Update: Am 5. Juni 2019 wurde von der Justiz entschieden, auf Basis der Anzeige kein Ermittlungsverfahren zu eröffnen. Die Staatsanwaltschaft Linz sah – ohne weitere Erhebungen durchzuführen – keinen Verdacht gegen Christian Pilnacek und die anderen Betroffenen. Der sogenannte Weisungsrat segnete diese Entscheidung ab. Dies erfolgte genau einen Tag, bevor die Causa im Eurofighter-Untersuchungsausschuss beleuchtet werden sollte.
Der österreichische Justizapparat ist nicht für offene Revolutionen bekannt. Karrierebewusste Mitarbeiter wissen nur zu gut, dass ihre Laufbahn rasch zu Ende sein kann, wenn sie an den falschen Stellen anecken. Umso beachtlicher ist, was sich seit April 2019 hinter den Kulissen zwischen Palais Trautson und Justizpalast abgespielt hat.
Die obersten Korruptionsermittler der Republik haben ihren höchsten Chef auf Beamtenebene angezeigt, den Generalsekretär im Justizministerium, Christian Pilnacek. Und mit ihm gleich noch einige weitere Vorgesetzte aus der sogenannten Weisungskette. Gemeinsame Recherchen von Addendum und der Journalredaktion von Ö1 zeigen bedenkliche Vorgänge. Vorgänge, die auch einen Hinweis darauf liefern können, warum in der Öffentlichkeit mitunter der Eindruck entsteht, dass den Beschuldigten in großen österreichischen Wirtschaftsstrafverfahren nur in Ausnahmefällen etwas passiert.
Wer in Österreich mit dem Thema Strafrecht zu tun hat, kommt an Christian Pilnacek nicht vorbei. Seit 1990 klettert der Jurist die Karriereleiter im Justizsystem unaufhaltsam nach oben. Im September 2010 wurde er zum Leiter der Strafrechtssektion ernannt. Doch damit war noch nicht die höchste Stufe erreicht. Im März 2018 machte ihn Minister Josef Moser, der damals drei Monate im Amt war, zum Generalsekretär im Ministerium – und damit zum obersten Justiz-Beamten Österreichs.
Moser, der als ehemaliger Freiheitlicher nun auf einem ÖVP-Ticket in der Regierung sitzt, gilt intern nicht als großer Macher in Justizangelegenheiten. Offiziell tritt er weniger als Justiz- denn als „Reformminister“ in Erscheinung. Der, der mit harter Hand einen Weg durch die Niederungen des Paragrafendschungels bahnt, ist Pilnacek. Das macht ihn zu einem der mächtigsten Männer der Republik.
Sein Einfluss ergibt sich nicht zuletzt aus der sogenannten Weisungskette: Oben steht das Ministerium – aktuell somit Pilnacek. In der Mitte sind die vier Oberstaatsanwaltschaften angesiedelt. Und ganz unten befinden sich die Staatsanwaltschaften, die die eigentliche Ermittlungsarbeit durchführen – unter der Aufsicht ihrer Oberbehörden. Fast alles läuft somit über Pilnaceks Tisch, mit ganz wenigen Ausnahmen, die den Spitzenjuristen nachhaltig verärgern können: Von der Razzia im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, kurz: BVT, hatte Pilnacek Ende Februar 2018 vorab keine Kenntnis erlangt.
In der Regel läuft es so: Ist ein Fall von besonderem öffentlichem Interesse – etwa, weil Politiker involviert sind –, müssen die Staatsanwälte nach oben berichten. Pilnacek erfährt alles, was – aus Sicht der Mächtigen – relevant erscheint. Und mitunter ist er auch selbst beteiligt. Wie am 1. April 2019, bei einer sogenannten Dienstbesprechung am Sitz der Oberstaatsanwaltschaft Wien.
Addendum und Ö1 liegt ein detailliertes Protokoll dieser Sitzung vor. Darin sind unter anderem folgende Aussagen Pilnaceks vermerkt: „Ich mach ein Auge zu, und wir stellen irgendwelche Dinge ein.“ Man werde aus verfahrensökonomischen Gründen einen „cut“ – also einen Schnitt – ziehen müssen. Oder auch, brachialer formuliert: „Setzts euch z’samm und daschlogts es, aber das hättet ihr vor drei Jahren machen können.“ Das Wort „erschlagen“ bezog sich offensichtlich auf Teile eines Ermittlungsverfahrens und sollte „einstellen“ bedeuten.
Wer angesichts der Wortwahl meint, es wäre bei der Besprechung um die juristischen Nachwehen einer Wirtshausschlägerei oder um ein Wald-und-Wiesen-Thema gegangen, liegt jedoch falsch. Inhalt war die politisch sensibelste Wirtschaftscausa der Republik – die Eurofighter-Affäre mit all ihren Verästelungen. Der Akt, der vorher bei der Staatsanwaltschaft Wien geführt worden war, wurde im Februar 2019 der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) übertragen.
Wie aus dem Protokoll hervorgeht, hätten sich die Vertreter der Korruptionsstaatsanwaltschaft, die nun plötzlich mit einem riesigen Verfahrenskomplex konfrontiert waren, Unterstützung ihrer Aufsichtsbehörden bei der ordnungsgemäßen Aufarbeitung erwartet. Stattdessen sollen Sätze wie die oben zitierten gefallen sein. Als dann kurz nach der Besprechung der von der Korruptionsstaatsanwaltschaft vorgesehene und auf Aufklärung drängende Teamleiter durch die Oberstaatsanwaltschaft abgesetzt wurde, lief das sprichwörtliche Fass über.
Die Korruptionsstaatsanwaltschaft erstattete Anzeige – und zwar direkt bei Minister Josef Moser. Formell nennt sich das Papier „Informationsbericht“. Es wurde nicht nur von der Leiterin der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, sondern auch von mehreren führenden Mitarbeitern – allesamt im Rang eines Oberstaatsanwalts – unterzeichnet. Sie alle waren bei der erwähnten Dienstbesprechung persönlich anwesend. Und sie schrieben: „Da die im gegenständlichen Bericht geschilderten (…) und teils zusammengefassten (…) sowie auch weitere im beigeschlossenen Protokoll ersichtlichen Vorkommnisse (…) nach Auffassung der WKStA auf ihre strafrechtliche Relevanz (…) zu prüfen wären, werden der Bericht und das Protokoll auch im Hinblick auf die daher indizierte Anzeigepflicht nach § 78 StPO vorgelegt.“
Laut Informationsbericht geht es „insbesondere“ um möglichen Amtsmissbrauch, aber auch um andere strafbare Handlungen. Der erwähnte Paragraf sieht vor, dass eine Behörde, der der Verdacht einer Straftat bekannt wird, die ihren Wirkungsbereich betrifft, zur Anzeigeerstattung verpflichtet ist. Dass Korruptionsermittler sich nach nach einer Besprechung mit ihren Ober-Aufsehern – bei allen erwartbaren persönlichen Konsequenzen – zu einem derart drastischen Schritt gezwungen sehen, ist wohl einzigartig.
Im Kern steht der Vorwurf im Raum, Oberstaatsanwaltschaft und Ministerium würden als Fachaufsicht nicht ausschließlich die Qualität der Ermittlungsarbeit im Auge haben. In der Anzeige heißt es, oberste Maxime der Fachaufsicht sei die Vermeidung medialer Unruhe und unbeantwortbarer Fragen nach einer möglichen Aufsichtsverantwortlichkeit.
Was gemeint ist, wenn die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in dem Informationsbericht von „aufgezeigten Versäumnissen“ spricht, ergibt sich aus dem vorliegenden Besprechungsprotokoll. Vertreter der Korruptionsstaatsanwaltschaft, die neu mit dem Fall betraut waren, wiesen an diesem 1. April auf zahlreiche, teils gravierende Probleme im Zusammenhang mit der bisherigen Führung des Ermittlungsverfahrens hin. Neben Pilnacek soll auch Johann Fuchs, seit September 2018 Leiter der Oberstaatsanwaltschaft, auf eine rasche Erledigung des Verfahrens gedrängt haben – ungeachtet der bestehenden Schwierigkeiten und der knappen Personalressourcen. Jedenfalls möge nicht mehr nach neuen Verdachtsansätzen gesucht werden.
Offenbar wollen die Aufsichtsbehörden vermeiden, dass die neuerdings für das Verfahren zuständige Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Maßnahmen setzt, die das bereits seit 2011 laufende Ermittlungsverfahren nochmals um Jahre verlängern könnten. Sie soll unter den bestehenden Prämissen weitermachen und den komplexen Fall zeitnah beenden. Dieses Ansinnen wirkt – angesichts einer Reihe überlanger Verfahren – grundsätzlich vernünftig. Aus dem Protokoll ergibt sich allerdings, dass ein zentraler Aspekt der Eurofighter-Causa seit Jahren unter einer rechtlich nicht haltbaren Annahme geführt worden sein dürfte. Die wahrscheinliche Folge: Einstellungen und Verjährungen. Was im Eurofighter-Verfahren alles schiefgelaufen ist und wie die drastischen Aussagen aus der Dienstbesprechung zu verstehen sind, lesen Sie hier.
Die strafrechtliche Relevanz der Anzeige lässt sich anhand zweier Beispiele dokumentieren. Dabei geht es um die mögliche Einschränkung von Beschuldigtenrechten. Beschuldigte haben andere Rechte als Zeugen, die unter Wahrheitspflicht stehen; sie haben das Recht, über eine Verdachtslage informiert zu werden, und können die Aussage verweigern.
Im Rahmen der Dienstbesprechung vom 1. April ging es auch um Alfons Mensdorff-Pouilly. Der Lobbyist und Landwirt aus dem burgenländischen Luising dürfte bereits 2011 in das Visier des damaligen Eurofighter-Staatsanwalts geraten sein, der in einem Bericht an die Fachaufsicht auf „zweifelhafte Geldflüsse im Zusammenhang mit Mensdorff-Pouilly, die jedenfalls im Zuge des Ermittlungsverfahrens aufzuklären sein werden“ verwiesen hat. 2014 wurde Mensdorff jedoch als Zeuge unter Wahrheitspflicht einvernommen, obwohl bereits eine Verdachtslage bestand. Eingeleitet wurde das Ermittlungsverfahren allerdings erst im Dezember 2018 – und auch das nur zu einem Teil der „zweifelhaften Geldflüsse“.
Das zweite Beispiel betrifft den langjährigen, nunmehr abgezogenen, Eurofighter-Staatsanwalt selbst. Gegen Michael R. wird in der Causa Eurofighter mittlerweile in einem Nebenaspekt ermittelt. Laut der Anzeige der Korruptionsermittler wurde in der hochrangigen Juristenrunde am 1. April diskutiert, wie R. dazu gebracht werden könnte, sein Wissen weiterzugeben. OStA-Chef Fuchs soll eingeworfen haben, man solle R. laden und die Art und Weise wie er kooperiere, werde dann in den dienstrechtlichen Verfahren eine Rolle spielen. Dies ist eine der Aussagen, die laut Anzeige der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft auf strafrechtliche Relevanz geprüft werden sollte – unter dem Blickwinkel, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten. Ein rechtsstaatliches Prinzip, das wohl als selbstverständlich angesehen werden müsste.
Im Rahmen der Besprechung wurde übrigens auch in den Raum gestellt, der langjährige Eurofighter-Staatsanwalt könnte eine Nahebeziehung zu einem Gutachter haben, der im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Eurofighter-Gegengeschäfte durchleuchten sollte. Die Erstellung habe sieben Jahre gedauert, rund eine Million Euro gekostet und letztlich nur rund die Hälfte der Gegengeschäfte beleuchtet.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft im Rahmen der Besprechung mit Generalsekretär Pilnacek und der Aufsicht deutlich klar machte, dass es dringend mehr erfahrenes Personal brauche, um die Ermittlungen voranzutreiben.
Danach geschah Bemerkenswertes: Die Aufsicht berief den mit Großverfahren erfahrenen Teamleiter der Korruptionsstaatsanwaltschaft ab und ersetzte ihn durch durch einen Mitarbeiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien – das ist ausgerechnet jene Aufsichtsbehörde, die schon die bisherige Führung des Eurofighter-Verfahrens mitgetragen hatte.
Zusätzliche Kapazitäten hatte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Sachen Eurofighter bereits vor der Dienstbesprechung am 1. April erhalten: Ihr wurde eine Staatsanwältin zugeteilt. Deren Berufserfahrung: ein Monat.
Addendum bat die Betroffenen um Stellungnahmen. Das Justizministerium bestätigte, dass die WKStA am 18. April 2019 betreffend der Eurofighter-Besprechung ein Informationsschreiben an die Ressortleitung – also an Minister Moser – übermittelte. Dieses betreffe den Generalsekretär, den leitenden Oberstaatsanwalt und einen weiteren Oberstaatsanwalt der OStA Wien. „Um selbst jeden Anschein einer Befangenheit ausschließen zu können, hat das Bundesministerium das Informationsschreiben an die Generalprokuratur mit dem Ersuchen (…) vorgelegt, eine Staatsanwaltschaft mit der Prüfung zu beauftragen“, heißt es in der Stellungnahme. Die Generalprokuratur habe die Staatsanwaltschaft Linz bestimmt, die nun die Prüfung vornehme. Laut Staatsanwaltschaft Linz wird derzeit geprüft, ob Ermittlungen eingeleitet werden.
Zu den im Raum stehenden Vorwürfen und den Vorkommnissen bei der Dienstbesprechung teilte ein Sprecher der Oberstaatsanwaltschaft Wien Folgendes mit: „Unterschiedliche Auffassungen über die Ermittlungsstrategie sind nicht ungewöhnlich. Vielmehr ist die Erörterung und Darlegung der Sichtweisen Sinn einer Dienstbesprechung und die pointierte Darlegung des eigenen Standpunkts der Diskussion geschuldet. Einzelne Wortmeldungen und Dissonanzen zwischen den Sitzungsteilnehmern dürfen daher nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden. Denn alle Beteiligten trachten nach einer umfassenden und zügigen Aufklärung der Verdachtsmomente.“ Da die WKStA den Standpunkt vertreten habe, aufgrund ihrer Personalsituation nicht in der Lage zu sein, die anstehenden Aufgaben in angemessener Zeit zu bewältigen, veranlasste die Oberstaatsanwaltschaft Wien die Dienstzuteilung dreier zusätzlicher Staatsanwälte. Zur Berufserfahrung und früheren Tätigkeit dieser Staatsanwälte äußerte sich die Oberstaatsanwaltschaft nicht. Keinen Kommentar abgeben wollte Michael R., der frühere Eurofighter-Staatsanwalt.
Die WKStA erklärte ihrerseits in einer schriftlichen Stellungnahme, man habe „alles getan, um eine möglichst schnelle und effiziente Aufarbeitung zu gewährleisten. Die Akten umfassen derzeit 70 Umzugskartons und rund 55 Terabyte an Daten“. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft stehe für sauber geführte Ermittlungsverfahren. „Gerade als Korruptionsstaatsanwaltschaft ist es notwendig, in solch sensiblen, brisanten und politisch konnotierten Verfahren ausschließlich an der Sache orientiert zu ermitteln und jedweden Tendenzen für unsachliches Vorgehen entschieden entgegenzutreten.“