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Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners
22. Juni 2019 Randnotizen Lesezeit 6 min
Der Verdacht, dass Politik und Wahrheit keine Schwestern seien, ist möglicherweise besorgniserregend, aber keinesfalls überraschend: Im Zeitalter von Fake News schwindet das Vertrauen in Politiker so schnell, wie sich die digitale Welt wandelt. Kann oder sollte man sich vom Konzept des objektivierbaren Wahrheitsbegriffs verabschieden?
Bild: Addendum

Dass wir uns, da wir in einer Zeit der Bild- und Videofälschung, der gekauften Trolle, der Geheimdienst-Aktivitäten, der Fake-Profile, der Social Bots und der perfekt orchestrierten Propaganda leben, in einer Wahrheitskrise befinden, bestreitet der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem Buch Die große Gereiztheit gar nicht. Er zeigt sich allerdings doch einigermaßen verwundert ob der Tatsache, dass vielerorts behauptet wird, wir lebten erst jetzt oder ab jetzt in einem postfaktischen Zeitalter. Damit setzt man voraus, dass Wahrheit früher das beherrschende Regulativ der Politik und des sozialen Miteinanders gewesen wäre; genau hier widerspricht Pörksen: „Das hieße, dass Wahrheit in früheren Zeiten klar dechiffrierbar war, nur eben leider nicht mehr heute.“

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Jedem Fake seine Wahrheit

Unumstritten ist allerdings, dass der Begriff Fake News dann doch eher ein Produkt der neueren Geschichte ist. Der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle hat ihm mit Fake und Fiktion – Über die Erfindung von Wahrheit ein Buch gewidmet. Und zwar, weil er in der Diskussion einen entscheidenden Punkt vermisst: Merkmal eines Fakes ist nicht nur, dass er im Gegensatz zum Faktischen steht, sondern auch, dass er eine Unterkategorie von Fiktion darstellt. Ein Fake ist also immer eine Fiktion, nicht jede Fiktion ist allerdings ein Fake – so weit, so klar, doch die Grenzen sind fließend, wie Strässle an zahlreichen Beispielen aus der Literatur zeigt. Damit macht er auf einen bisher wenig beachteten Punkt aufmerksam: Es ist nur eine Seite der Medaille, die unwahren Teile eines Fakes zu betrachten; jeder Fake enthält auch Wahrheiten: „Jeder Fake hat etwas ,Bewusstfalsches‘ an sich, sonst wäre er kein Fake. Doch wenn er eine Wirkung erzielt, hat er immer auch etwas anderes an sich, das weder richtig noch wahr sein muss, aber zumindest aufschlussreich, wenn nicht gar verräterisch.“ Daher stellen Faktenchecks im Umgang mit Fakes reine Symptombekämpfung dar: „Sie versuchen aus der Welt zu schaffen, was dort längst angekommen ist.“ Der reine Fokus auf die Faktizität lässt den Aspekt der Fiktionalität außer acht, ohne den man die Frage, was genau ein Fake eigentlich verrät, nicht beantworten kann.

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Die Problematik des Wahrheitsbegriffs

Über die Wahrheit und den Wahrheitsbegriff hat Bernhard Pörksen bereits vor Jahren ein Gespräch mit dem inzwischen verstorbenen Physiker Heinz von Foerster geführt, das in Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners festgehalten wurde. Das, was Pörksen in seinem letztjährig erschienenen Buch als Wahrheitsdefinition formuliert („Wahrheit ist ein intersubjektiv gültiges, jedoch vielfältig bedingtes, unvermeidlich zeitspezifisches, deswegen jedoch keineswegs beliebiges Konstrukt.“), bespricht er auch mit von Foerster: Wenn der Begriff der Wahrheit eine beobachterunabhängige Welt voraussetzt, fragt sich, wie man den Wahrheitsbegriff selbst jemals fassen kann, da er sich wie ein Chamäleon – je nach Benutzer – anpasst. Genau das sieht von Foerster als Problem, weshalb er den Begriff der Wahrheit selbst gerne gänzlich zum Verschwinden bringen würde: „Er erzeugt die Lüge, er trennt die Menschen in jene, die recht haben, und jene, die – so heißt es – im Unrecht sind. (…) Damit ist gemeint, dass sich Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen.“

Auf Pörksens im Gespräch vorgebrachten Einwand, dass man wirtschaftlich-technischem Fortschritt die Wahrheitsproduktion nun nicht gänzlich absprechen könne, reagiert von Foerster ebenfalls nicht überzeugt. Er kann sich mit dem menschlichen Trachten nach vollständiger Erklärbarkeit aller Dinge nicht anfreunden, er anerkennt vielmehr die schlichte Tatsache, dass manche Dinge eben funktionieren: „Wieso soll ich dieses Funktionieren jetzt mit diesen lächerlichen acht Buchstaben W A H R H E I T gleichsetzen? Wozu? Um recht zu behalten?“

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Es geht allein um das Funktionieren – und nicht um die absolute Wahrheit.
Heinz von Foerster

Solcherart absolute Wahrheiten haben, so von Foerster, etwas Gefährliches, das den einzelnen Menschen von seiner Verantwortung, sich selbst ein Bild der Dinge zu machen, freispricht. Zudem enthielte der Leitgedanke einer ewigen Wahrheit einen heimlichen Anpassungszwang, dem sich andere unterwerfen müssten. Doch wer wäre dann derjenige, der die Macht hätte, zwischen Gut und Schlecht, Richtig und Falsch oder Schön und Hässlich zu entscheiden?

Verneint man absolute Wahrheiten, verneint man auch die endgültige Verifizierung von Hypothesen. Von Foerster hält es hier mit dem Philosophen Karl Popper, der betont, es käme letztlich nur auf die Falsifizierbarkeit an; Hypothesen können sich daher als falsch, in einem absoluten Sinn aber niemals als richtig erweisen. Spricht man nun aber von Wahrheit, entsteht ein Politikum, erklärt von Foerster: Es ginge dann letztlich nur mehr darum, anderer Menschen Auffassungen zu dominieren, sie also zu beherrschen.

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Wahrhaftigkeit ist keine politische Tugend

Die Philosophin Hannah Arendt beschreibt ebenfalls den Zusammenhang von Politik und Wahrheit in Wahrheit und Lüge in der Politik, allerdings bewusst aus einer Perspektive außerhalb des politischen Bereiches: Wahrheit und Politik treffen mit Arendt dort aufeinander, wo Letztere von Ersterer begrenzt wird – Politik kann ihre Integrität, und die Versprechen, für die sie steht, nur wahren, wenn sie anerkennt, dass sie Grenzen hat. Diese ergeben sich aus Arendts Definiton von Wahrheit: „Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann.“

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Denn vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch.
Hannah Arendt

Diese Grenzziehung ist allerdings ein theoretisches Konstrukt, der reale Widerstreit zwischen Politik und Wahrheit bringt Arendt dazu, die Problematik des Gegensatzes von Wahrheit und Meinung aufzurollen. Ohne von absoluten Wahrheiten zu sprechen, geht sie davon aus, dass es immerhin keine Beweise gibt, dass Tatsachen überhaupt nicht existieren – insbesondere historische Fakten. Werden solche Tatsachenwahrheiten in Meinungen verwandelt, über die man vermeintlich streiten kann, steht die faktische Wirklichkeit selbst auf dem Spiel: „Damit sind wir wieder bei unserer anfänglichen Vermutung, dass es vielleicht in der Natur des Politischen liegt, auf Kriegsfuß mit Wahrheit in allen ihren Formen zu stehen.“ Die Problematik, die sich daraus ergibt, ist, dass sich aus (politischen) Lügen nicht nur das Übel einer veränderten Gesinnung ergibt, sondern dass sich vielmehr ein Zynismus einstellt, der sich weigert, je wieder etwas für wahr anzuerkennen: Lügen stören den menschlichen Orientierungssinn, sie können, so konsequent sie auch sein mögen, die Wahrheit nie ersetzen.

Ich weiß, dass ich nichts weiß

In Warum die Wahrheit sagen? fragt sich der Jurist Rainer Erlinger zunächst, ob das eigentliche Problem mit Wahrheit und Lüge nicht viel eher darin liegt, dass sich die Menschen so bereitwillig belügen lassen. Obwohl die beiden immer als Begriffspaar auftreten, weist Erlinger darauf hin, dass die Lüge nicht einfach das Gegenteil der Wahrheit ist, sondern vielmehr, und hier bedient er sich Formulierungen Augustinus’ und Immanuel Kants, die Wahrhaftigkeit: „Es ist die Übereinstimmung der inneren Überzeugung, also der subjektiven Wahrheit – dessen, was man für wahr hält – mit dem, was man sagt oder ausdrückt.“ Wenn man also davon ausgeht, dass man Dinge nie mit absoluter Sicherheit wissen kann, ist jeder Ausdruck einer vermeintlich absoluten Sicherheit eine Lüge.

Ob man die Wahrheit mit letzter Sicherheit feststellen kann, lässt Erlinger zunächst offen: „Vielleicht gibt es auch keine Wahrheit, aber für das Leben und den Alltag reicht das, was man gemeinhin unter Wahrheit versteht, vollkommen aus.“ Er zieht zur Untermauerung dieser Aussage das Buch Bullshit des Philosophen Harry G. Frankfurt ebenso wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Philosophen Bernard Williams heran, wenn er ausführt, das Wort „alltäglich“ sei in diesem Zusammenhang nicht zu eng zu sehen: Dazu gehören auch viele Fakten aus dem politischen Bereich. Warum es allerdings bei der Frage, ob, und wenn ja wie, sich Russland in den amerikanischen Wahlkampf eingemischt hat für Erlingers „Alltagswahrheit“ ausreicht, dass es eben entweder so oder anders gewesen sein könnte, erschließt sich nicht. Zwar wird auch einige Male Hannah Arendts Wahrheit und Lüge in der Politik zitiert, doch gerade sie bietet eben keine beschwichtigende Alternative zur folgenden schlichten Tatsache: „Denn was wir unter Wirklichkeit verstehen, ist niemals mit der Summe aller uns zugänglicher Fakten und Ereignisse identisch und wäre es auch nicht, wenn es uns je gelänge, aller objektiven Daten habhaft zu werden.“ 

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Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.

Literatur

Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik. München 1987

Erlinger, Rainer: Warum die Wahrheit sagen? Berlin 2019

Foerster, Heinz von/Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg 1998

Frankfurt, Harry G.: Bullshit. Frankfurt am Main 2006

Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018

Strässle, Thomas: Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit. München 2019

Williams, Bernard: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Frankfurt am Main 2003

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