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Wer nichts weiß, muss alles glauben
1. Juni 2019 Randnotizen Lesezeit 7 min
Fernab der Lebensrealität, emotionslos im sterilen Denken: Die Vorurteile gegenüber Technokraten sind vielfältig. Doch wäre es nicht eigentlich wünschenswert, dass sich die Politik mehr von Wissen und weniger von Kalkül leiten lässt?
Bild: Addendum

Die technokratische Elite müsse ihre Mission erneuern, sonst werde sie untergehen, konnte man unlängst in The Economist lesen. Eliten, Technokraten, Experten – die braucht also niemand. Wirklich?

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Verdammt, sie leben noch

Mit der Verdammung bereits im Titel fängt der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger genau dieses Gefühl auf: Diese verdammten liberalen Eliten – Wer sie sind und warum wir sie brauchen heißt sein jüngstes Buch. Er anerkennt also die Tatsache, dass die meisten Menschen gegenüber der sogenannten Intelligenzija eher negativ eingestellt sind – was für Strenger nicht bedeutet, dass sie überflüssig wären. Ganz im Gegenteil, auch wenn es das Tagesgeschäft führender Populisten ist, die „abgehobenen liberalen Eliten“ zum Feindbild zu erklären. Strenger geht dezidiert nicht davon aus, dass Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler für alle politischen Probleme Lösungen anbieten könnten – das kann niemand –, aber das liegt auch daran, dass politische Entscheidungen unvermeidlich von grundsätzlichen Werturteilen beeinflusst sind, also nie auf rein wissenschaftlicher Basis erfolgen: „Die empirische Forschung ist insofern kein Deus ex machina, der jeden politischen Knoten zu durchschlagen vermag.“ Trotzdem stellt Strenger fest, dass viele politische Vorschläge anhand wissenschaftlicher Daten als offensichtlich irrational und schädlich für das Gemeinwesen verworfen werden können. Hier bringt er die liberalen Eliten ins Spiel: „Die meisten von ihnen verfügen über die nötige Ausbildung und Erfahrung, um klar und deutlich aufzuzeigen, wo Ergebnisse aus Natur-, Bio-, Spezial- und Geisteswissenschaften für politische Entscheidungsprozesse relevant sein können.“ Im Gespräch darüber führt Strenger aus, dass diese liberalen Eliten ihr Wissen nutzen und wieder mehr Einfluss auf die Politik nehmen sollten – auch wenn das bedeutet, sich die Hände schmutzig zu machen.

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Ismen sind kein gutes Zeichen

Bei der Betrachtung des politischen Betriebs sieht der Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein in seinem Buch How Change Happens noch ein ganz anderes Problem: Er nennt es partyism. Darunter versteht er das Phänomen, dass Menschen, die sich mit einer politischen Partei identifizieren, oft zutiefst ablehnend auf opponierende Parteien reagieren. Weil diese Tatsache zu einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft führt, schlägt Sunstein in Verteidigung technokratischer Ansätze folgenden Ausweg vor: „In many cases, the best response to partyism lies in delegation, and in particular in strengthening the hand of technocratic forces within government. (…) What most matters are facts, and facts do not turn on political affiliation.” Sunsteins Punkt ist, dass viele der Fragen, die sich Politikern stellen, höchst technisch sind, weshalb sie ohne die Mitwirkung von Experten nicht lösbar sind. Außerdem geht er davon aus, dass sich aufgrund einer gemeinsamen Faktenbasis auch miteinander konkurrierende Parteien verständigen könnten: „What I am urging here is, that many disagreements are not really about values or partisan commitments but about facts, and when facts are sufficiently engaged, disagreements across party lines will often melt away.”

Pure Vernunft sollte immer siegen

Auch der Psychologe Steven Pinker schreibt in Aufklärung Jetzt ein Plädoyer für die Vernunft in der Politik: „Die Vernunft sagt uns, dass politische Erwägungen dann am fruchtbarsten wären, wenn sie Staatsführung mehr als wissenschaftliches Experimentieren und weniger als Wettkampf in einer Extremsportart ansehen würden.“ Wie Sunstein ist er besorgt darüber, dass konkurrierende Parteien einander immer verächtlicher begegnen – und wie Sunstein hält Pinker es für möglich, aufgrund einer gemeinsamen Faktenbasis zu einem Konsens zu gelangen, auf dem letztlich politische Entscheidungen basieren.

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Wir befinden uns nicht in einem postfaktischen Zeitalter.
Steven Pinker

Wer Hans Roslings Factfulness gelesen hat, weiß, dass Menschen dazu neigen, die Welt schlechter wahrzunehmen, als sie tatsächlich ist; auf der Basis von Statistiken schreibt nun auch Pinker eine Hymne auf den menschlichen Fortschritt, um der gängigen Schwarzmalerei etwas entgegenzusetzen. Wo Rosling allerdings Fakten für sich selbst sprechen lässt, wirkt Pinkers Aufklärung Jetzt oftmals reichlich polemisch, was auch seinem popularisierenden Schreibstil geschuldet ist. Politisches Stammesdenken jedenfalls ist für Pinker die momentan tückischste Form von Irrationalität: Er schlägt vor, dass  einerseits Journalisten darüber nachdenken sollten, wie sie Politik präsentieren, und andererseits Experten überlegen sollten, wie sie ihre Einschätzungen deutlicher machen können: „Um den politischen Diskurs rationaler zu gestalten, sollten die Themen so weit wie möglich entpolitisiert werden.“ Weiterhin behauptet Pinker, dass naturwissenschaftlicher Konsens zu oft ignoriert wurde: Dies hätte sich zu einer großflächligen Ahnungslosigkeit ausgewachsen, vor allem, wenn man Bereiche wie Abtreibung, Evolution oder den Klimawandel betrachtet. Die weitgehend datenfeindliche Denkweise der meisten Politiker führt dazu, so Pinker, dass Menschen beispielsweise glauben, dass Krieg und Kriminalität außer Kontrolle geraten, obwohl die Zahl der Kriegs- und Mordopfer nicht zu-, sondern abnimmt. „Weil sich die politische und journalistische Kultur großenteils nicht darum bemüht haben, eine wissenschaftliche Denkweise zu entwickeln, werden Fragen, die über Leben und Tod entscheiden, mit Hilfe von Methoden beantwortet, die bekanntermaßen fehleranfällig sind, als da wären: Anekdoten, Schlagzeilen oder Rhetorik.“ Im selben Maß, wie Pinker die Empirie hochleben lässt, erniedrigt er die Geisteswissenschaften – das ist weder seinem Buch noch der Aufklärung, die es will, zuträglich. Wenn die Aufklärung etwas geschafft hat, dann das, dass Zweifel etwas durchaus Positives sind; Pinker zweifelt allerdings kein bisschen an der Überlegenheit seiner Ansichten.

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Was spricht gegen mehr Technokratie?

Das fragte sich der Philosoph Hermann Lübbe bereits im 1973 vom Philosophen Hans Lenk herausgegebenen Band Technokratie als Ideologie. Technokratie sei, so Lübbe, grundsätzlich ein negativ besetztes Wort. Technokraten werfe man Borniertheit vor, die sie blind gegenüber gesellschaftlichem oder politischem Fortschritt jenseits der Technik mache: „Das schließt ein, es wäre ein polemisches Zerrbild technokratischer Ideologie, sie für eine moralisch defizitäre intellektuelle Selbstverständigung zielreflexionsabstinenter Ingenieure zu halten.“ Dieser moralisierenden Aburteilung der Technokratie schließt sich Lübbe nicht an. Denn die zunehmend diffizileren Problemstellungen, die die Politik zu lösen habe, bedürften der Entwicklung von Technologien, die eine erhöhte Umsetzungsgeschwindigkeit von Information und Handlung garantieren: „Nicht an globalen Zielprojekten herrscht ein Mangel, sondern es herrscht erstens ein Mangel an ausreichender, organisatorisch gesicherter administrativer und politischer Reaktionsgeschwindigkeit auf die immer rascher sich verändernden Lagen, und es herrscht zweitens ein Mangel an Fähigkeit wissenschaftlicher Kontrolle der nichtbeabsichtigten Neben- und Rückwirkungen unseres Handelns.“

Um Zielerreichung auf europäischer Ebene geht es auch Jürgen Habermas, doch sieht dieser die technokratischen Strukturen, die die Europäische Union seit jeher prägen, dafür als tendenziell problematisch an. In Der Sog der Technokratie stellt er zunächst fest, dass die Europäische Union sich in erster Linie der Anstrengung poliitscher Eliten verdankt. Er kritisiert allerdings, dass zwischen der politischen Meinungs- und Willensbildung der Bürger und den zur Lösung der anstehenden Probleme tatsächlich verfolgten Politiken nach wie vor eine Kluft bestünde, die weitgehender europäischer Solidarität entgegenstünde: „Informierte Meinungen und artikulierte Stellungnahmen zum Kurs europäischer Entwicklungen sind bis heute weitgehend eine Sache von Berufspolitikern, Wirtschaftseliten und einschlägig interessierten Wissenschaftlern geblieben.“ Werde das Volk nicht eingebunden, so Habermas, bestünde die Gefahr, dass der Einigungsprozess vor Zielerreichung zusammenbrechen könnte. Ohne ausreichend demokratische Legitimation der europäischen Organe käme es nur zu einer Verfestigung des Status quo: „Einer demokratisch entwurzelten Technokratie fehlen sowohl die Macht wie das Motiv, die Forderungen der Wahlbevölkerung nach sozialer Gerechtigkeit, Statussicherheit, öffentlichen Dienstleistungen und kollektiven Gütern im Konfliktfall gegenüber den systemischen Erfordernissen von Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum ausreichend zu berücksichtigen.“ Dass die Europäische Kommission versucht, die Kluft zwischen ökonomisch Erforderlichem und politisch Machbarem auf technokratischem Weg zu überbrücken, sieht Habermas als Problem, da die ausreichende demokratische Legitimation fehle.

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Der Intellektuelle als Idiot

Seine Verachtung gegenüber „den selbsternannten Mitgliedern der Intelligenzija“ äußert der Philosoph Nassim Nicholas Taleb in Skin in the Game: In äußerster Polemik beschreibt er dort die Nichtsnutzigkeit der von ihm sogenannten Akademiker-Bürokraten, die seiner Ansicht nach auch für die Gestaltung von Politik verzichtbar wären: „Es hat den Anschein, als sei der Intellektuelle-also-Idiot in unserem Leben allgegenwärtig, aber noch ist er eine kleine Minderheit und wird außerhalb spezialisierter Outlets, Denkfabriken, den Medien und den Fachbereichen für Sozialwissenschaft an den Universitäten kaum je gesichtet.“ Taleb spielt vor allem darauf an, dass diese Intellektuellen jene verunglimpfen, die Entscheidungen treffen, die nicht nachvollziehbar erscheinen: „Das, was wir ganz allgemein Teilhabe am politischen Prozess nennen, benennt er mit zwei unterschiedlichen Begriffen: Demokratie, wenn es dem Intellektuellen in den Kram passt, und Populismus, wenn Plebejer es wagen, eine Wahl zu treffen, die den Präferenzen des Intellektuellen zuwiderläuft.“ Nicht nur Cass R. Sunstein, sondern auch Steven Pinker greift Taleb hier namentlich an, indem er ihnen vorwirft, es wäre ihre Absicht, Menschen ein bestimmtes Verhalten aufzwingen zu wollen. Außerdem würden sie Zufälligkeiten statistischer Entwicklungen ignorieren sowie die Tatsache, dass Statistiken sich jederzeit umkehren können.

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Diese Sorte Mensch bezeichnet Friedrich Nietzsche als Bildungsphilister.
Nassim Nicholas Taleb

Von der Polemik abgesehen, beschreibt Taleb doch recht deutlich die Antipathie, die Intellektuellen, also Experten, entgegenschlägt – und das, obwohl er sich selbst zur Intelligenzija zählen kann. Man kann seine Äußerungen daher als einen nicht sehr dezenten Hinweis darauf sehen, dass Selbstreflexion niemals schadet – auch Experten nicht.

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Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.

Literatur

Habermas, Jürgen: Im Sog der Technokratie. Berlin 2013

Lenk, Hans (Hrsg.): Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Thema. Stuttgart 1973

Pinker, Steven: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Frankfurt am Main 2018

Strenger, Carlo: Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen. Berlin 2019

Sunstein, Cass R.: How Change Happens. Cambridge 2019

Taleb, Nassim Nicholas: Skin in the Game. Das Risiko und sein Preis. München 2018

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