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Die Kinderpsychiatrie für zu Hause
23. April 2019 Kinderpsychiatrie Lesezeit 7 min
In Österreich landen drei Viertel aller Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie in einer Station. In Deutschland versucht man den umgekehrten Weg: Junge Patienten werden im gewohnten Umfeld ihrer Familie betreut. Mit den Vorteilen von zufriedeneren Patienten, eingebundenen Angehörigen und geringeren Kosten.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Kinderpsychiatrie und ist Teil 2 einer 4-teiligen Recherche.

Nur wenige Gehminuten vom mittelalterlichen Stadtkern entfernt liegt im deutschen Ravensburg der Krankenhauscampus des „Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg“, kurz ZfP. Das Spital bietet auf allen Gebieten der Psychiatrie und Psychosomatik ein breites Hilfsangebot. In seinen Kliniken und Ambulanzen werden jährlich mehr als 17.000 Patienten stationär und 40.000 ambulant behandelt. Einer der Versorgungsschwerpunkte des ZfP ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

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Das „Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg“ im deutschen Ravensburg

Während Österreich weiter auf den Ausbau des stationären Bereichs setzt – schon jetzt werden fast drei Viertel aller Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär aufgenommen –, geht man in Ravensburg einen anderen Weg. Das Spitalsbett gilt hier – wenn es die Krankheit zulässt – als eine Station der Behandlung, die es gerade für Kinder zu vermeiden gilt. Neben 30 stationären und zehn tagesklinischen Plätzen gibt es am ZfP 16 Plätze im sogenannten „Hometreatment“. Diese Form der Behandlung zu Hause wurde von der Hamburgerin Isabel Böge ins Leben gerufen und gilt als Herzstück der modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ravensburg.

Im Rahmen ihrer Arbeit verfolgt die Psychiaterin seit acht Jahren ein zentrales Ziel: Psychisch kranke Kinder in ihrer gewohnten Umgebung zu behandeln. Die Idee stammt aus England, wo bereits seit 40 Jahren mit mobilen Psychiatrie-Teams Patienten daheim besucht werden. Im Jahr 2011 importierte Böge das System in ihr Heimatland, seitdem können psychisch kranke Kinder daheim, mitten in ihrer Familie, betreut und behandelt werden.

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Isabel Böge, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie

„Zu Beginn gab es Sorgen“

„Natürlich gab es zu Beginn unseres Programms Sorgen“, sagt Böge. „Vor allem Fachkollegen hatten die Angst, dass wir ihnen die Betten wegnehmen.“ Diese Sorgen seien heute vergessen. Das Hometreatment-Modell BeZuHG, was für „Behandelt Zu Hause Gesund werden“ steht, ist nach einer breit angelegten Evaluierung etabliert, kann seit einer Gesetzesreform 2017 in Deutschland bundesweit angeboten werden, und ist seit dem Vorjahr auch mit den Krankenkassen abrechenbar. Sprich, die Behandlung stellt für die betroffenen Familien keine finanzielle Belastung mehr dar.

Mittlerweile bietet man am ZfP zwei verschiedene Varianten an: Das Hometreatment BeZuHG (zehn Plätze) ist eine Nachbetreuung nach einer stationären oder ambulanten Versorgung, die jungen Patienten werden zwei- bis dreimal in der Woche daheim behandelt. Beim intensiveren Hometreatment StäB (Stationsäquivalente Behandlung) gibt es sechs Plätze. Kinder und Jugendliche werden dabei täglich, auch am Wochenende, zu Hause besucht und behandelt. Ein stationärer Aufenthalt ist dafür nicht Voraussetzung.

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So funktioniert die Behandlung daheim

Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 18 Jahren und deren Familien erfahren eine intensivierte ambulante Behandlung, zu Hause werden sie von Ärzten und Therapeuten behandelt und begleitet. Grundsätzlich können alle psychiatrischen Krankheitsbilder behandelt werden. Hometreatment bezieht dabei das komplette Umfeld des Kindes in die Therapie mit ein, Eltern können sich in die Behandlung einbringen und erhalten Unterstützung und Anleitungen in oft schwierigen Alltagssituationen. Je nach Modell finden Behandlungen vor Ort zwei- bis dreimal die Woche oder täglich statt.

Der erste Kontakt für den jungen Patienten ist dabei die Ambulanz am ZfP-Spitalscampus. Nach einem Vorgespräch wird entschieden, ob das Kind oder der Jugendliche für eine Behandlung daheim geeignet ist, und ob vorab ein stationärer Aufenthalt nötig ist. Gemeinsam mit der Familie wird dann ein individueller Behandlungsplan erstellt. Miteinbezogen werden dabei auch die interdisziplinären Fachleute im Team von Isabel Böge. Sie bieten neben einer psychiatrischen und psychologischen Behandlung auch Gesprächstherapien, Ergo- und Musiktherapien, soziale Kompetenztrainings oder erlebnispädagogische Aktivitäten wie Bogenschießen und Reiten an.

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Max wird im Kinderzimmer therapiert

Addendum hat das interdisziplinäre Betreuungsteam beim Erstellen eines Behandlungsplans für einen jungen Patienten begleitet. Der zwölfjährige Max kam mit seinen Eltern in die Ambulanz, weil er zunehmend Schwierigkeiten im Alltag hatte. „Er stört in der Schulklasse, kann sich schlecht konzentrieren, es hörte sich erst nach einem normalen ADHS an“, erklärt Böge den Fall. Max war zuvor bereits bei einem niedergelassenen Arzt in Gruppentherapie, tat sich jedoch schwer, dem Programm zu folgen und wurde deshalb an das ZfP verwiesen. „Die Eltern schilderten uns, dass sie Schwierigkeiten haben, Regeln einzufordern und dass es nicht so einfach sei, ihn aus Wutanfällen wieder rauszubekommen.“

Das Betreuungsteam machte einen Lokalaugenschein vor Ort in der Familie. Er ergab, dass sich das Haus für eine Betreuung daheim gut eigne. Dort hat Max ein eigenes Kinderzimmer, in dem Einzeltherapiegespräche funktionieren können. Therapeuten und Erzieher des Hometreatment-Teams haben auch bereits Gespräche mit den Eltern vor Ort geführt, ausgelotet, in welchen Situationen sie mit Max überfordert sind, wo sie Hilfestellungen brauchen. Nun wird mit den Eltern über eine Familientherapie beratschlagt und parallel dazu der Medikationsplan für Max diskutiert. Auch eine ergänzende Kunsttherapie wird dabei in Erwägung gezogen.

Sollte das Hometreatment wie bei Patient Max direkt nach einer ambulanten Betreuung des Kindes erfolgen, sieht der Patient im Prinzip das Spital nicht mehr. Außer er nimmt am Bogenschießen teil – denn das erlebnispädagogische Programm wird im weitläufigen Park des Krankenhauses angeboten.

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Reden, Malen, Bogenschießen

Addendum wollte in Ravensburg noch mehr vom interdisziplinären Team erfahren. Seine Mitglieder sind es schließlich, die das Hometreatment ausmachen. Jeder einzelne Experte im Team betreut mit seinen Methoden den Patienten, gemeinsam bildet sich dadurch eine ganzheitliche Behandlung. „Wir gucken auch, was die Familie braucht“, sagt Valerie Veser, Psychologin und systemische Familientherapeutin im Team. „Da geht es zum Beispiel darum, ob Elterncoaching wichtig ist oder ob wir uns auf die Einzeltherapie mit dem Kind konzentrieren. Wie sprechen auch darüber, ob wir Ergotherapie brauchen, ob wir Erlebnistherapie in den Behandlungsplan einbauen – je nach Patient und familiärer Situation.“

Zu den Therapie-Stunden vor Ort in der Familie fahren die Teammitglieder meist zu zweit. Heute ist Psychologin Veser mit Paul Henkel unterwegs. Der Krankenpfleger und Familientherapeut meint: „Bei der Betreuung daheim gibt es mehr Eindrücke als auf der Station. Es entsteht ein Bild, das wir dann im Team besprechen. Es kristallisiert sich dadurch heraus, was der Familie hilft und nützt, weil wir es praktisch vor Ort erleben.“ Das Kind oder der Jugendliche wird in seiner vertrauten Umgebung behandelt und betreut. Gerade bei Patienten mit Angststörungen, die sich oft nicht mehr aus dem Haus trauen – auch nicht in die Schule, sei diese vertraute Umgebung während der Behandlung wichtig, erklären uns die Fachleute. Außerdem seien so mehr Familien dazu zu bewegen, ihr Kind behandeln zu lassen. Denn immer mehr Eltern, für die eine stationäre Behandlung ihres Kindes nicht infrage käme, würden zum Hometreatment „Ja“ sagen.

Die Breite des interdisziplinären Teams zeigt sich dann in den Behandlungsangeboten, die über die klassische Psychiatrie und Psychotherapie hinausreichen: So versucht man in Ravensburg über Kunsttherapie Patienten dazu zu bewegen, sich übers Malen und Zeichnen auszudrücken, wenn es verbal Schwierigkeiten gibt. Spannend ist auch das Behandlungsprogramm in der Erlebnispädagogik. Hier versucht Thomas Fischer „alle Kinder wieder nach draußen zu bringen. Die meisten möchten auch dorthin, wissen aber nicht mehr, wie das geht. In einen Wald gehen, auf einen Baum klettern. Viele sitzen nur noch vor dem Computer.“ Fischer kennt beide Varianten der Betreuung von jungen Psychiatrie-Patienten: Er war schon am ZfP, als es Hometreatment noch nicht gab. „Ich habe damals stationär als Krankenpfleger gearbeitet“, erzählt er. „Beim Hometreatment sehen wir jetzt die Familie fast jeden Tag. Wir wissen, wie es zu Hause aussieht, wie die Eltern kommunizieren. Diese Dinge fallen auf der Station nicht auf.“

Hometreatment ist günstiger als stationärer Aufenthalt

Aber was ist denn nun der Vorteil der Arbeit mit den Patienten daheim? „In der Familie ist viel mehr sichtbar“, sagt Psychiaterin Böge. Und die Familie nehme diese Art der Behandlung auch gut an, die Eltern seien „zufriedener“, habe die Evaluierung des BeZuHG-Modells ergeben. Weiters, so steht es im Evaluierungsbericht, zeigen Patienten gleich gute Behandlungsergebnisse wie die stationäre Vergleichsgruppe bei gleichzeitig signifikanter Reduktion der stationären Verweildauer. Die Kommunikation in der Familie und das Problemverständnis verbessern sich, der Patient selbst wird in seiner Persönlichkeit gestärkt. 70 Prozent der BeZuHG-Familien würden sich laut Evaluierungsbericht wieder für die häusliche Betreuung entscheiden. 46 Prozent der Kontrollgruppe mit stationären Patienten würden künftig BeZuHG wählen.

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Isabel Böge erklärt auch den Kostenfaktor. Für einen Hometreatment-Patienten erhält ihr Spital 320 Euro am Tag. „So viel kostet auch die ambulante Betreuung“, sagt die Ärztin. Zum Vergleich: Der stationäre Patient kostet 455 Euro am Tag. Das heißt: Hometreatment erzielt mit geringeren finanziellen Ressourcen mit gleicher Leistung gleich gute Ergebnisse wie der stationäre Aufenthalt. Das Krankenbett im Spital sei aber trotzdem in vielen Fällen unverzichtbar. So komme „bei akuter Suizid-Gefährdung nur die stationäre Aufnahme infrage“, sagt Böge. Aber auch nach einem stationären Aufenthalt kann die weitere Behandlung im Hometreatment erfolgen. Bei Entscheidungen über die Behandlung bezieht das Team des ZfP immer die Familie mit ein, denn so Böge: „Sie spielt die wichtige Rolle bei der Heilung.“

Gab es bei der Einführung des Hometreatments eigentlich Bedenken? Ja auf jeden Fall, wir fragten uns wie wir angenommen werden, sagt ein Mitglied des Teams rund um Isabel Böge. Die Leiterin ergänzt: „Familien fragten mich zum Beispiel, ob unsere Team-Autos Psychiatrie-Aufkleber haben, weil sie Angst vor dem Gerede der Nachbarn hatten.“

Heute seien diese Ängste aber überwunden. „Wir werden gut angenommen, wir sind willkommen.“

Aufkleber haben die Autos übrigens nicht. 

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