Unter dem Schlagwort „politischer Islam“ versteht man die gezielte Beeinflussung der Gesellschaft im Sinne islamischer Wertvorstellungen. Grundsätzlich bewegt man sich jedoch im verfassungskonformen Rahmen, was die Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld umso komplizierter macht. Außerdem haben Vertreter des politischen Islam einen weiten Zeithorizont: Im ersten Schritt wird im Namen des Minderheitenschutzes eine Sonderstellung für den Islam beansprucht. Langfristig soll mit dem wachsenden Bevölkerungsanteil zunehmend Einfluss auf die Gesetzeslage genommen werden.
Auch wenn der politische Islam unterschiedliche Strömungen umfasst, lassen sich einige Kernelemente feststellen:
Islamistische Gruppierungen wie die Muslimbrüder und Millî Görüş sind jedenfalls auch in Österreich aktiv.
Hinter dem Begriff „Muslimbrüder“ verbirgt sich die älteste und wohl einflussreichste globale islamistische Bewegung. Sie wurde 1928 vom Ägypter Hasan al-Bannā gegründet, der im Islam die Antwort auf den europäischen Kolonialismus und moralischen Werteverfall sah: ein allumfassendes Werte- und Gesellschaftsmodell, das sämtliche Aspekte der Lebensführung – von der individuellen über die familiäre und die gesellschaftliche Ebene bis hin zum Staat – regelt.
Inspiriert von al-Bannā gibt es heute in unzähligen Ländern unterschiedliche Ableger der Muslimbrüder. Während sie in Ägypten nach der kurzen Amtszeit des bekannten Muslimbruders Mohammed Mursi verfolgt werden, betätigen sie sich in westlichen Ländern über zivilgesellschaftliche Gruppen und religiöse Verbände. Gleichzeitig gibt es in London eine einflussreiche Dachorganisation, ihr bedeutendstes Mitglied ist der Ägypter Ibrahim Munir Mustafa. Von außen lässt sich oft nicht klar sagen, wer dazugehört (und in welchem Ausmaß). Denn die Muslimbrüder agieren informell und unterhalten grenzübergreifend enge persönliche, finanzielle und ideologisch-religiöse Verbindungen. Im September 2017 hatte die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich den dahingehenden Vorwurf des Extremismusforschers Lorenzo Vidino jedenfalls zurückgewiesen.
In Österreich entstanden die Netzwerke der Muslimbrüder in den 1960er Jahren. In dieser Zeit flohen ranghohe Mitglieder vor dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, der sie nach einem gescheiterten Attentat verfolgen ließ. Österreich soll für die Muslimbrüder aus zwei Gründen als beliebter Zufluchtsort gegolten haben: zum einen aufgrund der großzügigen Asylgewährung für politische Flüchtlinge. Zum anderen steht der Vorwurf im Raum, dass die Behörden fremde Organisationen ziemlich unbehelligt gewähren lassen, sofern sie keine direkte Sicherheitsbedrohung für Österreich darstellen.
Die ersten Schritte wurden vom ägyptischen Geschäftsmann Youssef Nada gesetzt. Er war später in einem der bedeutendsten Fälle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte involviert, nachdem er im Zuge der Anschläge von 9/11 unter Terrorismusverdacht stand. 2009 wurde er allerdings wieder von der Sanktionenliste des UNO-Sicherheitsrats gestrichen. Das Gericht bestätigte außerdem, dass Nada in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden war.
Die zweite für Österreich bedeutsame Gruppierung ist Millî Görüş. Diese Bewegung wurde in der Türkei von Necmettin Erbakan in den 1970er Jahren mit dem Ziel gegründet, das laizistische Erbe des türkischen Staatsgründers Atatürk zu überwinden und einen islamischen Staat zu gründen. Millî Görüş ist keine politische Partei, vielmehr soll die westliche Demokratie – ähnlich wie bei den Muslimbrüdern – mit demokratischen Mitteln überwunden werden. Ihr bekanntester Vertreter ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der 1998 mit dem Zitat „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“ für Aufregung sorgte.
In Deutschland wird Millî Görüş vom Verfassungsschutz beobachtet. In Österreich wurde 1987 ein eigener Millî-Görüş-Verband gegründet, die Islamische Föderation. Sie betreibt fünf Kultusgemeinden und 52 Vereine, 13 davon in Wien. Einer für den Österreichischen Integrationsfonds erstellten Studie zufolge steht diese Bewegung der Demokratie ablehnend gegenüber und vertritt ultrakonservative Werte, was sich etwa in der strikten Geschlechtertrennung zeigt. Sie wähle eine „Strategie einer stillen Unterwanderung“. Eine ihrer Moscheen wurde als besonders problematisch angesehen, da eine Ablehnung der österreichischen Mehrheitsgesellschaft ebenso festgestellt wurde wie Intoleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und Lebensweisen. Vielmehr werde die islamische Überlegenheit gepredigt, gemeinsam mit einem islamischen Anspruch auf die Weltherrschaft, „der notfalls auch gewaltsam durchgesetzt werden soll“ – deutliche Merkmale eines islamischen Fundamentalismus.