Die wichtigsten Erkenntnisse:
Vor der Staatsanwaltschaft gibt es die Inquisition. Aber sie ist alles andere als eine Vorläuferin der modernen Strafverfolgung, denn sie kennt eine von deren wesentlichen Errungenschaften nicht: den Unterschied zwischen Ankläger und Richter. Der Inquisitor sucht und findet, ermittelt und richtet. Er beweist sich die Schuld des Angeklagten selbst, „gleich einem gerechten Richter“, wie es Bernard Gui, ein Standesvertreter des 13. und 14. Jahrhunderts, ausdrückt. Doch die Gefahr dieses Systems ist heute offensichtlich: Jemand ermittelt, bezieht einen Standpunkt, wird Partei und soll am Ende unparteiisch richten.
„Bernard will gar nicht unbedingt den wahren Schuldigen finden, er will nur den Angeklagten brennen sehen“, lässt Umberto Eco seinen Protagonisten William von Baskerville über den Inquisitor in „Der Name der Rose“ sagen und bringt damit den inneren Konflikt von dessen Institution auf den Punkt.
Die Erfindung des selbstständigen Staatsanwalts setzt dem ein Ende. Sie befreit den Richter von der voreingenommenen Stellung gegenüber dem Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft ist ein Produkt der Aufklärung und der Französischen Revolution. Sie vertritt den Strafanspruch des Staates vor einem unabhängigen Gericht. Deshalb wird der Staatsanwalt auch in die staatlichen Strukturen eingebettet, ist Beamter, der auf Grundlage des Gesetzes und unter Aufsicht eines Ministers arbeitet.
Dieses System übernimmt auch Österreich, als es mit der Strafprozessordnung im Jahr 1850 Staatsanwaltschaften nach französischem Vorbild einführt. Organisatorisch entwickeln sich diese aus den Fiskalämtern, aus denen später die Finanzprokuraturen entstehen. Die Anklagebehörden sind laut Gesetz „dem Justizministerium unmittelbar untergeordnet“. Die Kontrolle ist engmaschig. Die Staatsanwälte müssen monatlich an die damals noch als Generalprokuratoren bezeichneten Oberstaatsanwälte berichten, diese wiederum vierteljährlich an den Justizminister.
Gegenüber den Sicherheitsbehörden sind die Ankläger weisungsberechtigt. Das Ermittlungsverfahren, nach dessen Abschluss über Anklage oder Einstellung entschieden wird, leitet jedoch ein Untersuchungsrichter „persönlich und unmittelbar“. Dieser unabhängige und weisungsfreie Untersuchungsrichter wird als Schutzfaktor gegen die kaiserliche Macht und die von ihr kontrollierte Staatsanwaltschaft gesehen.
1873 wird eine neue österreichische Strafprozessordnung erlassen, sie gilt, mit allen Änderungen und Wiederverlautbarungen, noch heute. An der Stellung des Staatsanwalts ändert auch die Ausrufung der Republik nicht viel. Das Grundgesetz über die richterliche Gewalt von 1918 bestimmt: „Die Staatsanwaltschaft gilt als Verwaltungsbehörde.“
Daran ändert sich in den nächsten 90 Jahren nichts. Doch als 2008 die Strafprozessreform in Kraft tritt, herrschen Zweifel, ob nicht die Übernahme der Ermittlungsarbeit der abgeschafften Untersuchungsrichter durch die Staatsanwälte verfassungsrechtliche Probleme aufwirft. Kurzerhand erklärt man die Staatsanwälte zu Organen der Gerichtsbarkeit und ändert die Bundesverfassung – rückwirkend. Damit erfüllt sich auch ein langgehegter Wunsch der Staatsanwälte.
Gleichzeitig ändert man aber nichts an ihrer Weisungsgebundenheit. Sie nehmen im Strafprozess nunmehr „Ermittlungs- und Anklagefunktionen wahr“, bleiben aber den Oberstaatsanwälten und diese dem Bundesminister für Justiz untergeordnet.
Die Maßnahme ist unter Experten umstritten. Einerseits ist die Gerichtsbarkeit in allen Instanzen von der Verwaltung zu trennen, andererseits sind die Staatsanwälte gegenüber dem Minister weisungsgebunden. Der Verfassungsjurist Ewald Wiederin sagt: „Wir kennen uns nicht mehr aus.“
Im System des Anklageprozesses war die Staatsanwaltschaft noch eine klassische politische Behörde. Die Rechtfertigung für ihre Weisungsgebundenheit fasst Wiederin so zusammen:
„Die Vertretung der Anklage ist res publica, die Entscheidung, ob, wer, was wann wie angeklagt wird, ist eine politische Entscheidung, die alle angeht, die demokratisch verantwortet werden muss, weil es beim irdischen Strafrecht nicht um ewige Gerechtigkeit geht, sondern um das Wohl des Gemeinwesens.“
Es fehle, so Wiederin weiter, „jedes Indiz, dass irgendeiner der in die Verfassungsänderung involvierten Akteure grundstürzende Neuerungen beabsichtigt hätte. Wenn man überhaupt etwas wollte, dann dem Druck der Standesvertreter nachgeben und die verfassungsrechtlich angefeindete StPO-Reform absichern“.
Staatsanwalt kann nur werden, wer Richter ist oder war. Die beiden Berufe unterscheiden sich dennoch grundlegend. Über die Besetzung von Richterposten entscheiden im Grunde Personalsenate, die aus Richtern bestehen. Staatsanwälte werden von Personalkommissionen ausgewählt, in der der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft, der Leitende Staatsanwalt und zwei Gewerkschaftsmitglieder vertreten sind. Die Bevorzugung von parteipolitisch gefärbten Kandidaten wird von den Standesvertretern bestritten.
Für das Disziplinarverfahren gegen einen Staatsanwalt ist ein Oberlandesgericht zuständig, in dessen Sprengeln der betroffene Staatsanwalt nicht arbeitet. Das Disziplinargericht besteht aus drei Richtern, ein weiteres Mitglied tritt in der Rolle des Untersuchungskommissärs als Ankläger auf. Die Strafe der Entlassung kann nur dann verhängt werden, wenn sich alle Mitglieder des Senats dafür aussprechen.
Warum Staatsanwälte ihren Dienst quittieren, ist hingegen kaum bekannt. Über die Abgänge von Staatsanwälten führt das Bundesministerium für Justiz laut Rechnungshofbericht aus dem Jahr 2012 nur rudimentäre Aufzeichnungen. Die Austritte aus dem staatsanwaltschaftlichen Dienst wurden lediglich auf Ebene der vier Oberlandesgerichtssprengel erfasst, Gründe wurden nicht vermerkt. Die einzelnen Staatsanwaltschaften führten Statistiken in unterschiedlicher und nicht vergleichbarer Qualität.
Die Konsequenz ist, dass es keine einheitliche Ansicht mehr gibt, wie die Staatsanwälte zu behandeln sind. Das hat durchaus praktische Auswirkungen. Einerseits ist unklar, ob die „ihnen vorgesetzten Organe“, von denen die Verfassung spricht, überhaupt Behörden, wie ein Minister, sein können. Andererseits würden sie als Organe der Gerichtsbarkeit eigentlich nicht länger parlamentarischen Anfragen unterliegen. Denn das Parlament kann nur kontrollieren, was im Verantwortungsbereich der Regierung liegt.
Tatsächlich erklärt das Justizministerium, die „Ermittlungs- und Anklagetätigkeit der Staatsanwälte in deren Funktion als Organe der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ sei „nicht vom parlamentarischen Interpellationsrecht umfasst“. Dennoch werden immer wieder Anfragen zu Ermittlungen, deren Stand oder Einstellung beantwortet, andere wiederum nicht. Wo beginnt die gerichtliche Funktion und wo endet die Verwaltungstätigkeit der Staatsanwaltschaften?
So genau scheint das niemand zu wissen. Die Datenschutzbehörde beispielsweise behandelt die Staatsanwaltschaft seit 2008 wie Gerichte und nimmt keine Beschwerden gegen sie mehr entgegen. Die Volksanwaltschaft hingegen zählt sie weiterhin zur Justizverwaltung und kümmert sich um entsprechende Vorbringen von Bürgern. Derselben Ansicht ist der Rechnungshof, der die Anklagebehörden weiterhin prüft.
Trotz der halbseidenen Überführung der Staatsanwaltschaft in die Gerichtsbarkeit und der Einführung des Weisungsrats hält man in Österreich weiterhin am ministeriellen Weisungsrecht fest.
Auf die Frage, ob ein Organ der Gerichtsbarkeit einem Minister unterstellt sein soll, findet selbst die Verfassung keine einheitliche Antwort. Zumindest an der Spitze der Weisungspyramide ist man von der eigenen Unabhängigkeit überzeugt. Laut Christian Pilnacek, dem Leiter der Strafrechtssektion im Justizministerium, sind sachlich ungerechtfertigte Weisungen aufgrund des engmaschigen Kontrollnetzes ausgeschlossen.