die 3D-Animation des KZ Gusen rekonstruiert das Lager basierend auf historischen Bildern und Luftaufnahmen zum Zeitpunkt der Befreiung im Mai 1945.
Animation: Teodoru Badiu | Addendum
David Freudenthaler und Michael Mayrhofer, zwei junge Addendum-Journalisten, die beide aus der Gegend stammen, haben monatelang recherchiert, um jene Frage zu beantworten, die mindestens so interessant erscheint wie die ungeklärten Teile der Geschichte Gusens während der letzten Kriegstage: wie es dazu kommen konnte, dass an einem der zentralen Orte des nationalsozialistischen Grauens – insgesamt waren dort mehr Menschen inhaftiert und es gab auch mehr Todesopfer als in Mauthausen – das Leben weiterging, als ob nichts gewesen wäre. So wie unmittelbar nach dem Krieg die russischen Besatzer die Überreste der Anlagen der Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH (DEST) wirtschaftlich nutzten, taten das nach dem Abzug der Besatzer lokale Unternehmen.
Im Zuge ihrer Recherchen haben Freudenthaler und Mayrhofer mit Zeitzeugen, Historikern, Lokalpolitikern und Menschen, die heute auf dem ehemaligen KZ-Areal leben gesprochen, um sich ein umfassendes Bild der Geschichte des KZ Gusen während des NS-Regimes und vor allem in der Nachkriegszeit zu verschaffen. Sie haben sich an Orte begeben, an denen lange niemand gewesen ist und mit Menschen gesprochen, die lange niemandem etwas erzählt haben. Sie haben die Geschichte des fast vergessenen Schweizer Rotkreuz-Delegierten Louis Häfliger nachgezeichnet, der bei der Befreiung von Mauthausen und Gusen keine unwesentliche Rolle spielte, und sie haben im Gespräch mit dem Bürgermeister von St. Georgen an der Gusen eine wahrhaft kuriose Geschichte erfahren, die noch nie erzählt wurde: dass nämlich nicht nur die Republik Österreich und der polnische Staat Interesse an Gusen hatten, sondern auch ein großer US-amerikanischer Investor. Er wollte im unterirdischen Stollensystem eine Art KZ-Disneyland errichten.
Das Ergebnis der Addendum-Recherchen zu Gusen umfasst fünf Podcast-Folgen und eine Reihe von Texten, die einerseits der Recherche-Dokumentation und andererseits der Darstellung von Aspekten und Details der Recherchen dienen, die nicht in die Podcast-Produktion eingeflossen sind. Es ist vermutlich nicht vermessen zu behaupten, dass es sich hier um die umfassendste, facettenreichste und lebendigste Darstellung der Nachkriegsgeschichte des Konzentrationslagers Gusen handelt, die derzeit verfügbar ist
Aber hören und lesen Sie selbst.
Update 11. Mai 2020
Die Machbarkeitsstudie , die dem Innenministerium seit Dezember 2018 vorliegt und von Addendum am 4. Mai veröffentlicht wurde, löste bei den Betroffenen große Aufregung aus. Weder dem Bürgermeister von Langenstein noch den aktuellen Eigentümern der Gründe, die die Republik erwerben will, war die die Studie bis dahin zugänglich gemacht worden.
Nach der Veröffentlichung der Studie ging dann alles sehr schnell: Wenige Tage später, am 8. Mai, verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP): „Der Ankauf der noch vorhandenen Teile des Außenlagers Gusen ist gerade heuer, 75 Jahre nach der Befreiung, ein wichtiger Schritt, um unserer historischen Verantwortung auch konkrete Taten folgen zu lassen.“
Man wolle mit dem Schritt ein würdiges Gedenken an die Opfer sicherstellen, hieß es seitens der Bundesregierung. Bei der Realisierung des Projekts sei „auf ortsübliche, angemessene Liegenschaftspreise zu achten“, betonte das Innenministerium. Wann mit einem Abschluss zu rechnen sei, hänge vom Fortschritt der Verhandlungen ab und könne daher noch nicht abgeschätzt werden.