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Herdenschutz: Eine Frage der Solidarität
13. November 2018 Impfen Lesezeit 6 min
Das Risiko, sich durch Nichtimpfen mit einer Infektionskrankheit anzustecken, ist eine individuelle Entscheidung, argumentieren viele. Ganz so ist es aber nicht.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Impfen und ist Teil 2 einer 8-teiligen Recherche.

Die Masern sind schuld, dass er in diesem Zustand war, dass wir ihn so früh verloren haben, dass wir jetzt keine gesunden, zwanzigjährigen Sohn haben. Und diese Maserninfektion wäre durch eine Impfung verhinderbar.“ Heute kann Oxana Giesbrecht ihren Sohn Micha nur noch auf dem Friedhof besuchen.

„Micha war knapp sechs Monate alt. Wir waren zu einer Routineuntersuchung beim Kinderarzt. Zwei Wochen später bekam er Fieber, und wir waren dann beim Kinderarzt, weil er wirklich sehr stark Fieber hatte und ein Ausschlag am Rumpf sichtbar wurde. Wir sind zum Kinderarzt, und er war sehr erschrocken und sagte ,Oh mein Gott, Micha hat Masern‘.“

Mit sechs Jahren fing Micha an sich zu verändern, er verlor seine Feinmotorik, verlernte das Sprachen, wurde schwerstbehindert.

„Freuen Sie sich an jedem Tag, denn er wird bald sterben“

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„Freuen Sie sich an jedem Tag, den Sie haben, denn er wird bald sterben. Es gibt keine Therapie dagegen“, sagten die Ärzte seiner Mutter. Micha zeigte Symptome von SSPE, einer Folgeerkrankung der Masern. Im Jahr 2013 verstarb Micha mit 14 Jahren.

Micha wurde im Alter von sechs Monaten infiziert – eine Impfung ist erst ab neun Monaten möglich. Micha wäre also darauf angewiesen gewesen, nicht mit dem Virus in Kontakt zu kommen, also darauf, dass seine Mitmenschen keine Viren weitertragen. Dieser sogenannte Herdenschutz ist gegeben, wenn der Großteil der Bevölkerung immunisiert, also geimpft ist. Der erforderliche Prozentsatz ist je nach Krankheit unterschiedlich, bei Masern sind es 95 Prozent.

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Subakute sklerosierende Panenzephalitis, eine entzündliche Erkrankung des Gehirns

Der Herdenschutz vor Masern ist weltweit in nur 50 Ländern gegeben, 18 davon in Europa.

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Die letzte Masernwelle

Die Masernwelle Mitte 2017 bis 2018 wurde zu einer europaweiten Epidemie mit insgesamt rund 13.600 Infektionen und 38 Infektionstoten. In Österreich schlug der jüngste Anstieg der Infektionszahlen laut Ministerium 2017 mit insgesamt 95 Infektionen zu Buche, Anfang 2018 bis Ende September waren es 72 Fälle.

Am schlimmsten traf es die rumänische Bevölkerung mit rund vier Fällen pro 10.000 Einwohnern (von 38 europaweiten Todesfällen entfielen zudem 24 auf Rumänien, 2017 waren 75 Prozent der rumänischen Bevölkerung geimpft), gefolgt von der Ukraine, mit 1,06 und Serbien mit 1,02 Fällen pro 10.000 Einwohnern.

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Individuelle Entscheidung und Datenschutz

Auf Herdenimmunität wäre auch der 15-jährige Anton G. angewiesen, der wegen Knochenmarksversagen eine Chemotherapie und danach eine Stammzellentransplantation erhalten hat. Bei der Behandlung wurde sein Immunsystem zerstört und danach neu aufgebaut. Eine Masernimpfung ist frühestens zwei Jahre nach der Transplantation möglich. Ein Kontakt mit dem Virus wäre für Antons geschwächtes Immunsystem fatal.

Im Zuge der letzten Masernwelle wollten Antons Eltern wissen, wie es mit dem Herdenschutz in der Schule aussah, um das Risiko für ihren Sohn einschätzen zu können. Und stießen auf Unverständnis:

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„Die Antwort des Direktors war kurz und bündig, dass er eben keine rechtliche Handhabe hat und dass er niemandem Impfungen vorschreiben kann und darf, und Eltern, die ihre Kinder eben nicht impfen lassen, haben ihre Gründe dafür. Sie hat uns erzählt, oder geschrieben, dass bei Schuleinschreibung der Impfpass der Schüler kontrolliert wird und wenn Impfungen, die vom österreichischen Impfplan vorgeschlagen werden, eben nicht wahrgenommen worden sind, weist man die Eltern der Kinder darauf hin, aber ob sie dann impfen oder nicht, bleibt natürlich den Eltern überlassen, es gibt ja keine Impfpflicht in Österreich und somit kann er nichts weiter machen.“

Nutzen versus Risiko

Zu 97 Prozent schützt Impfen vor einer Infektion; rund drei Prozent sind Impfversager, die trotz Impfung eine Infektion bekommen können.

Bei 20 Prozent der Masern-Infektionsfälle kommt es zu Komplikationen wie Bronchitis, Lungenentzündung oder einer Entzündung des Gehirns, die bleibende Schäden verursachen kann und lebensbedrohlich ist. Das Enzephalitis-Risiko (Gehirnhautentzündung) liegt bei 1–2 zu 1.000 Fällen – nach Impfung verringert sich dieses Risiko auf 1:1.000.000.

Ein Viertel dieser Fälle verläuft tödlich, ein Drittel hat bleibende Folgeschäden. Bei einem von 600 Kindern bis ein Jahr und einem von 1.700–3.300 Kindern bis fünf Jahre führt sie durch SSPE zum Tod.

Einer bis zehn von 10.000 Infizierten stirbt an einer Maserninfektion. Sich gegen Masern impfen zu lassen, ist derzeit der einzige Schutz vor einer Ansteckung und ihren Folgen, sind sich medizinische Experten einig.

Die Impfschäden, die den Impfungen bei den Masern gegenüberstehen, werden zwischen 2007 und 2016 mit 1:1.000.000 beziffert. Insgesamt kommen in dieser Zeitspanne auf 32 Millionen Impfungen 19 anerkannte Impfschäden.

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Wie Masern zurückgedrängt wurden

Auch der Blick in die Vergangenheit gibt der Impfung recht: Bis ein Impfstoff gegen Masern lizenziert wurde, traf alle zwei bis drei Jahre eine Masernwelle von 30 Millionen Infizierten die Weltbevölkerung mit rund 2,6 Millionen Todesfällen als Folge, so die WHO. Bis 2016 hatte sich die Zahl der Todesfälle auf rund 90.000 reduziert. Nach wie vor setzt sich die WHO für die Masernausrottung bis 2020 ein und hat beispielsweise dokumentiert, dass die Impfung zwischen 2000 und 2016 rund 20 Millionen Todesfälle verhindert hat.

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Ausrottung

Von Ausrottung einer Krankheit spricht man, wenn es in einem Zeitraum von zwölf Monaten keine Übertragung des Erregers gab und dass dieser Zustand für 36 Monate aufrechterhalten bleibt. Um das zu erreichen, müssen 95 Prozent der Weltbevölkerung geimpft sein. Gelungen ist das bei den Pocken  und beinahe bei Polio , wobei Impfgegner in gewissen Ländern diesen Erfolg gefährden .

Die WHO hatte sich zum Ziel gesetzt, die Masern bis zum Jahr 2010 auszurotten. Dieser Termin musste mehrmals verschoben werden, die aktuelle Zielvorgabe ist 2020.

In Österreich versucht der Staat, Anreize zu setzen , um eine möglichst hohe Durchimpfungsrate zu erreichen, etwa mit Gratisimpfstoffen, Schulimpfungen und Impfempfehlungen. Effizienter könnte das System durch einen digitalen Impfpass werden .

Bis jetzt wurde mit diesen Maßnahmen in Österreich eine Masern-Durchimpfungsrate von 84 Prozent erreicht. In Ländern mit einer Impfpflicht liegt sie um die 95 Prozent.

Anton G.s Eltern hoffen auf Eigenverantwortung und Solidarität ihrer Mitmenschen. „Also, ich persönlich würde mich gar nicht trauen, meine Kinder nicht impfen zu lassen. Aber das ist meine persönliche Einstellung, das muss jeder für sich entscheiden“, sagt Frau G. und appelliert an die Vernunft ihrer Mitmenschen.

„Wenn das Resultat von menschlicher Vernunft Epidemien sind, dann muss man eine Pflicht einführen“, meint hingegen Oxana Giesbrecht. 

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