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Gesinnung schlägt Argument
12. Juli 2019 Randnotizen Lesezeit 7 min
Die einfachste Möglichkeit, eine Debatte im Keim zu ersticken, ist, die Trumpfkarte der Moral zu zücken: Der Moralist behauptet zu wissen, was gut und was böse ist, sein Anspruch ist absolut. Immer häufiger lässt sich beobachten, wie die Moral sich in der Politik zum Moralismus wandelt. Und das ist wirklich kein schöner Anblick.
Bild: Addendum

Es sei jetzt wirklich genug mit Moralismus in der Politik, schreibt der Soziologe Harald Welzer. Nämlich auf beiden – oder eher: allen – Seiten des politischen Spektrums: Linke wie Rechte können sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Diskurs besinnen, der Vorwurf der Hypermoralisierung liegt in der Luft. Diesem Moralismus haftet also in der Tat etwas Überparteiliches an, da ganz im Sinne moralischer Überlegenheit jede Seite von sich behauptet, zu wissen, was gut ist – und was nicht. Welche Dosis Moral ist im politischen Geschehen vertretbar oder notwendig? Wäre es nicht sinnvoller, Politiker würden gänzlich darauf verzichten?

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Moralische Grüppchenbildung

Dieser Meinung war der florentinische Philosoph Niccolò Machiavelli schon im 16. Jahrhundert, weshalb er sich für eine strikte Trennung von Moral und Politik aussprach. Seiner Auffassung nach liegt es an der Gesellschaft, sich moralisch zu verhalten. Dazu muss man zunächst fragen: Welche moralischen Vorstellungen teilt eine Gesellschaft? Der Psychologe Jonathan Haidt erklärt in seinem Buch The Righteous Mind, warum Menschen grundsätzlich durch Religion und Politik getrennt werden. Das ergibt sich nicht daraus, dass manche gut und manche schlecht sind, sondern daraus, dass Menschen sich in Gruppen organisieren. Moralische Intuition spielt eine wichtigere Rolle als Rationalität, weshalb es eines weiteren Schrittes bedarf, sich Menschen, die andere (moralische) Vorstellungen haben, anzunähern.

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Morality binds and blinds
Jonathan Haidt

Ohne Moral können Menschen nicht leben, durch sie sind Menschen aber auch an ihres – Geistes – gleichen gebunden. Haidt geht außerdem davon aus, dass Werte – quer durch die Geschichte und Kultur – divergieren: „Beware of anyone who insists that there is one true morality for all people, times, and places – particularly if that morality is founded upon a single moral foundation.“ Es gäbe aber durchaus bestimmte moralische Grundlagen, die allen Menschen eigen sind, Haidt zählt ihrer sechs: Fürsorge, Fairness, Freiheit, Loyalität, Autorität, Reinheit. Nun decken aber nicht alle politischen Parteien all diese moralischen Grundlagen in ihrem Programm ab; mit Haidt tendiert die politische Linke dazu, sich auf die drei Wertesysteme Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu fokussieren. Konservative hingegen sprächen alle sechs vorhin genannten Wertesysteme an, was ihnen natürlich ein breiteres Angebot für die Wähler ermöglicht. Linke würden Freiheit und Autorität oft als Antipoden missinterpretieren, wohingegen Konservative die Notwendigkeit von Autorität, die Freiheiten nicht missachtet, anerkennen.

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Unmoralische Wahlangebote

Auch der deutsche Soziologe Niklas Luhmann beschreibt in seinem Buch Die Moral der Gesellschaft, dass es zwar einen universalen Code der Moral gäbe, die Inhalte aber nicht absolut seien: „Aber in der Frage der Kriterien, das heißt in der Frage, unter welchen Bedingungen es richtig oder unrichtig ist, etwas als gut bzw. schlecht zu bezeichnen, divergieren die Meinungen.“ Im Bewusstsein davon, dass Menschen sich an moralischen Wertesystemen orientieren, handeln Politiker, so Luhmann, unter der Zwangsvorstellung, dass Wähler in der politischen Wahl nach moralischen Kriterien entscheiden würden. Diese Annahme sei nicht überprüfbar und stehe eigentlich im offenen Widerspruch zu einem Grundpfeiler des demokratischen Systems: Soll der Wähler zwischen verschiedenen Parteien entscheiden, muss die Wahl moralisch offengelassen werden: „Jede Partei muss, wenn sie sich selbst als demokratisch vorstellen will, die Wählbarkeit anderer Parteien zugestehen.“ Obwohl die Kommunikation vieler Politiker hier also offenbar einem Grundpostulat der Demokratie widerspricht, würde dennoch niemand behaupten, unmoralische Politiker zu wollen; eine Moral der politischen Fairness wäre laut Luhmann eine Möglichkeit, bei der die sonstige Unabhängigkeit der Politik von moralischen Codes gewahrt werden könnte.

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Das politische System ist nicht für eine Kontrolle an Hand von moralischen Kriterien gedacht.
Niklas Luhmann

Das Bedürfnis der moralischen Kontrolle befriedigen die modernen Verwalter der Moral, die Massenmedien. Ergebnisse dieser Kontrollen münden häufig in Skandalen, wobei Luhmann problematisch findet, dass dabei nur auf Individuen gezielt wird und es damit zur Verstärkung der Überschätzung einzelner Personen im politischen System kommt.

Luhmann differenziert in seiner Darstellung des Moralisten als Problem nicht zwischen linkem und rechtem politischen Spektrum; das Beispiel, das er nennt, erlaubt indirekt dennoch die Vermutung einer stärkeren hypermoralischen Tendenz auf linker Seite, wenn er meint, Moralisten falle es ja niemals schwer, ihre Meinung zu begründen: „Wenn man sie zu belehren versucht, gerät man mit ihnen in Streit; denn sie gehen von ihrem Moralschema aus und sehen den, der auch nur wagt, nach einer Begründung für das Gutsein der Moral zu fragen, als jemanden, der die negative Seite ihrer Moral, also das Schlechte, also die Umweltzerstörung, also die Benachteiligung der Frauen ernsthaft in Betracht zieht.“ Eine Diskussion auf dieser Ebene ist sinnbefreit, da sie sich nur auf der Ebene von moralischer Naivität auf der einen und moralischem Zynismus auf der anderen Seite abspielt.

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Die große Empörtheit

In der Neuauflage seines Essays Politischer Moralismus stellt der Philosoph Herman Lübbe fest, dass sich eines nicht ändert: Politische Auseinandersetzungen enden immer häufiger in moralischer Diffamierung des Andersdenkenden: „Moralistisch in diesem Sinn ist die Argumentation ad personam“. Es geht also nicht darum, dem politischen Gegner mit Sachargumenten oder auch mit moralischen Argumenten zu widersprechen, sondern darum, sich über den anderen als Person zu empören, weil er es sich gestattet, eine wie auch immer geartete Meinung zu haben.

Insbesondere am Beispiel des Umwelt- und Klimaschutzes manifestiert sich, so Lübbe, der sich intensivierende Moralismus aus einem einfachen Grund: Wir sind nicht mehr von physischen, sondern von moralischen Übeln bedrängt, an deren Verursachung die Menschheit beteiligt ist. Daher wird nach Verantwortlichen gesucht, nach einem Zurechnungssubjekt; doch hier gerät dieser Gedanke an seine Grenzen, denn: „Es wäre lebensfremd zu sagen, dass irgendjemand sie herbeizuführen die Absicht gehabt hätte.“ Diese Sorgen also, die Lübbe Zivilisationslasten nennt, charakterisiert ihre Absichtslosigkeit; es hat wenig Sinn, darauf mit Empörung zu reagieren, weil so leicht eben kein Schuldiger dingfest gemacht werden kann.

Das eigentliche Problem der Gegenwart sieht Lübbe eher in der unbeherrschbaren Komplexität als in mangelhafter Moral; darauf anstatt mit pragmatischen mit moralistischen Argumenten zu reagieren, verschärft die Lage zusehends. Ein Ende dieser Argumentationslinie ist allerdings nicht in Sicht: Lübbe meint sogar, dass die Neigung zum Öko-Terror eher wächst. Was ihn vor allem verstört, ist, dass mit der Behauptung, durch die Industriegesellschaft sei der Frieden mit der Natur aufgekündigt worden, die härteste moralische Selbstanklage, die die Menschheit gegen sich selbst richten kann, im Raum steht: „Aber sie verzerrt den Blick auf die Kulturgeschichte durch romantisierende Verklärung der Naturmoral vorindustrieller Geschichtsepochen.“

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Obwohl die ökologischen Probleme sich nicht wirklich in ein politisches Links-Rechts-Schema einordnen lassen, sieht Lübbe bei den Moralisten unter den Kritikern eine unverkennbare Links-Drift. Das erklärt sich für ihn damit, dass das Faszinosum einer Gesellschaftsordnung, in der individuelle und kollektive Interessen identisch geworden sind, von linker Seite kultiviert wurde. Voll funktionsfähiger Sozialismus setzt demnach eine Durchmoralisierung des öffentlichen und privaten Lebens voraus, wohingegen liberalen Systemen daran gelegen ist, Menschen daran interessiert zu machen, etwas zu tun oder zu unterlassen, was das Gemeinwohl erfordert: „Es passt nicht ins Weltbild des Moralisten, dass, was er der Moral anvertraut wissen möchte, sich durch Entmoralisierung ungleich wirksamer bewerkstelligen lässt, und just dieses Faktum empört den konsequenten Moralisten mehr, als ihn die pragmatische Erledigung von Problemen je zu erfreuen vermöchte.“

Politischer Moralismus besteht für Lübbe also aus der Summe einiger Merkmale, insbesondere dem, dass er sich selbst zum Verstoß gegen Regeln des gemeinen Rechts und des allgemeinen moralischen Common sense ermächtigt, um unter Berufung auf das höhere Recht der eigenen, vermeintlich (moralisch) besseren Sache das Wort zu reden. Anstatt den Einzelnen dazu zu bewegen, auch aus Eigeninteresse etwas zu tun, das dem Gemeinwohl nicht schadet und rechtliche und ordnungspolitische Institutionen zu verbessern ginge es nur um Folgendes: „das appellative Bemühen, die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände über die Verbesserung moralischer Binnenlagen, durch pädagogische und sonstige Stimulierung guter Gesinnung zu erwarten.“

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Linke Einsicht

Nun gibt es in den Reihen der politischen Linken – zumindest in Deutschland – einige, die diese Kritik an übertriebener Moralisierung ernst nehmen und relativ vernichtende Selbstanalysen wagen: So geschehen in Bernd Stegemanns Die Moralfalle. Der Autor und Dramaturg, der 2018 gemeinsam mit Sahra Wagenknecht die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ initiierte, hält der – seiner – Linken den Spiegel vor: „Das linksliberale Denken ist fast vollständig mit einer paradoxen Anwendung der Moral verschmolzen.“ Dass diese „schönen Seelen“ immer mehr Zulauf finden, erklärt sich Stegemann – wie Lübbe – als fatale Reaktion auf die Komplexität unserer Welt. Die Pointe des Moralismus liegt für ihn darin, dass er zwar aus Orientierungslosigkeit folgt, aber irgendwie das Gefühl vermittelt, einen Ausweg zu bieten. Der Moralist sieht schließlich deutlich, wer die Guten und wer die Bösen sind – kommunikativ ist diese Botschaft einfach zu vermitteln, selbst wenn es dafür keine Grundlage gibt. „Dieser blinde Fleck macht die von der Ethik befreite Moral zu einer einfach und genussvoll anzuwendenden Art von Herrschaftskommunikation.“

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Moralismus ist der schlechteste Verteidiger der offenen Gesellschaft und der Demokratie.
Bernd Stegemann

Die Grünen zum Beispiel finden sich, wie Stegemann ausführt, gerade in einer paradoxen Situation wieder: Die einstige Protestpartei inszeniert sich, obwohl sie seit geraumer Zeit in der bürgerlichen Mitte angekommen ist, nach wie vor als Randgruppe, die auf die moralisierende Dringlichkeit der von ihr formulierten Forderungen angewiesen ist. Die also im Vergleich zu den anderen Parteien an sich nicht mehr gänzlich ohnmächtige Partei bedient sich dennoch der Mittel der Protest- bzw. Revolte-Partei, was aus dem an sich legitimen Mittel eine zudringliche Form der moralischen Bevormundung werden lässt. Ähnlich verhält es sich mit der ebenfalls der politischen Linken eigenen Essenz des utopischen Denkens. Die Hoffnung auf das Unmögliche, so Stegemann, ist moralisch plausibel, solange sie eine konkrete Handlungsoption ist; der Punkt sei aber überschritten: „Wird jedoch aus dem Unmöglichen eine resignative Besserwisserei, so wird auch aus der moralischen Verpflichtung, für das Unmögliche zu kämpfen, eine moralisierende Beurteilung.“

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Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.

Literatur

Haidt, Jonathan: The Righteous Mind. Why good people are divided by politics and religion. New York 2012

Niklas Luhmann: Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2008

Lübbe, Hermann: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Berlin 2019

Stegemann, Bernd: Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin 2018

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