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„Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, bekomme ich Angst“
23. April 2019 Kinderpsychiatrie Lesezeit 3 min
Andrea ist 17 Jahre alt und hat Angst: Vor der Schule, vor Menschenmengen, vor der Stadt. In der Kinderklinik Leoben wird sie stationär behandelt. Ärztliche Betreuung beim Facharzt nebenan ist (fast) unmöglich: In der gesamten Steiermark gibt es keinen einzigen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Kinderpsychiatrie und ist Teil 3 einer 4-teiligen Recherche.

Die 17-jährige Schülerin Andrea hat Angst vor der Schule, sie hat Angst, wenn sie unter vielen Menschen ist, ja sogar Angst, wenn sie ihre Wohnung verlässt. Seit drei Jahren leidet die junge Steirerin an schweren Angstzuständen. Nachdem diese ihr Leben immer mehr einschränkten, weihte sie ihre beste Freundin ein und suchte ambulant Hilfe in Leoben.

Mittlerweile wissen auch Andreas Eltern Bescheid, und die Schülerin hat sich für eine stationäre Behandlung in der Kinderklinik Leoben entschieden. Andrea will, dass sie wieder normal leben kann und nimmt dafür einen längeren Krankenhausaufenthalt in Kauf, auch wenn sie weiß, dass sie in der Schule etwas verpassen wird – und wohl auch ihr Umfeld erfährt, dass sie nicht nur wegen einer Grippe fehlen wird.

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Eine Alternative zum Spitalsaufenthalt – etwa bei einem niedergelassenen Arzt – ist für Andrea kaum möglich. Es gibt in der Steiermark keinen einzigen Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag. „Die Steiermark ist stark unversorgt“, sagt der ärztliche Vorstand der Kinderklinik Leoben, Reinhold Kerbl, „wenn ich zu einem niedergelassenen Arzt gehen muss oder will, dann muss ich mir einen Wahlarzt suchen und ihn großteils selbst bezahlen.“

Ganz Österreich hat großen Nachholbedarf in dieser Fachrichtung: Neben der Steiermark gibt es auch im Burgenland keinen einzigen Kinder- und Jugendpsychiater, der von einer der gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlt wird. In Wien ordinieren sechs Kassenärzte in diesem Fachbereich, daneben gibt es drei ambulante Angebote, die kassenfinanziert sind und als Erstkontaktstellen bei psychischen Problemen fungieren. Sie reichen nicht aus: So empfiehlt der „Österreichische Strukturplan Gesundheit“ pro 250.000 Einwohner ein Ambulatorium. Wien hat aktuell rund 1,9 Millionen Einwohner, bräuchte also statt drei Ambulatorien fast acht. So weit die Zahlenspiele.

Um den Mangel zu kompensieren, setzt die Gesundheitspolitik nun auf den Ausbau des stationären Bereichs in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Doch sind Betten das Allheilmittel für psychisch kranke Kinder?

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„Ein Bett heilt keinen Patienten“

Wir haben mit dem ärztlichen Leiter des Landeskrankenhauses Leoben, Reinhold Kerbl, über den Ausbau von stationären Plätzen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesprochen. In dem von ihm geführten Spital gibt es derzeit zwölf Plätze, also Betten, auf der psychosomatischen Station. Daneben hat die tagesklinische kinderpsychiatrische Einrichtung Platz für acht Kinder und Jugendliche. Was hält der Arzt vom aktuell forcierten Betten-Ausbau?

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Laut dem Arzt gibt es aber Krankheiten, bei denen ein stationärer Aufenthalt notwendig ist. Dazu zählen bei Kindern und Jugendlichen schwere Depressionen, bei denen eine Suizid-Gefährdung gegeben ist, und Patienten, die in ihrer Familie nicht sicher sind. Tatsächlich finden in Österreich die meisten Behandlungen im stationären Rahmen statt. In Wien etwa ist die Quote mit knapp 90 Prozent besonders hoch, in Niederösterreich werden zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen stationär behandelt.

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Aber was hält Kerbl von der Theorie, dass hinter den häufigen stationären Aufnahmen in Österreich in Wahrheit finanzielle Interessen der Krankenhausträger stehen? Immerhin bringen stationäre Aufenthalte den Spitälern mehr Geld als ambulante Leistungen. Im Bundesschnitt ist ein Spitalsbett in der Kinder- und Jugendpsychiatrie pro Tag 770 Euro wert. Ein Nachmittag Betreuung in der Ambulanz jedoch nur 280 Euro.

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Einen Ausweg aus der stationären und ambulanten Unterversorgung sieht der Arzt in Leoben in der Stärkung von präventiven Maßnahmen. „Das Versorgungsproblem muss man lösen, indem man die Prävention verstärkt, indem man diese Krankheiten gar nicht entstehen lässt“, sagt Kerbl. Er spricht in diesem Zusammenhang auch die zunehmenden Probleme mit modernen Krankheitsbildern an, die etwa durch Cybermobbing entstehen. Hier fordert der leitende Arzt einen aufgeklärteren Umgang mit Sozialen Medien ein. Generell will Kerbl „jede Kinderabteilung durch psychosomatische Expertise verstärken“, um eine ganzheitliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen in der Zusammenarbeit der Fachleute im Spital garantieren zu können. 

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