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Konservatismus, eine Metapher für Erschöpfung
12. Mai 2019 Randnotizen Lesezeit 5 min
Durch die Verlagerung der politischen Debatte an die Ränder des politischen Spektrums verlieren die Parteien der Mitte an Bedeutung. Populistische Strömungen befinden sich im Höhenflug, die Sozialdemokratie im Wachkoma. Übersehen wird dabei häufig ein weiterer Patient: der Konservatismus. Der stupidest party, um es mit John Stuart Mill zu sagen, geht es nämlich auch nicht gut.
Bild: Addendum

Um ganz genau zu sein, muss Mill in voller Länge zitiert werden: „Although it is not true that all Conservatives are stupid people, it is true that most stupid people are Conservative.” Dass diese Feststellung nicht viel und schon gar nicht alles über den Konservatismus aussagt, liegt auf der Hand. Doch was ist heute konservativ? Und: Bestimmt sich diese Definition über Inhalte, oder handelt es sich dabei um eine Denkform?

Totgesagte leben länger

Das fragt sich auch der Historiker Andreas Rödder in seinem neuesten Buch, Konservativ 21.0. Geht man davon aus, dass es beim Konservatismus um eine reine Denkform geht, bedeutet dies, dass dabei vor allem auf Tradition und Intuition statt Vernunft und Deduktion sowie auf die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung gesetzt wird. Das ist Rödder allerdings zu unspezifisch; der reine Blick auf die Inhalte (wie unter anderem: Privateigentum, Freiheit, Institutionen, Tradition, Religion, Patriotismus, Zivilgesellschaft oder ein bestimmtes Menschenbild) aber auch, da dem Konservatismus eine explizite Programmschrift ebenso wie ein überzeitliches inhaltliches Programm fehle. So weit, so undefiniert also – doch daran stört sich Rödder nicht. Für ihn liegt der Kern des Konservatismus darin, dass er sich immer wieder mit Entwicklungen arrangieren muss, die ihm eigentlich nicht ins Konzept passen. Was ihn allerdings nicht, wie Kritiker unterstellen könnten, beliebig (ganz im Sinne eines opportunistischen Relativismus) mache: Dieses konservative Paradox vermeidet im positiven Sinn vielmehr Unbedingtheit und entgeht dogmatischem Absolutismus und Rigorismus. Wandel muss laut Rödder so gestaltet werden, dass er für die Menschen verträglich wird und somit gelingen kann.

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Der Konservatismus ist die Bewegung des Bewahrens. Doch ohne den Wandel kann er gar nicht existieren.
Andreas Rödder

Diese entsetzliche Lücke

Diese Lücke, die die rechte Mitte hinterlässt, sieht auch der Soziologe Wilhelm Heitmeyer problematisch; er bezieht sich allerdings auf die Reaktion konservativer Parteien: Die Erfolge rechtspopulistischer Parteien, in Deutschland also der AfD, hätten konservative Parteien, in Deutschland also CDU und CSU, aufgeschreckt. In ihrer Nervosität wurden riskante Anpassungsversuche betrieben, die Heitmeyer als Beiträge zur Normalitätsverschiebung interpretiert. Insbesondere dass konservative Politiker auch mit dem Begriff der Identität hantieren, führe automatisch zu Identitätsverletzungen derer, die nicht unter das „Wir“ fallen – also „Sie“: „Es geht darum, eine politisch korrekte Alternative zum ,Überfremdungsdiskurs‘ der AfD zu präsentieren, die trotzdem die Bürger in ihren Sorgen und Nöten ernst nimmt und sie ,dort abholt, wo sie stehen‘“.

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Konservative Politiker sind mitverantwortlich für das Problem, über das sie selbst besonders laut klagen.
Wilhelm Heitmeyer

Ähnliche Problematiken verorten die Autoren um den Historiker Norbert Frei in ihrem Buch Zur rechten Zeit, wobei sie eher auf versäumte Beschäftigung mit Inhalten hinweisen: „Dass dieser jüngste Anlauf von rechts so erfolgreich war und immer noch ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sich Staat und Gesellschaft – genauer: die breite demokratische Mitte einschließlich ihrer Parteien – dieser Themen mehr als drei Jahrzehnte lang bestenfalls halbherzig angenommen haben.“ Denn, so betonen die Autoren, auch, wenn es in der öffentlichen Debatte oft ignoriert würde, wurde die AfD von Menschen aufgebaut, die sich dezidiert als „bürgerlich“ verstehen: Unterstützer von AfD und Pegida sind oft Pensionisten oder Männer und Frauen, die sich mehrheitlich in fixen Arbeitsverhältnissen befinden, über mittlere Einkommen verfügen und gute Bildungsabschlüsse haben.

Eine Frage der Perspektive

Zum Wesen des Konservatismus selbst könnten die beiden nächstgenannten Bücher in ihren Analysen unterschiedlicher nicht sein: Der reaktionäre Geist des Politologen Corey Robin und Right Here Right Now des ehemaligen kanadischen Premierministers Stephen J. Harper. Für Robin bedeutet Konservatismus vor allem eins: „Die Erfahrung, Macht zu haben, diese Macht bedroht zu sehen und sie behalten oder zurückgewinnen zu wollen. Das Nachdenken darüber, die theoretische Überformung dieses Lebensgefühls, macht den Kern dieser politischen Ideologie aus.“ Man muss nicht – wie Harper – konservativ sein, um die Legitimität dieser Aussage in ihrer Pauschalität infrage zu stellen. Auch beharrt Robin auf seiner These, Konservative hätten immer wieder implizit bestätigt, dass sich ihr Denken erst in Reaktion auf die Linke ausgebildet habe, sie sich inzwischen aber erschöpft hätten: „Die Furcht, dass die Radikalen triumphieren könnten, ist letztlich der einzige Grund, den die Konservative Partei als Rechtfertigung für ihr Vorhandensein nennen kann.“

Harper sieht die Dinge als Konservativer naturgemäß anders gelagert: Interessant ist seine Perspektive vor allem vor dem Hintergrund, dass Kanada, anders als europäische Volksparteien, nicht mit dem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte zu kämpfen hat. Sich allerdings wohl über die Reize populistischer Versprechen bewusst, schlägt Harper eine andere Gangart für seine konservativen Kollegen vor, und zwar „populist conservatism“: „It is about putting conservative values and ideas into the service of working people and their families. It is about using conservative means for populist ends. For me, it is a product of political experience.” Es geht also darum, nicht in abstrakten Prinzipien zu denken, sondern darum, jahrelange politische Erfahrung zur Bedürfnisbefriedigung normaler Bürger anzuwenden – also um lebensnahe Politik.

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This is intellectual adulthood. This is conservatism.
Stephen J. Harper

Die große Erschöpfung

Demgegenüber hat der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher mit Geistig-moralische Wende eine Untersuchung des Erschöpftheitszustandes des Konservatismus vorgelegt, die sich jeglichen Fürs und Widers enthält. Die Konservative (in Deutschland) befindet sich, wie neben ihr auch die Sozialdemokratie, in einer tiefen Identitätskrise; wohingegen in den 70er Jahren andernorts Reagan und Thatcher die Gesellschaft nachhaltig umgestalteten, kam der geistig-moralische Aufbruch in Deutschland nicht zustande. Wie Rödder sieht Biebricher einen Knackpunkt in den politischen Entscheidungen des Jahres 2015, und nicht nur auf Deutschland bezogen: Diese Zeit sei es gewesen, die die Frage nach politischer Verortung, ideeller Prägung, gesellschaftlicher Verankerung und allgemeiner Zukunft der rechten Mitte mit einer bisher noch nicht dagewesenen Schärfe aufwarf. „Der Konservatismus scheint unbestimmt und heimatlos wie nie“, schreibt Rödder, er habe sich in seiner substanziellen Dimension weitgehend verbraucht: „Vielmehr wirkt es so, als seien dem politisch organisierten Konservatismus die inhaltlich konservativen Positionen über die Jahre und Jahrzehnte hinweg von manchen beinahe unbemerkt einfach abhandengekommen, ohne dass dieser Prozess – bis auf wenige Ausnahmen – nun ausdrücklich forciert worden wäre.“ Ein mögliches Szenario wäre, dass der Konservatismus nun tatsächlich in den Rechtspopulismus kollabieren wird – doch das ist keineswegs die einzige Möglichkeit. Rödder bemerkt, dass vor allem eines sinnvoll wäre: die Konzentration auf das, das eigentlich der Markenkern der – in diesem, deutschen Fall – die CDU ist: solides Management der Krisen und Verwerfungen einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt. Dass sich das klassische Parteiensystem überlebt hat, sei nicht nur eine Feststellung der alarmistischen Politikwissenschaft; demnach täten CDU und Konservative generell gut daran, „sich des Ballasts programmatischer Positionen geräuschlos zu entledigen und sich offensiv als Partei der weitgehend postideologischen Moderation des mehr oder weniger chaotischen Wandels, inklusive einer besonders ausgeprägten Kompetenz in Sachen Krisenmanagement, zu präsentieren.“

Biebricher empfiehlt also einen inhaltlich verschlankten Prozeduralkonservatismus sowie geeignetes Spitzenpersonal. Ob Letzteres – um wieder für Deutschland zu sprechen – mit Annegret Kramp-Karrenbauer gegeben ist, ist allerdings eine andere Geschichte. 

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Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.

Literatur

Biebricher, Thomas: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Berlin 2019

Frei, Norbert/Maubach, Franka/Morina, Christina/Tändler, Maik: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin 2019

Harper, Stephen J.: Right Here Right Now. Politics and Leadership in the Age of Disruption. Toronto 2018

Heitmayer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen. Berlin 2018

Robin, Corey: Der reaktionäre Geist. Berlin 2018

Rödder, Andreas: Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland. München 2019

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