Michael Schmidt-Salomon bemerkte in seinem Buch Jenseits von Gut und Böse, der kulturelle Erfolg der Kategorien „Gut“ und „Böse“ beruhe darauf, dass sie sich hervorragend zur Stabilisierung von Gruppen eignen; um genau zu sein: zu ihrer Abgrenzung vom „Fremden“. Ihm scheint ein Verzicht auf Moralismus zugunsten einer rationalen, säkularen Ethik nicht nur möglich, sondern zwingend notwendig. So sieht das im Kern auch Philipp Hübl, für den die Fixierung auf Moral und Politik, Werte und Normen so weit führt, dass die Wahrheit von manchen Menschen ihrer Agenda, also ihrer Ideologie, untergeordnet wird. Das und nur das bezeichnet Philipp Hübl in Bullshit-Resistenz als „postfaktischen Denkstil“.
Postfaktiker der Stunde, Robert Menasse, war sich – bis zu seiner etappenweisen Entschuldigung, die er durch dreiste Rechtfertigungen immer wieder ad absurdum führte – schließlich auch sehr sicher, dass man, wenn man das Gute vertritt, es schon auch einmal weniger genau mit den Fakten nehmen kann. Ähnliches geschah in den USA, wo eine Gruppe von Demokraten ein Experiment durchführte, indem sie nach russischem Vorbild durch die Verbreitung von Unwahrheiten auf Social Media den republikanischen Gegenkandidaten Roy Moore diskreditierten. Einer der Organisatoren, der Aktivist Matt Osborne, meinte gegenüber The Times, dass der moralische Imperativ ein solches Handeln erfordere, da einige von Trumps Proponenten ebenso gehandelt hätten.
Auch Parteien bedienen sich moralgetränkter Standpunkte. Potenziellen Wählern wird zu erklären versucht, dass man sie wählen sollte, will man der (Um-)Welt etwas Gutes. Dieser Anspruch gebiert mitunter Phrasen, denen nicht widersprochen werden darf, die Knock-out-Keulen der Moral quasi, die man hinzunehmen hat und die jede Debatte im Keim ersticken. 15 dieser Phrasen (von „Wir schaffen das“ über „Haltung zeigen“ und „Solidarität ist keine Einbahnstraße“ bis „Unser Reichtum ist die Armut der anderen“) hat sich Alexander Kissler in Widerworte – Warum mit Phrasen Schluss sein muss vorgenommen, um zu zeigen, dass es doch ab und zu ganz gut ist, auch das vermeintlich Gute zu hinterfragen. Dieses vermeintlich Gute manifestiert sich nämlich auch in Formulierungen, die von der Politik verwendet und durch die sozialen Medien verbreitet werden, bis sie tief in den Köpfen der Empfänger eingebrannt sind, scheinbar unwiderleglich.
Den Versuch der Widerlegung unternimmt Alexander Kissler erfolgreich. Ein Faden zieht sich durch die 15 Kapitel: „das heikle Wort des unscheinbaren Wir“. Oft moralisch aufgeladen, als Appell ausgesprochen, geht es stets um eine dem Wir abzufordernde Leistung, um einen kategorischen Moralbefehl (bspw. Wir alle müssen offen sein für den Dialog mit anderen Kulturen und Religionen). Wer hinterfragt oder zweifelt, soll sich schämen: „Weltanschauliche Differenz wird zur Moralstraftat.“
Dass wir in einer Zeit der Hypermoralisierung leben, führt Alexander Grau in Hypermoral – Die neue Lust an der Empörung darauf zurück, dass nach dem Niedergang der traditionellen Religionen die Moral selbst zur Ideologie wurde: „So wird aus der Moral der Moralismus.“ Dadurch entsteht ein Perpetuum mobile: „Als moralisch gilt das, was aufgrund moralischer Erwägungen als moralisch gilt“. Aber wir leben doch im Zeitalter der Aufklärung, klagt die Vernunft. Wer allerdings schon einmal probiert hat, die Möglichkeiten der Gentechnologie für Mensch und Natur zu diskutieren, ist in massenmedialer Empörungsmanier schneller des Teufels, als er die Kompromisslosigkeit der Moralapologeten fassen kann, so Alexander Grau: Es ist ein Kampf entbrannt, ein Kampf um die öffentliche Meinung, der hauptsächlich mit den Waffen der Emotionalisierung geführt wird.
Wie käme man nun also zurück zur sachlichen Diskussion? Der erste Schritt wäre wohl, sich der Lage bewusst zu werden. Und zwar besser jetzt als später, denn der neue Moralismus kennt auch keine zeitlichen Grenzen. Muss jegliches menschliche Schaffen an neuen moralischen Maßstäben gemessen werden, auch wenn es um mutmaßliche rassistische Äußerungen in alter Literatur oder um frauenfeindliche Darstellungen in Werken der bildenden Kunst geht? Ob die Kunst denn dann eigentlich noch frei ist, fragt sich Hanno Rauterberg in Wie frei ist die Kunst?: „Nun aber sind es nicht Staat und Obrigkeit, die der Kunst strenge Grenzen setzen wollen. Es sind Kräfte, die sich selbst oft als links und progressiv begreifen und über Jahrzehnte für die Liberalisierung der Künste eingetreten waren.“
Die Krise des Liberalismus offenbart sich, wo die Freiheit der Kunst dem Streben nach politischer Korrektheit zu weichen hat. „Wohliges Einverstandensein“ triumphiert, wo Verträglichkeit zum einzigen Gradmesser wird. Und es sind Minderheiten, so Hanno Rauterberg, die sich auf ihre Ängste und ihre unguten Gefühle berufen, um Kunstschaffen einzuschränken. Im Namen des Fortschritts stellt sich das Besondere gegen das Allgemeine: die Kunst soll auf Partikularinteressen Rücksicht nehmen, nicht an ihr eigenen, sondern an gesellschaftlichen Maßstäben gemessen werden.
Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen Überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.
Grau, Alexander: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. München 2017
Hübl, Philipp: Bullshit-Resistenz. Berlin 2018
Kissler, Alexander: Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss. Gütersloh 2019
Rauterberg, Hanno: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Berlin 2018
Schmidt-Salomon, Michael: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. München 2012