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Schlag schnell, Hasenherz
16. März 2019 Randnotizen Lesezeit 5 min
Aufgeregt, nervös, missinformiert: Medien, oder eher die Nachrichten, die sie überbringen, machen die Menschheit zunehmend fertig. Sagt man. Diese kollektive Verängstigung und Unsicherheit wurzelt in Fundamentalem: dem vermeintlichen Tod der Wahrheit. Ein Irrtum.
Bild: Addendum

Mit der Wahrheit verhält es sich ähnlich wie mit der Demokratie: sie stirbt nun schon seit geraumer Zeit, also eigentlich ständig. Zumindest wenn man den zahlreichen Büchern und Texten Glauben schenkt, die unter dieser Überschrift erschienen sind. Das gemeinsame Sterben ist nur logisch, wenn man es denn behauptet, da die beiden einander bedingen: ohne Wahrheit lässt sich keine Demokratie aufrechterhalten. Man könnte dafür – wie für so einiges – den Postmodernisten die Schuld geben, die behaupten, alle Wahrheiten seien unvollständig, woraus resultiert, dass es nicht nur einen legitimen Weg gibt, Ereignisse zu begreifen und darzustellen. Das betont jedenfalls Literaturkritikerin Michiko Kakutani in The Death of Truth(!).

Es gibt in der Tat keine Zweifel, dass durch Fake News, die spätestens seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2016 in den USA zu großen Teilen mit dem Namen Donald Trump in Verbindung gebracht werden, berechtige Besorgnis ob ständiger oder sich häufender Missinformation aufkommt. Doch: Fake News sind keine Novität. Sie können sich im Zeitalter der sozialen Medien nur durchwegs schneller verbreiten, woraus sich die Frage ergibt, wie damit am besten umzugehen ist.

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All the feels

Für den Soziologen William Davies steht fest, dass die Nervösen Zeiten daraus resultieren, dass inzwischen die Kraft der Gefühle die Realität dominiert, was daher rührt, dass es schwieriger wird, über Fakten und Aussagen von Experten breiten Konsens zu erzielen. Fake News und das sogenannte Zeitalter des Postfaktischen sind also nicht die einzigen Ursachen für den Niedergang der Vernunft; es ist laut Davies viel mehr der Verlust des Vertrauens in Experten, zu denen oft auch die Regierung selbst zählt, der die Menschen dazu bringt, mehr ihrem Gefühl als ihrem Verstand zu vertrauen. „Die Eliten“ besäßen zu wenig emotionale Anziehungskraft: „Weil sie zu lange geglaubt haben, die Fakten könnten für sich selbst sprechen, ist ihre Fähigkeit verkümmert, die eigene politische Vision zu verteidigen“.

Dem Vorschlag des Psychologen Steven Pinker und des Biologen Richard Dawkins, die Verpflichtung der Politik auf wissenschaftliche Objektivität und die Institutionen der Wissenschaft noch offensiver zu formulieren, sodass die Fakten wieder die Oberhand über die Fiktion gewinnen und an die Stelle der Lügen die Wahrheit tritt, kann Davies nicht zustimmen.

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Fakten allein werden uns nicht retten.
William Davies

Das Ideal der unpolitischen Fakten, im 17. Jahrhundert von einer kleinen erlesenen Gruppe von Wissenschaftlern repräsentiert, deren Recht es war, die Wahrheit zu vertreten, gäbe es so nicht mehr; die Unterscheidung zwischen „echtem Sachverstand“, gemessen an Referenzen, Methoden und Transparenz und alternativen Fakten würde für den Großteil der Bevölkerung immer schwerer. Wenn Fakten zu Waffen werden und jeder Fakt politisiert wird, wird es zunehmend schwieriger, sich eine evidenzbasierte Meinung zu bilden. Anstatt mit dem Kopf, so Davies, würde dann mithilfe von Gefühlen entschieden.

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Kollektives Kopfausschalten

Auf der Suche nach Wahrheit ist der Mensch selten ein Einzelgänger, er begibt sich in Gesellschaft, ja eigentlich befindet er sich notgedrungen in der sozial(medial)en Blase, in die er hineingeboren wurde. Facebook, Twitter und Google tragen mithilfe von Algorithmen dazu bei, dass Informationen personenbezogen zugeschnitten werden, sodass Informationen, die andere Meinungen darlegen, für betreffende Person gar nicht erst zum Vorschein kommen. Der confirmation bias wird gefüttert, die Macht der Konformität wird zum Problem: so argumentieren Cailin O’Connor und James Owen Weatherall in The Misinformation Age.

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When we try to conform to others in our social networks, we sometimes ignore our best judgement when making decisions, and, in doing so, halt the spread of true belief.
Cailin O'Connor/James Owen Weatherall

Doch obschon O’Connor und Weatherall das Problem der kollektivierenden sozialen Effekte erkennen, suchen sie die Lösung nicht im reflektierten Handeln des Einzelnen. Sie verlangen umfassende Verantwortlichkeit der Plattformanbieter,  Unabhängigkeit von Wissenschaftlern und bessere Strategien bei der Veröffentlichung ihrer Forschungen sowie Objektivität und strikte Faktengenauigkeit von Journalisten.

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Die Entbehrlichkeit des Begriffs des Postfaktischen

Postfaktisch wurde 2016 zum deutschen Wort des Jahres gewählt, doch was sagt es eigentlich aus? Nichts, so Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem Buch Die große Gereiztheit. Es sei lediglich Ausdruck einer elementaren Verunsicherung derer, die es verwenden, eine Erschütterung von Gewissheit, die zur überreizten, resultathaften Totaldeutung der Gegenwart verleite und zur haltlosen Übertreibung motiviere: „Eine solche Post-Truth-Diagnose ist, erstens, geschichtsblind, weil sie, rein begriffslogisch gesprochen, besagt, dass Wahrheit früher einmal als das beherrschende Regluativ der Politik und des sozialen Miteinanders gegolten haben könnte.“

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‚Postfaktisch‘ taugt als ein Zeigefinger-Begriff, der gerade nicht dazu anregt, überhaupt erst zu begreifen, wie und auf welche Weise der andere zu seiner Wahrheitsauffassung gelangt ist, die man selbst so unbedingt für falsch hält.
Bernhard Pörksen

Was Wahrheit ist, definiert Pörksen folgendermaßen: „ein intersubjektiv gültiges, jedoch vielfältig bedingtes, unvermeidlich zeitspezifisches, deswegen jedoch keineswegs beliebiges Konstrukt.“ Klar ist für ihn, dass das Vermeiden von Konstruktionen (für Journalisten) unmöglich ist, da das schon durch die Auswahl der jeweiligen Geschichte, über die berichtet wird, bedingt ist. Diese erfolgt unter den Bedingungen der Digitalisierung immer rascher, der „medial produzierte Gegenwartsschock“ beziehungsweise „kommentierende Sofortismus“ ist unter anderem der Tabuisierung der Ratlosigkeit von Journalisten geschuldet. Das Informationsbedürfnis der Menschen steigt, weil sie sich an die schnelle Verfügbarkeit von Informationen gewöhnt haben.

Als Lösung schlägt Pörksen die Etablierung einer redaktionellen Gesellschaft vor. Sie soll funktionieren, weil „die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus“ wieder gelten, außerdem bräuchte es dazu ein neues Schulfach, um die Medienmündigkeit der gesamten Gesellschaft sicherzustellen. Demnach wäre jeder ein Journalist, der sich im Netz äußert; mit all den diesem Beruf inhärenten Verantwortlichkeiten, also Skepsis, Transparenz, Wahrheitsorientierung und Kontrolle. Was O’Connor und Weatherall der Masse nicht einmal ansatzweise zutrauen, überführt Pörksen also in die Normalität. Überzeugend dargelegt macht nur die von ihm selbst vorgebrachte Bezeichnung seines Vorhabens als „konkrete Utopie“ an ihrer tatsächlichen Umsetzung zweifeln.

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Hat jemand Framing gesagt?

Apropos Journalisten. Wenn man davon spricht, dass Menschen sich zunehmend sorgen, falsch informiert zu werden, muss man nur einen Blick nach Deutschland werfen, um zu verstehen, wieso: Der Zusammenhang von Wahrheit und Sprache beziehungsweise Formung von Sprache zur Vermittlung vermeintlicher Wahrheiten zeigt sich aktuell am viel diskutieren Framing-Manual, das von der Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling für den ARD erstellt wurde. Die Vorschläge darin setzen auf eine Moralisierung der Inhalte, lautet es doch: „Wenn Sie Ihre Mitbürger dazu bringen wollen, den Mehrwert der ARD zu begreifen und sich hinter die Idee eines gemeinsamen, freien Rundfunks ARD zu stellen (…) dann muss Ihre Kommunikation immer in Form von moralischen Argumenten stattfinden. (…) Denken und sprechen Sie nicht primär in Form von Faktenlisten und einzelnen Details, sondern denken und sprechen Sie zunächst immer über die moralischen Prämissen.“

Framing ist Manipulation, und zwar durch Sprache. Meinungen sollen in bestimmter Weise beeinflusst, das Selbstdenken der Adressaten möglichst ausgeschaltet werden. Was daran befremdlich ist: beim ARD arbeiten (auch) Journalisten. Vielleicht ist es also am Ende wie so oft doch das Beste, wenn man sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit begibt. Und zwar allein.

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Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.

Literatur

Davies, William: Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen. München 2019

Kakutani, Michiko: The Death of Truth. London 2018

O’Connor, Cailin/Weatherall, James Owen: The Misinformation Age. How False Beliefs Spread. London 2019

Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018

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