Die Sozialdemokratie stellt, wie der Name schon sagt, einen Anspruch auf das Soziale: Damit ist, sagt der Philosoph Axel Honneth, das Verlangen gemeint, alle sozialen Hindernisse, die einer Freiheit im solidarischen Füreinander entgegenstehen, zu beseitigen. Das Versprechen ist also Solidarität – oder besser gesagt: Das Verlangen ist Solidarität. Ein Wort, das das Wahlvolk nicht mehr zu überzeugen vermag – warum eigentlich?
Der Soziologe Heinz Bude gibt in Solidarität – Die Zukunft einer großen Idee eine mögliche Antwort: „Die glühenden Verfechter der Solidarität kommen heute zumeist nicht mehr von links, sondern von rechts. Sie meinen exklusive Solidarität, die mit Mauern geschützt und durch Kultur behauptet wird. Solidarität zuerst für uns und unter uns, dann für die und jene da draußen.“ Weshalb schafft es also die politische Linke nicht mehr, dieses Wort mit ihren Werten zu besetzen? Mit Zwang wird es jedenfalls nicht funktionieren, so Bude, bleibt aber letztlich optimistisch: „Solidarität kann man weder durch Argumente moralisch erzwingen noch als Therapie für ein verwundetes Ich empfehlen. (…) Die Solidarischen machen sich nichts vor, sie finden sich zusammen, um den Beweis zu erbringen, dass wir zusammen weitermachen können und ich nicht aufgeben muss.“
Es ist ein Punkt, dass es „die Arbeiterschaft“, die Ur-Wählerklientel der Sozialdemokratie, so nicht mehr gibt. Seither ist die Sozialdemokratie laut Honneth stetig auf der Suche nach einem neuen kollektiven Träger der eigenen Theorie, der sozialistischen Ideale. Das sei allerdings der falsche Weg, da man sich so stets am Flüchtigen zu orientieren habe, dem sich immer rascher vollziehenden Wandel der Umstände sei so nicht beizukommen. Es sollten vielmehr alle Bürger als potentielle Adressaten sozialdemokratischer Inhalte begriffen werden, sofern sie davon überzeugt sind, dass solidarisches Zusammenwirken zum Besten aller funktioniere; der Fokus dürfe nicht mehr auf einzelnen sozialen Bewegungen liegen. Dem schließt sich auch der Philosoph Slavoj Žižek, eine kulturelle Ikone der Linken, an:
Und genau das sei das Problem. Schwachstelle der westlichen Linken ist demnach das Fehlen des „revolutionären Subjekts“; das Outsourcen auf revolutionäre Ersatz-Akteure wie beispielsweise Flüchtlinge funktioniert so auch nicht. Das Proletariat sei vielmehr dreigeteilt: Geistesarbeiter, Arbeiter und Ausgeschlossene. „Der alte Ruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch““ ist für Žižek daher wichtiger denn je: Unter den neuen Bedingungen des „post-industriellen“ Kapitalismus ist die Einheit der drei Fraktionen der Arbeiterklasse bereits ein Sieg.
Die reine Bindung der sozialdemokratischen Idee an die ökonomische Sphäre geht Honneth allerdings zu wenig weit: Die soziale Freiheit müsse auf andere gesellschaftliche Sphären, die politische Willensbildung und die persönlichen Beziehungen, übertragen werden: „(…) und um wie vieles genauer würde es dem veränderten Konfliktbewusstsein der Gegenwart entsprechen, machte man sich zum moralischen Anwalt von Freiheitserweiterungen nicht nur in den Produktionsverhältnissen, sondern auch in den persönlichen Beziehungen und in den politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten.“ Ziel wäre, dass jedermann seine subjektiven Vorstellungen in die Gesellschaft einbringen kann, Bedürfnisse und Interessen sollen ungehindert artikuliert werden können, weit über den „ökonomischen Determinismus“ hinaus.
Etwas anders sieht das Nils Heisterhagen, Publizist und ehemaliger Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz. Er beteuert in Die liberale Illusion, dass die Misere der Sozialdemokratie sich darin manifestiere, dass diese sich in den letzten Jahren zu sehr auf postmoderne Identitätspolitik und zu wenig auf die soziale Frage fokussiert habe. Dies sei letztlich kein demokratischer Sozialismus mehr, sondern nur noch „eine nette Form des Neoliberalismus“. Die Identitätspolitik linker Akademiker interessiere sehr viele (frühere) Wähler einfach nicht, sie würden lieber realistische Lösungen für beispielsweise Migrations- und Integrationspolitik hören – da reicht die Proklamation von Werten nicht mehr.
Heisterhagen schwebt eine Änderung des sozialdemokratischen Kurses in dem Sinne vor, dass sie sich für einen neuen Realismus und einen systemkritischen Populismus entscheiden soll. Dass es auch jetzt schon nicht nur rechten, sondern auch linken Populismus gibt, hielt die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe nicht davon ab, das Plädoyer Für einen linken Populismus zu verfassen. Ihre Forderung, das „populistische Moment“ für die Linke zu nutzen, begründet sie aber genau mit dem, was von Heisterhagen aufs Schärfste verurteilt wird: mit liberalem Moralismus. Mit der Aussage nämlich, linker Populismus sei dazu geeignet, die Demokratie wiederherzustellen, allein aus dem Grund, weil er von linker Seite kommt – und nicht von rechter, also böser Seite – legt sie offen, dass hier letztlich nur Feuer mit Feuer bekämpft werden soll.
Diese moralingetränke Politik der Linken kritisiert auch der Dramaturg Bernd Stegemann, der 2018 gemeinsam mit Sahra Wagenknecht die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ initiierte. In Die Moralfalle – Für eine Befreiung linker Politik legt er der linken Politik ans Herz, sich wieder auf ihre Kernwerte zu fokussieren: „Die Beschäftigung mit allen ethnischen und sexuellen Minderheiten verspricht seit Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit als die uncoole Klasse der Armen.“ Wie Heisterhagen macht er dafür die Vereinnahmung durch die Strategien und Ziele des Neoliberalismus verantwortlich. Die Identitätspolitik, die momentan die linke politische Debatte vorwiegend beherrsche, zahle eben nicht auf das ursprüngliche Ziel, die Gesellschaft der Gleichen, ein: „Das identitätspolitische Paradox besteht darin, dass eine Gleichberechtigung dadurch hergestellt werden soll, dass einzelne Gruppen anhand ihrer religiösen, ethnischen, geschlechtlichen, sexuellen oder kulturellen Eigenarten herausgehoben werden. Gleichheit wird also durch eine Betonung der Ungleichheit behauptet.“ Laut Stegemann steht die linke Erzählung – er bezieht sich auf Deutschland – zwischen der düsteren Beschreibung der Lange seitens der Rechtspopulisten (vor allem in Bezug auf die Flüchtlingskrise von 2015) und der liberal-populistischen „Wir-schaffen-das“-Politik und hat es bis jetzt nicht geschafft, sich ernsthaft zu positionieren: „Der Niedergang der Sozialdemokratie ist nicht nur in Deutschland, sondern europaweit eine Folge dieser Zwangslage.“ Dabei sei keiner der beiden Ansätze richtig, weil sie den Kern linker Politik aus den Augen verlören: „Die Kritik an der Ungleichheit der materiellen Lebensbedingungen.“
Der Politologe Ivan Krastev sieht in Europadämmerung den Kern der aktuellen Krise der Linken angesichts der Flüchtlingskrise im Widerspruch zwischen dem universellen Charakter der Menschenrechte und ihrer Ausübung im nationalen Kontext. Darüber hinaus sei die einst grundlegende Spaltung des politischen Spektrums in links und rechts so nicht mehr in der Lage, die Spannungen in der Gesellschaft abzubilden; wie auch Journalist und Autor David Goodhart schlägt er vor, eher in anderen Kategorien zu denken: den Anywheres und den Somewheres. Die Anywheres dominieren unsere Kultur und Gesellschaft. Sie sind hochqualifizierte Bürger, die überall arbeiten können; neuen Orten und Menschen begegnen sie mit Zuversicht.
Die Somewheres hingegen sind konservativer, bodenständiger und durch ihre weniger qualifizierte Arbeit oftmals an einen Ort gebunden. Sie haben gewöhnlich eine zugeschriebene Identität, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und einer bestimmen Region basiert, weshalb sie raschen Wandel meist beunruhigend finden. Die Konflikte zwischen diesen beiden Gruppen, schreibt Krastev, also zwischen Globalisten und Nativisten, zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften, prägen die politische Identität der Wähler inzwischen mehr als reine Klassenzugehörigkeit. Das liegt auch daran, so Goodhart, dass den Somewheres, obwohl sie, wenn man die Gesamtbevölkerung betrachtet, in der Überzahl sind, in den letzten Jahren zu wenig Beachtung geschenkt wurde, mit fatalen Folgen: „The Anywheres have counted for too much in the past generation – their sense of political entitlement startlingly revealed after the Brexit and Trump votes – and populism, in is many shapes and sizes, has arisen as a counter-balance to their dominance throughout the developed world. It can be a destructive counter-balance, but if we are to be tough on populism we must be tough on the causes of populism too – and one of those causes has been Anywhere overreach.”
Problematisch ist also, dass die aktiven linken Politiker überwiegend Anywheres, die (angesprochenen) Wähler allerdings Somewheres sind – mit Konsequenzen: „This has set up a possibly fatal dynamic for the centre-left throughout Europe. As white working class Somewheres are alienated by the louder Anywhere voice on the centre-left, or are lured away by populist parties, the liberal Anywhere/ethnic minority influence and voter base gets even bigger on the centre-left, further alienating the white working class Somewheres, and so on.
Schwere Zeiten also für die Linke. Fast alle Kritiker beziehen sich dabei auf rezente postmoderne Entwicklungen, die den linken Ursprungsgedanken der Solidarität und Gleichheit nicht mehr genügten – eine valide Analyse. Oder, um es mit Slavoj Žižek zu sagen: „Postmodern deconstructivists are the useful idiots of capitalism.“
Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.
Bude, Heinz: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München 2019
Douzinas, Costas/Žižek, Slavoj: Die Idee des Kommunismus. Band I. Hamburg 2012
Goodhart, David: The Road to Somewhere. The New Tribes Shaping British Politics. London 2017
Heisterhagen, Nils: Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen. Bonn 2018
Honneth, Axel: Die Idee des Sozialismus. Berlin 2017
Krastev, Ivan: Europadämmerung. Berlin 2017
Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus. Berlin 2018
Stegemann, Bernd: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin 2018
Žižek, Slavoj: Das kommunistische Manifest. Frankfurt 2018