8. Juli 2016. Sommerferien. Michael Gaigg und sein Freund Tobias brechen in Innsbruck zu einer mehrtägigen Radtour auf. Es war ein lang gehegter Wunsch der beiden. Über den Inn- und den Donauradweg wollen die Schüler bis Wien fahren. „Meine Frau war von Beginn an nicht begeistert, aber Michael wollte das unbedingt machen, also haben wir es ihm erlaubt“, erzählt Gerald Gaigg, Michaels Vater.
Die erste Etappe führt bis Kufstein, via Chiemsee und Passau geht es weiter an den Pleschinger See bei Linz. Nach einer Nacht auf dem Campingplatz starten die Burschen am Morgen des 22. Juli ihre vermeintlich vorletzte Etappe, die zur letzten werden soll. Bei Weins/Hofamt Priel im Bezirk Melk, wo der Radweg die stark befahrene Bundesstraße 3 kreuzt, kommt es zur Katastrophe. Michael kollidiert mit einem Pkw. Fünf Tage später stirbt er im Spital. Die vier Auto-Insassen und Michaels Freund, der hinter ihm gefahren war, bleiben unverletzt, alle sind aber tief geschockt.
Die Polizei stellt in ihrem Bericht fest, Michael Gaigg sei „beinahe ungebremst auf die Bundesstraße 3“ gefahren. „Das Straßenverkehrszeichen ‚STOPP‘ dürfte er dabei übersehen haben.“ Die Staatsanwaltschaft schließt sich dieser Ansicht an, das Verfahren wird am 2. August 2016, also nur eineinhalb Wochen nach dem Unfall, eingestellt.
Der Vater kann diese Unfallversion nicht glauben. Sein Sohn sei ein geübter Radfahrer gewesen, er wäre nicht einfach ohne nach links und rechts zu schauen, beinahe ungebremst – wie es im Polizeibericht heißt – auf eine Kreuzung gefahren. Gerald Gaigg sieht sich die Unfallstelle an, bemerkt, dass bei starker Sonnenstrahlung schwer erkennbar ist, dass der Radweg, der zuvor rund 20 Kilometer neben der Donau entlangführt, bei Weins plötzlich endet und auf der gegenüberliegenden Straßenseite weiterläuft. Durch einige Bäume entstehe ein starker Licht-Schatten-Wechsel, wodurch das Stoppschild und das Verkehrszeichen, das auf das Ende des Radwegs hinweise, kaum erkennbar seien, erklärt der Vater.
Drei Wochen später führt ein „verkehrstechnischer Amtssachverständiger“ auf Initiative der Eltern – im Beisein von Polizei sowie Vertretern der Gemeinde und der Bezirkshauptmannschaft – an der Unfallstelle einen „Ortsaugenschein“ durch. Er bestätigt im Wesentlichen die Erkenntnisse des Vaters: „Durch die Baumgruppe“ bestehe bei hochstehender Sonne die Gefahr, „dass das Kreuzungsplateau und das Verkehrszeichen ‚Halt‘ schlecht sichtbar“ seien. „Aus verkehrstechnischer Sicht“ seien daher mehrere „Maßnahmen notwendig“: Bäume sollten entfernt, ein zusätzliches Stoppschild aufgestellt, Bodenmarkierungen und Haltelinien angebracht werden. Überdies regt der Experte an, eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Pkw zu verordnen und „den gesamten Radweg, insbesondere bei Kreuzungsbereichen, auf ähnliche Gefahrenquellen zu überprüfen und abzusichern“ (siehe Faksimile).
Tatsächlich werden daraufhin auf dem Radweg bei Weins Bodenmarkierungen angebracht, die rechtzeitig darauf hinweisen sollen, dass der Radweg endet. Ein zweites Stoppschild wird aufgestellt, und Teile der Bäume werden abgeholzt. Eine Geschwindigkeitsbeschränkung besteht allerdings bis heute nicht.
Der Vater erreicht auch, dass das Strafverfahren gegen den Pkw-Fahrer fortgesetzt und ein Sachverständiger damit beauftragt wird, den Unfallhergang neuerlich zu untersuchen. Der Gutachter spricht von einer „Kollisionsgeschwindigkeit“ (Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes) von 55 km/h. Der Vater entgegnet, der Wagen müsse mit „mindestens 120 km/h“ unterwegs gewesen sein. Das lasse sich u.a. aufgrund des Anhaltewegs und der Aussagen der Betroffenen errechnen. „Der Autofahrer hat angegeben, dass er im 5. Gang gefahren sei. Das allein deutet schon auf eine höhere Geschwindigkeit hin.“
Eine Geschwindigkeitsmessung ergab, dass auf diesem Streckenabschnitt 85 Prozent der Fahrzeuge im Schnitt mit 107 Stundenkilometern (erlaubt sind 100) unterwegs sind. Der Autolenker, ein 26-jähriger Ungar, gab in seiner Einvernahme bei der Polizei an, er sei „zwischen 80 und 90 km/h“ gefahren.
Der Sachverständige beharrt trotz der Einwände von Herrn Gaigg in einer „Gutachtensergänzung“, die die Staatsanwaltschaft einfordert, im Wesentlichen auf seinen Erkenntnissen: Der Unfall sei „ausschließlich darauf zurückzuführen, dass der Radfahrer in einem Zug in die LB3 (die Straße) einfuhr, ohne vor dem Fahrbahnrand anzuhalten“. Der Pkw-Lenker habe sich „mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h“ der Unfallstelle genähert. Er könne jedenfalls „nicht schneller als 70 km/h“ gefahren sein.
Bemerkenswert ist in dem Fall auch, dass das Unfallauto vom Gutachter nicht untersucht wurde, weil es von den Behörden nicht sichergestellt worden ist. „Der Sachverständige hat es auch nicht für notwendig gehalten, das Fahrrad zu begutachten“, berichtet der Vater und hält das auch der Staatsanwaltschaft in einem Schreiben vor. Im Gutachten steht dazu: „Hinsichtlich des Fahrrades kann nur angegeben werden, dass dieses auch nicht mehr unmittelbar zur Verfügung stand. Da allerdings die Schäden recht gut ersichtlich sind, konnte von einer Befundaufnahme am Fahrrad abgesehen werden.“ Dem Experten standen Fotos des Fahrrads zur Verfügung.
Ist nun endgültig der Akten-Deckel drauf?
Für Gerald Gaigg noch nicht. Er will nun mittels Privatgutachten eine neuerliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens erreichen. Er werde ein „unfalltechnisches Gutachten und eine verkehrstechnische Stellungnahme von einem Verkehrsplaner“ einbringen, um seine Kritik am Gerichtsgutachten fachlich zu untermauern. Das geht ins Geld. Pro Gutachten würden „zwischen 2.500 und 5.000 Euro anfallen“, sagt Gaigg. „Auf diesen Kosten bleiben wir jedenfalls sitzen – egal wie die Sache ausgeht.“
Warum tut sich der Familienvater, dessen ältere Tochter ein Dreivierteljahr vor Michaels Unfall auf einem Schutzweg niedergefahren wurde und ebenfalls fast gestorben wäre, diesen Kampf überhaupt an? „Ich möchte, dass ein Mitverschulden des Autofahrers am Unfall festgestellt wird.“ Es gehe dabei auch um die Frage, wer all die angefallenen Kosten trägt. Etwa wer den Schaden der Pkw-Besitzerin, die Beifahrerin war, begleicht. Anspruch auf Trauerschmerzensgeld gebe es auch nur, wenn grobe Fahrlässigkeit des Wegehalters bzw. des Autofahrers vorliegt, sagt der Vater. „Trauerschmerzensgeld würde uns zwar unseren Sohn nicht wiederbringen, aber damit könnten wir zumindest die Kosten für die Therapien, die meine Familie absolviert hat, abdecken.“
Gaigg will aber auch erwirken, „dass ein Tempolimit für Pkw verordnet wird und generell alle übrigen Kreuzungen entlang des Donauradwegs besser abgesichert werden“. Anrainer hätten ihm berichtet, dass es schon öfter zu brenzligen Situationen gekommen sei. Das stellt das Land Niederösterreich in einem Schreiben seiner Versicherung in Abrede. Gaigg entgegnet, dass die Unfallstelle nicht ausreichend gesichert gewesen sei, würden doch „die nachträglichen Veränderungen auf dem Radweg zeigen“.
Das für die Straße zuständige Land Niederösterreich, das den Donauradweg intensiv touristisch bewirbt, kündigte über seine Versicherung an, man werde die Radroute in Sachen Verkehrssicherheit überprüfen. Das sei aber jedenfalls „nicht als eine Art Schuldeingeständnis zu werten“. Eine „Mangelhaftigkeit des Weges als auch eine grobe Fahrlässigkeit“ seien auszuschließen. Das Ende des Radweges sei klar erkennbar gewesen. Man könne „kein wie auch immer geartetes Verschulden (…) unserer Versicherungsnehmerin erkennen“, daher sei auch jegliche Haftung auszuschließen. Auch die für die Treppelwege – wo der Radweg teilweise verläuft – verantwortliche Via Donau sieht keine Haftungsgründe.
Fortsetzung folgt vor Gericht.