So lange ist es her, dass Kärnten seinen bisherigen Bevölkerungshöchststand (561.845) verzeichnete. Österreich hatte damals 7,9 Mio. Einwohner. Heute sind es 8,7 Mio. Kärnten trug nicht zu diesem Wachstum bei.
Beim „Taupe“ im Zentrum der Kärntner Bezirksstadt Sankt Veit an der Glan kann man, wenn man zuhört, viel über Zustand und Zukunft des südlichsten österreichischen Bundeslands erfahren. Zum Beispiel dass der selbst geröstete Kaffee und der Reindling des gepflegten Kaffeehauses in der Fußgängerzone am Unteren Platz bei den Gästen immer „gehen“, wie man hier sagt. In guten und in schlechten Zeiten.
Man erfährt hier aber auch, dass Kaffee, Reindling, hohe Berge und klare Seen nicht reichen, um die Jungen im Land zum Hierbleiben zu bewegen. Zu diesen Jungen gehören Elias Sandner, Hannah Maltschnig und Simon Niederbichler. An diesem Freitagnachmittag im Februar sitzen sie mit uns beim „Taupe“ im Gastraum in der Rösterei und erzählen davon, wie schön es ist, hier zu leben. Und dass sie dennoch alle wohl einmal von hier weg wollen und müssen. Oder es bereits sind. Die Lebenspläne der drei sind gewissermaßen das, was man im Fernsehen unter dem Begriff „True Story“ zusammenfasst: das echte Leben zu den Zahlen.
Im Zuge eines Gesprächs mit unserem Leser Christian Passin kamen wir mit Rudolf Egger, Vizebürgermeister von St. Veit, beruflich jedoch vor allem Regionalleiter beim Kärntner Hilfswerk, in Kontakt. Egger erzählte von der Schwierigkeit der mobilen Pflege in den dünn besiedelten Regionen und von der letzten Geburtstagsfeier seines Sohnes bei sich zu Hause.
„Zu später Stunde“, erzählte uns Egger, „hab’ ich die Gruppe von Maturanten nach ihren Zukunftsplänen gefragt. Ich war erschüttert: Fast alle wollten weg.“ Egger hat uns anschließend geholfen, ein Treffen mit jungen Erwachsenen aus der Region zu organisieren. Das Foto zeigt Simon Niederbichler, Addendum-Redakteur Andreas Wetz, Elias Sandner und Hannah Maltschnig bei ihrem Treffen beim „Taupe“ in Sankt Veit.
Die sind eindeutig. Kärnten, das zeigen die aktuellen Prognosen, ist das einzige Bundesland in Österreich, dessen Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten schrumpfen wird. Das ist eine Entwicklung, die schon in der jüngeren Vergangenheit zu beobachten war und die zwischenzeitlich nur durch den verstärkten Ausländer-Zuzug der starken Migrationsjahre 2014, 2015 und 2016 saniert werden konnte (Stichwort: Asylkrise).
So lange ist es her, dass Kärnten seinen bisherigen Bevölkerungshöchststand (561.845) verzeichnete. Österreich hatte damals 7,9 Mio. Einwohner. Heute sind es 8,7 Mio. Kärnten trug nicht zu diesem Wachstum bei.
Bereits im Lauf des Jahres 2017 ging die Zahl der Kärntner Bevölkerung wieder zurück und stand mit 1. Jänner 2018 bei 560.882 Personen. Ihr Höchststand (561.845) liegt inzwischen 22 Jahre in der Vergangenheit. Österreich hatte damals noch nicht einmal 8 Millionen Einwohner. Heute sind es fast 9 Millionen. Warum ist südlich des Alpenhauptkamms beim Bevölkerungswachstum die Zeit stehengeblieben? Im Gastraum beim „Taupe“ in St. Veit erklären uns das die drei jungen Erwachsenen.
„Das Land und die Politik versuchen schon einiges“, sagt Elias Sandner. Förderungen, Projekte, Initiativen, und, und, und. Allein: Es funktioniert nur sehr beschränkt. Es scheint fast, als hätte die aktuelle Regierung unter Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) mit den gleichen Problemen zu kämpfen, gegen die schon Jörg Haider und seine Erben mit deutlich vollerer Kriegskasse anrannten: Vor allem die, die an eine Universität wollen, ziehen weg.
Dabei ist der Ruf der Uni Klagenfurt gar nicht der schlechteste. Viele Studenten empfinden das familiäre Flair sogar als bereichernd. Auch Elias Sandner beginnt im Sommersemester dort mit Informatik. Allerdings auch schon mit dem festen Plan im Kopf, von Klagenfurt bald an eine ausländische Universität mit IT-Kompetenz zu wechseln. Am liebsten nach Irland oder in die USA. Die richtig großen Schritte, sagt er, mache man in Kärnten einfach nicht.
In den meisten Fällen kann die akademische Karriere hier nicht einmal starten. Die großen Fächer wie Jus und Medizin werden genauso wenig angeboten wie eine echte Technische Universität vorhanden ist. Auch Hannah Maltschnig verließ Kärnten in Richtung Wien, um dort Dolmetschen zu studieren. Doch es geht nicht nur um das Studium. „Auch die Möglichkeiten der Großstadt ziehen viele weg von hier“, sagt sie. Drei Viertel ihrer Maturaklasse von 2016 haben Kärnten verlassen. Bei Sandner waren es zwei Drittel.
Etwas anders ist die Situation bei Facharbeitern. Simon Niederbichler lässt sich in der Lehrlingssschule des Kärntner Elektrizitätsversorgers KELAG zum Elektrotechniker ausbilden. „Wer nicht ganz hoch hinaus will“, sagt der 17-Jährige, „findet hier dann mit guter Ausbildung auch ziemlich sicher einen Job.“ Doch auch er will weiterkommen, studieren, mehr erreichen, und macht im Rahmen ebendieser Schule zusätzlich die Matura. Auch ihn wird es deshalb nach Reife- und Lehrabschlussprüfung an eine Universität ziehen. Wahrscheinlich nach Wien. Jedenfalls weg aus Kärnten.
Die sehr persönlichen Erzählungen der drei jungen Erwachsenen aus dem Bezirk St. Veit stehen ganz offensichtlich für mehr als nur individuelle Lebensgeschichten. Sie spiegeln die statistischen Daten des großen Ganzen eins zu eins wider. 2016, das ist das letzte Jahr, für das die erforderlichen Daten in dieser Präzision bei der Statistik Austria vorliegen, verließen 10.548 Personen Kärnten. 6.316 davon, das sind genau 60 Prozent, waren zwischen 0 und 26 Jahre alt.
Dass sich hinter diesen Zahlen zu großen Teilen der Wunsch nach Bildung und Großstadt verbirgt, lässt sich bereits oberflächlich recht gut aus der Verteilung der Ziel-Bundesländer schließen. Zwischen 1996 und 2016 verließen 110.649 Personen Kärnten für ein anderes Bundesland. Jeweils knapp ein Drittel davon zog es entweder in die Millionenstadt Wien oder in die Steiermark, wo die Universitätsstadt Graz eine ähnlich große Anziehungskraft ausübt (siehe Grafik).
So hoch ist der Anteil jener auswandernden Kärntner, die es nach Wien oder in die Steiermark zieht.
Experten nennen die Abwanderung der überdurchschnittlich gebildeten Teile einer Bevölkerung „Brain Drain“. Birgit Aigner-Walder setzt sich intensiv mit diesem in Kärnten weit verbreiteten Phänomen auseinander. An der FH Kärnten hat sie eine Professur für Volkswirtschaftslehre und leitet am Campus Villach das Department für demografischen Wandel und regionale Entwicklung. Gemeinsam mit Robert Klinglmair verfasste sie eine Studie über den regionalen Brain Drain und, das ist in dieser Form einzigartig, sie fragte auch nach den Gründen.
Mit Unterstützung der Mitarbeiter des Zentralen Melderegisters (ZMR) gelang es ihr, eine repräsentative Zufallsstichprobe von Personen zu identifizieren, die im Zeitraum von zehn Jahren Kärnten verlassen haben. Alle von ihnen (2.350) wurden angeschrieben und über ihren Bildungsstand und ihre Motive befragt. Die Ergebnisse waren eindeutig. Jeder Zweite (50,7 Prozent) hatte eine Universität, Fachhochschule oder Pädagogische Hochschule abgeschlossen. Dieser Wert liegt weit über dem Mittel (13,1 Prozent) Kärntens.
Als häufigste Motive gaben die Wegzügler Ausbildung (47,9 Prozent), eine neue Arbeitsstelle (22,7) sowie familiäre Gründe (19,2) an. Die – nicht selten von Kulturschaffenden – öffentlich behauptete Unzufriedenheit mit dem „System Haider“ spielte in der Breite der Bevölkerung offenbar keine Rolle. Die Studie konzentrierte sich auf Personen, die Kärnten zwischen 2003 und 2012 verließen. Jörg Haider verunglückte im Oktober 2008 tödlich. Gerade einmal vier von 603 Personen, die den Fragebogen zurückschickten, gaben „Unzufriedenheit mit der politischen Situation“ als Auswanderungsgrund an.
Dass die Ära unter Landeshauptmann Haider (FPÖ/BZÖ 1999 bis 2008) und seinen Erben (Gerhard Dörfler BZÖ/FPK: 2008 bis 2013) im Vergleich zur aktuellen „Wenderegierung“ von Peter Kaiser (SPÖ) in Bezug auf die Abwanderung unmittelbar und besonders schlecht abschnitt, Kärnten also auffällig unattraktiv war, kann man aus den Daten – zumindest direkt – nicht ablesen. Seit der Zeit des ÖVP-Landeshauptmanns Christof Zernatto stagniert bzw. sinkt Kärntens Einwohnerzahl. Der in Kärnten besonders relevante Binnenwanderungssaldo, also der Nettoabfluss in andere Bundesländer, war sowohl unter Haider (–946) als auch unter Dörfler (–1.196) im Jahresmittel deutlich weniger negativ als während der analysierbaren Kaiser-Jahre (2013–2016: –2.098 Personen). (siehe auch vorangestellte Grafik)
Wie ist es dennoch erklärbar, dass die Einwohnerzahl des Landes zuletzt kurzfristig wieder anstieg? Der Grund dürfte in den stark gewachsenen Asylwerberzahlen der Jahre 2014, 2015 und 2016 liegen. Unter Haider (+937) und Dörfler (+1.457) blieb der durchschnittliche jährliche Nettozuzug aus dem Ausland so gering, dass dieser die negative Binnenwanderung und die seit 1999 negative Geburtenbilanz nicht auszugleichen vermochte. Seit Beginn der Ära Kaiser hingegen stieg der Netto-Zuzug aus dem Ausland sprunghaft auf durchschnittlich 4.618 Personen im Jahr an. Und geht nun, wo die starken Asyl-Jahre vorbei sind, wieder zurück.
Das wird in Zukunft nicht nur gravierende Auswirkungen auf das soziale Gefüge, die Altersverteilung, Gesundheitsversorgung und Pflege haben. Mit der Bevölkerung gehen nämlich auch die jährlichen Überweisungen vom Bund aus dem Finanzausgleich zurück. Jeder Einwohner ist nämlich Geld aus dem Steuertopf wert. Laut dem letztgültigen Schlüssel waren es in Kärnten pro Kopf 1.886,6 Euro für das Land und 1.068 Euro für die jeweilige Hauptwohnsitzgemeinde.
Um zu einer gesamtheitlichen Betrachtung des Problems zu kommen, muss man auch dazusagen, dass die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in Kärnten in zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten verläuft. Villach, wo Aigner-Walder an der Fachhochschule lehrt, ist neben Klagenfurt eines von zwei städtischen Zentren im Land, die wachsen. Sieben Prozent waren es seit 2002. Der Villacher Wirtschaft geht es vergleichsweise gut. Local Hero ist der Halbleiterhersteller Infineon, der der Stadt überregionale Strahl- und Anziehungskraft verleiht.
Auf der anderen Seite stehen die peripheren Bezirke wie Sankt Veit an der Glan. Die Region, in der unsere Gesprächspartner Elias Sandner, Hannah Maltschnig und Simon Niederbichler aufwuchsen, hat im gleichen Zeitraum sechs Prozent an Bevölkerung verloren. Und: Es geht noch schlimmer.
Die Marktgemeinde Hüttenberg liegt 40 Kilometer Luftlinie nordöstlich von Klagenfurt im oberen Görtschitztal. Bekannt ist der Ort u.a. durch den hier geborenen Bergsteiger Heinrich Harrer, die Hollywood-Verfilmung seines Lebens mit Brad Pitt in der Hauptrolle und seine Bekanntschaft zum Dalai Lama – und den einstigen Bergbau. Das alles ist Vergangenheit. Allein seit 2002 schrumpfte die Einwohnerzahl um 20 Prozent auf zuletzt 1.431 Personen. Nirgendwo sonst in Kärnten verläuft der Rückgang so schnell.
Rudolf Schratter hat diese Zeit intensiv miterlebt. Der 64-jährige Sozialdemokrat ist hier geboren, war Gemeindeangestellter und Geschäftsführer des Harrer-Museums, 18 Jahre lang Bürgermeister, und ist heute so etwas wie der Dorfchronist. Zuletzt veröffentlichte er ein Buch mit Sagen aus der Region „Der Scharfenstein“. An diesem kalten und verschneiten Vormittag im Winter erinnert er sich für uns daran, wie es dazu kam, dass die Region langsam, aber sicher ausstirbt. Auch seine erwachsenen Kinder sind weggezogen.
„In Wahrheit“, sagt Schratter, „lässt sich alles auf das Jobproblem reduzieren.“ Wir haben uns mit ihm in Knappenberg getroffen, einer Katastralgemeinde, die hoch über dem Hauptort Hüttenberg liegt. Hier oben hat die Gemeinde mit Investoren und Hilfe des Landes in der Ära Haider ein Tibet-Zentrum mit Hotel errichtet. Das Projekt sollte so viele Jobs schaffen, dass sich die Negativspirale von selbst erledigen würde. Doch vom ursprünglich geplanten Investitionsvolumen in Höhe von 60 Millionen Euro blieb nach dem Absprung des Hauptinvestors und einem Teilrückzug der Tibeter zu wenig übrig, um die Kehrtwende zu schaffen. Das glaubt jedenfalls Schratter.
Er selbst ist heute der Meinung, dass die Politik nur vergleichsweise geringe Einflussmöglichkeiten auf den Bevölkerungsrückgang und damit auch den gesellschaftlichen Verfall in abgelegenen Gemeinden habe. „Wir haben alles versucht, und auch, wenn ich mit ihm selten einer Meinung war: Haider hat sich, wenn es ihm genützt hat, stark für den ländlichen Raum eingesetzt.“
Nachdem der Bergbau Ende der 1970er Jahre endgültig aufgegeben wurde, schien der Niedergang nicht mehr aufzuhalten. Mit den Jobs, erinnert sich Schratter und blickt dabei auf seine Baseballkappe aus dem „Hardrock Café Memphis“, die er von seiner letzten USA-Reise mitgebracht hat, gingen auch die Jungen. Wirtshäuser, Handwerker, Postamt und zuletzt die Schule: Immer mehr sperrten zu. Nur die Alten blieben. „Und ich“, sagt Schratter, „habe Zeit, meine Bücher zu schreiben.“
Manchmal kommen die Jungen aber auch wieder zurück. Zumindest sagen sie das. Kelag-Schüler Simon Niederbichler schließt das genauso wenig aus wie Dolmetsch-Studentin Hannah Maltschnig. „Wer weiß“, sagt sie, „es ist doch schön hier.“ Ob das reichen wird?