Zwei Wochen lang war Ghulam Dastagir Nazary nicht erreichbar. Er machte sich in den Süden von Afghanistan auf, um Kinder gegen Poliomyelitis zu impfen. Sein Mobiltelefon durfte er nicht mitnehmen; oder sollte er nicht, denn die Anti-Regierungs-Gruppen dort gehören zu den härtesten Impfgegnern. Könnten sie ihn über ein elektronisches Gerät orten, würde das in der Provinz Helmand seinen sicheren Tod bedeuten. Immer wieder werden Menschen bei Impfkampagnen getötet, sagt er. Dann ist es still.
Nazary muss trotzdem in diese Provinz. 500.000 Menschen, die gegen Polio geimpft werden sollen, leben dort. Seit 2015 ist Nazary Direktor des nationalen Immunisierungsprogramms des afghanischen Gesundheitsministeriums, dessen Polio-Kampagnen von der weltweiten Initiative zur Ausrottung von Poliomyelitis unterstützt werden; vorwiegend finanziert durch die Bill & Melinda Gates Foundation.
Unter den Spendern sind auch der Rotary Club, die Regierungen Kanadas und Japans, das Center for Desease Control Atlanta und USAID (US-amerikanische Behörde für Entwicklungszusammenarbeit). 140 Millionen US-Dollar jährlich investieren sie – die Gates-Stiftung den Löwenanteil – in die Ausrottung von Polio in Afghanistan. Seit zwanzig Jahren gibt es diese Kampagnen jährlich. Trotzdem konnte die Krankheit noch nicht ausgerottet werden.
Durch einen Fall, der 2017 von Pakistan hereinkam, begann sich die Krankheit von den südlichen Provinzen Kandahar, Helmand und Urusgan ausgehend wieder auszubreiten. 2016 hatten wir 13 Fälle, aber die Verbreitung gestoppt. Über Pakistan und die südlichen Provinzen kam ein neues Virus herein. 2017 waren es 14 Fälle. 2018 registrierten wir bis jetzt 19 Infektionen. Wir können Polio nur besiegen, indem wir mit Impfteams im ganzen Land von Tür zu Tür gehen und eine hundertprozentige Durchimpfungsgrate erzielen. 1,3 Millionen Kinder haben wir mit unserer Kampagne nicht erreicht – nur 40.000 wegen echter Impfskepsis, der Großteil war aufgrund politischer Unsicherheiten nicht zugänglich.
Polio ist laut World Health Organisation bis auf Nigeria, Afghanistan und Pakistan ausgerottet.
Die Stiftung arbeitet mit dem Gesundheitsministerium zusammen. Wir machen Vorschläge, wann genau wir in welchen Teilen des Landes eine Impfkampagne machen und wie viele Kinder wir wo impfen. Wir reporten die Eckdaten der Kampagne genau – einfach so geben sie uns ihr Geld natürlich nicht.
Wir machen Impftouren, bei denen wir die Türen der Häuser markieren: Wie viele Kinder in dem Haushalt leben und wie viele davon wir impfen konnten. Die, die wir nicht erwischt haben, werden in einer nächsten Runde nachgeimpft. In den Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert sind, das sind nach offiziellen Angaben des Finanzministeriums rund 30 Prozent des Landes, sind manche Bewohner skeptisch. Sie glauben, die Impftrupps sind Regierungsmitarbeiter.
Die Menschen sagen auch, dass Osama bin Laden damals von einem Impfteam identifiziert wurde, das diese Information an die USA weitergegeben hat. Deshalb wollen sie Impftrupps nicht in ihr Haus lassen – vor allem dann, wenn ein Anführer dort wohnt. Zwar arbeiten verschiedene Gruppen in unserem Land, aber alle sind gegen unser Programm. Zusätzlich zwingen uns Attacken immer wieder, unsere Kampagne zu unterbrechen. Das alles macht es sehr schwer, ja nahezu unmöglich, alle Menschen zu erreichen.
Bezüglich der Skepsis treffen wir uns mit Dorfältesten, um ihnen unser nationales Impfprogramm zu erklären und klarzumachen, dass wir nicht für die Regierung arbeiten oder von ihr finanziert werden, sondern von der globalen Gemeinschaft zur Ausrottung von Polio. Auch die Medien kommunizieren das. Und wir machen ihnen klar, dass wir auch mit militärischen Attacken nichts zu tun haben. Es gibt sehr viel Skepsis.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Menschen Polio weniger dramatisch wahrnehmen als Masern. Ob ein paar Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, ist den Menschen eher egal, als zu sehen, wie viele Kinder unter den Masern leiden. All das sind Gründe, warum wir keinen verbindlichen Zeitpunkt zusichern können, zu dem wir Polio ausgerottet haben werden.
Nach Altersgruppen lag die Durchimpfungsrate in Afghanistan bei Masern nach einer Umfrage 2015 bei Kindern bei 51 Prozent. Unsere Impfdaten für 2017 wiesen eine Durchimpfungsrate von 80 Prozent auf; diese Daten erhalten wir von allen Impfstellen des Landes, die auf regionaler Ebene operieren und dokumentieren. Auf zentraler Ebene werden sie gesammelt und publiziert.
Das Plus von 30 Prozent ist zum einen der Differenz zwischen Umfrage und Dokumentation geschuldet, die bei rund zehn bis 15 Prozent liegt; effektiv konnten wir die Rate mit einer Impfkampagne in 17 Provinzen steigern. In den nächsten 17 Provinzen impfen wir Anfang November. Die letzte Kampagne lief gut. Sie zielte auf Kinder bis zehn Jahre ab, die eine Grundimmunisierung und Auffrischungen bekommen. Es gab wenig Verweigerer, und wir erreichten eine Deckung von 98 Prozent in der Zielgruppe.
Diese Kampagnen machen wir alle drei Jahre, zuletzt 2015. Zwischen 2015 und 2016 hatten wir auch kaum Ausbrüche. Bis zum ersten Halbjahr war die Lage unter Kontrolle. Im ersten Halbjahr 2017 verzeichneten wir leider wieder Ausbrüche und landeten bis Jahresende bei 153 Ausbrüchen mit über 18.000 Infektionsfällen insgesamt; ein Ausbruch bedeutet, dass Mitarbeiter in einem Spital etwa ein vermehrtes Aufkommen von Fällen registrieren.
2018 liegen wir bis jetzt bei rund 14.000 bis 15.000 Fällen, wovon 181 Kinder starben. Sie sterben, weil wir die Viruserkrankung nur sekundär, also unterstützend behandeln können. Sie schwächt zudem das Immunsystem, und die Kinder bekommen Sekundärinfektionen. Die Sterblichkeitsrate 2017 war aber vor allem wegen der Mangelernährung der Kinder so hoch.
Das hat verschiedene Gründe. Oft hängt das mit Sicherheitsproblemen bei uns im Land zusammen und damit, dass wir zu wenig Gesundheitseinrichtungen haben. Es gibt auch viel Verunsicherung bei der Bevölkerung wegen Anti-Impf-Propaganda, die zumeist religiös motiviert ist; es wird behauptet, Impfen sei nicht „halal“.
Wir machen Impfaversion vor allem auch beim höhergebildeten Anteil der Bevölkerung aus, der im städtischen Raum lebt. Die Menschen verstehen nicht, warum sie ihre Kinder impfen lassen sollen, wenn das auch allergische Reaktionen wie Fieber oder gar einen anaphylaktischen Schock herbeiführen kann – eine der Behauptungen im Zuge der Anti-Impf-Propaganda.
Und: Immer wieder gibt es große Dürren, von denen rund 400.000 Menschen betroffen sind. Sie kommen dann aus allen Teilen des Landes und werden in Camps umgesiedelt. Sie sind ein wahrer Gefahrenherd für die Übertragung von Infektionskrankheiten und waren auch mitverantwortlich für die hohe Infektionszahl 2018. Außerdem können wir in den Gebieten, die nicht unter der Kontrolle der Regierung sind, nicht uneingeschränkt impfen.