Man muss nicht einmal über die Grenze blicken: Der österreichische Ökonom und – in erster Linie – Sozialstaatsverfechter Stephan Schulmeister malt in seinem Buch Der Weg zur Prosperität ein dunkles Bild vom grausamen System, aus dem endlich ein Ausweg gefunden werden müsse: „Auch die Lage der meisten kleinen und mittleren Unternehmer hat sich im Finanzkapitalismus verschlechtert. Am Ende einer Sackgasse muss man neue Wege suchen. Die Zeit ist reif für einen Frontalangriff auf die herrschende Theorie.“ Interessant ist diese Aussage deshalb, weil, um der Wahrheit die Ehre zu geben, es noch nie, also tatsächlich niemals, ein sozialistisches System gab, das Menschen tatsächlich in die Prosperität führte. Muss man den Kapitalismus also tatsächlich überwinden?
Nein, meint Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier in seinem Buch Sozialer Kapitalismus und fordert von Unternehmen, dass sie sich nicht nur dem Profit, sondern auch der Gesellschaft an sich verpflichtet fühlen müssen. Es mangelt ihm momentan an einer gesellschaftlichen Verbundenheit. An diesem Mangel sei zwar nicht der Kapitalismus per se schuld, es gäbe davon allerdings auch eine „sanftere Version“. Das Problem, so Collier, sei auch, dass die Elitenbildung und der damit einhergehende Hochmut vor allem des urbanen Raums eine geteilte Identität heraufbeschwöre, der man nach seiner Vorstellung durch eine höhere Besteuerung der urbanen Eliten entgegenwirken sollte.
Dieser Angriff auf gebildete junge Menschen und die Forderung nach Rückbesinnung auf eine gemeinsame Identität geht dem Journalisten Paul Mason, seinerseits Autor des Buches Postkapitalismus, zu weit; er bezeichnet Collier deshalb als „moral economist“ und kritisiert, dass dieser die Ursprünge des Zerfalls der Gesellschaft, anders als Mason selbst, eben nicht im kapitalistischen System sieht.
Colliers Verlangen nach sozialer Wärme und Verbundenheit setzt der Historiker Werner Plumpe sein Buch über die Geschichte des Kapitalismus Das kalte Herz entgegen. Der Titel entspricht Plumpes Ansicht, nach der Kapitalismus in seiner Dynamik zu Recht unbarmherzig sei, da er nur nach ökonomischen und nicht nach sozialen, ethischen, politischen oder ästhetischen Gesichtspunkten zu bewerten ist. Auch er knüpft an die prominente Meinung, der Kapitalismus sei nichts als schurkisch, fördere Gier, Profitsucht und Maßlosigkeit, an und fragt sich indes, wie es zu dieser Verunglimpfung kommen konnte. Es war letztlich der Kapitalismus selbst, der arme Menschen vom Knecht zum Kunden machte, da „der Kern und die Bedingung der kapitalistischen Massenproduktion die Nachfrage der nichtvermögenden Menschen ist“.
Plumpe plädiert nicht für einen entgrenzten, unkontrollierten Kapitalismus – es sei die Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen, wie die Garantie des Privateigentums und den Erhalt stabiler Märkte, sicherzustellen; ein besseres System als den Kapitalismus gebe es momentan schlicht nicht.
In diesem Sinne argumentiert auch der Historiker Rainer Zitelmann in Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Er lässt einfach die Geschichte sprechen, die zeigt, dass Kapitalismus sich gegenüber dem Sozialismus weltweit durchgesetzt hat. Einen kritischen Blick wirft er auf Venezuela, das Land, das momentan der Welt zeigt, was beherzter Sozialismus anrichten kann.
Das Scheitern des Sozialismus führt Zitelmann darauf zurück, dass er ein von Intellektuellen erdachtes System sei, das sich in der Praxis als nicht umsetzbar erweist. Der Kapitalismus hingegen sei eine Wirtschaftsordnung, die sich evolutionär entwickelt hat – er habe außerdem den Erfolg des Überlebens auf seiner Seite. Insbesondere Intellektuelle, die sehr häufig einen radikalen Antikapitalismus vertreten, stehen bei Zitelmann in der Kritik. Er findet die Gründe dafür einerseits schlicht in ihrem schlechten Gewissen gegenüber Unprivilegierten (als deren Interessenvertreter sie sich darstellen) aber andererseits auch in deren Arroganz: Intellektuelle könnten nicht verstehen, wie ein Unternehmer, der nicht halb so viele Bücher gelesen hat, wie sie selbst, sehr viel Geld verdienen kann – weil er sich am Markt behauptet. „Dass der Kapitalist aber nur dann reich wird, wenn er mit seinen Produkten und Dienstleistungen die Bedürfnisse einer Großzahl von Konsumenten befriedigt, wird dabei geflissentlich übersehen.“
Zum Beispiel so, wie es Wolf Lotter in seinem Buch Zivilkapitalismus formuliert. Für ihn ist Kapitalismus die Möglichkeit, jedermanns Unabhängigkeit zu garantieren, so er es schafft, die Ökonomie als Werkzeug der Emanzipation zu benutzen: Wissen und Know-how sei das Wichtigste, das Kapital jedes Einzelnen. Zivilkapitalisten würden also selbst zum handelnden Akteur, unabhängig und frei. Das ist natürlich für die, die momentan Macht und Deutungshoheit besitzen (wie bei Zitelmann: die Intellektuellen), eine Bedrohung ihres Habitats.
Der allgemeinen Verteufelung des Kapitalismus als System kann auch Lotter nichts abgewinnen. Die Einteilung in Gut und Böse funktioniere so einfach nicht: Es gibt ihn nicht, „den“ Kapitalismus, es handelt sich vielmehr um eine Dynamik, wie auch Plumpe betont. Lotter verlangt also nichts weniger als selbstermächtigendes und selbstverantwortliches Handeln jedes Einzelnen, weiß dabei aber selbst, dass „diese Freiheit noch geübt werden muss“.
Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.
Collier, Paul: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft. München 2019
Lotter, Wolf: Zivilkapitalismus. Wir können auch anders. München 2013
Mason, Paul: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Berlin 2016
Plumpe, Werner: Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin 2019
Schulmeister, Stephan: Der Weg zur Prosperität. Wals bei Salzburg 2018
Zitelmann, Rainer: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. München 2018