Die oft vergessene andere Seite des Wählens, das Abwählen, führt Soziologe Armin Nassehi in der 174. Ausgabe (Richtig wählen) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch ins Treffen: „Von Demokratie kann erst gesprochen werden, wenn der Herrscher abgewählt werden kann.“
Überhaupt, so Nassehi, organisieren und begrenzen Wahlen Partizipation. Indem die gewählt werden, die letztlich bindende Entscheidungen treffen, der Wähler aber von der tatsächlichen Entscheidung über Sachfragen ausgeschlossen wird, begrenzt er sich selbst. Nun kann man mit Nassehi fragen: „Was ist daran demokratisch, dass das Volk dazu gebracht wird, sich vom eigentlichen politischen Geschäft fernzuhalten? Schafft die Demokratie sich durch Wahlen nicht letztlich selbst ab?“ Auch der Historiker Pierre Rosanvallon beschreibt in seinem Buch Demokratische Legitimität den Rückgang der Legitimation durch die Wahlurne. Während man im klassischen Zeitalter des repräsentativen Systems noch davon ausging, dass die Wahlentscheidung künftige Politik bereits enthält, ist das heute nicht mehr der Fall: „Die Wahlen haben inzwischen eine begrenzte Funktion: Sie stehen nur noch für eine bestimmte Form, die Regierenden zu berufen, und legitimieren nicht mehr a priori die später betriebene Politik.“
Nassehi führt weiters aus, „dass eindeutige Expertise und das Richtige ebenso ein Mythos sind wie die Idee, dass die Mehrheit stets recht hat oder, dass Demokratie und Mehrheitswille identisch seien“. Ähnliches formuliert der Philosoph Slavoj Žižek: Es gäbe keinen Grund, demokratische Wahlen zu verachten, sie sind aber per se kein Indikator für Wahrheit. Generell liege, so Žižek, der Hauptmangel der Demokratie im unmöglichen Ideal des „omnikompetenten Bürgers“. Was wir die „Krise der Demokratie“ nennen, entsteht somit dann, wenn die Leute den Eliten, die an ihrer statt entscheiden sollen, nicht mehr vertrauen, wenn also die tatsächliche Entscheidung wirklich bei ihnen selbst liegt: „Freie Wahlen beinhalten demnach also immer einen minimalen Aspekt von Höflichkeit: Die Machthabenden tun so, als hätten sie nicht wirklich die Macht, und bitten uns, frei zu entscheiden, ob wir sie ihnen geben wollen.“
Kritik am etablierten westlichen demokratischen System übt Rosanvallon auch in einem weiteren Buch, Die gute Regierung: „Sind die Wahlen erst einmal vorüber, ist der Bürger wenig souverän.“ Der Autor stellt außerdem fest, dass seit der Etablierung des parlamentarisch-repräsentativen Modells die gesetzgebende Gewalt immer mehr zum politischen Dreh- und Angelpunkt wurde: „War es in der Vergangenheit das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens, das alle Kritiken bündelte, so ist mittlerweile auch das Gefühl des Schlechtregiertwerdens in Betracht zu ziehen.“
Zwar kann das Ziel nicht Selbstregierung sein, solange man die Unterscheidung zwischen Regierendem und Regiertem aufrechterhält, Rosanvallon plädiert für etwas anderes: die reine Genehmigungsdemokratie, die eine Lizenz zum Regieren erteilt, muss um eine Bestätigungsdemokratie ergänzt werden: „Letztere hat die Aufgabe, die von den Regierenden erwarteten Eigenschaften zu ermitteln sowie die organisatorischen Regeln ihres Umgangs mit den Regierten festzulegen.“ Demnach soll sie beschreiben, worauf in Bereichen der Zivilgesellschaft bereits hingewiesen wird, wie etwa Forderungen nach Transparenz oder dem Konzept der offenen Regierung.
Mancher, wie etwa der Autor David Van Reybrouck, sieht das ultimative Problem der Demokratie im etablierten Wahlverfahren gelegen: „Wir sind dabei, unsere Demokratie kaputt zu machen, indem wir sie auf Wahlen beschränken, und das, obwohl Wahlen nie als demokratisches Instrument gedacht waren.“
An der Wahlurne manifestiert sich die Mitbestimmung des Volkes, doch endet sie auch dort – hier nimmt Van Reybrouck direkt auf Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag Bezug: „Das englische Volk meint frei zu sein; es täuscht sich sehr; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, es ist nichts.“ Wenn man mit Van Reybrouck einen Blick ins antike Athen wirft, sieht man, dass es durchaus andere Instrumente gibt, um Demokratie umzusetzen. Das Losverfahren zum Beispiel. Bereits Aristoteles war der Überzeugung, dass nur das Losverfahren wirklich demokratisch sei, mit ihm Montesquieu.
Van Reybrouck schlägt konkret vor, Bürgergremien auf Zeit und gegen angemessenes Entgelt zur politischen Beratung einzusetzen – diese Vorstellung entspricht der deliberativen Demokratie. Obwohl der Wahlvorgang im Bewusstsein der meisten Menschen unmittelbar mit dem Begriff der repräsentativen Demokratie verbunden ist, kann sich Van Reybrouck durchaus auf aktuelle Beispiele berufen, in denen das Losverfahren erfolgreich angewandt wurde: So wurde in Irland im Jahr 2013 von ausgelosten Bürgern und Politikern über eine Verfassungsreform beraten, die letztlich auch umgesetzt wurde.
Eine weitere andere Form der Herrschaft beschreibt der Sozialforscher Robin Hanson, wenn er von Futarchy spricht: Dabei sollen Wähler darüber entscheiden, welche Werte und Ziele die Gesellschaft insgesamt verfolgen soll – zur Realisierung dieser werden Experten herangezogen. Diese Experten schließen wiederum Wetten darüber ab, welche Entscheidung im jeweiligen Fall die beste ist – die Umsetzung des jeweils Empfehlenswertesten liegt dann bei den Politikern. Was zunächst ungewohnt klingt, hat seine Vorbilder: Entscheidungsbörsen wie die Foresight Exchange oder die elektronische Wettbörse der Universität Iowa.
Der Philosoph Jason Brennan, selbsternannter Advokat des Teufels, was Demokratietheorie betrifft, hat an der Demokratie, wie sie momentan gelebt wird, ebenfalls einiges auszusetzen. Er sieht das Problem allerdings nicht im System, sondern beim Wähler selbst: Das Wahlrecht sollte kein universales Menschenrecht sein, sondern nur verantwortungsvollen, informierten Menschen mit politischen Kompetenzen zustehen: „Wenn einige Bürger moralisch unvernünftig, unwissend oder politisch inkompetent sind, ist dies ein ausreichender Grund, ihnen nicht zu erlauben, politische Autorität über andere auszuüben. Es ist ein Grund, ihnen zu verbieten, Macht auszuüben, oder ihre Macht zu verringern, um Unschuldige vor ihrer Inkompetenz zu schützen.“
Es dreht sich also alles um Kompetenz: Weil laut Brennan Politiker nur so kompetent sein können wie die, von denen sie gewählt werden, schlägt er die Entwicklung einer Epistokratie, also einer Wissensherrschaft, vor: „Ein politisches System ist dann als epistokratisch zu bezeichnen, wenn es die politische Macht von Gesetzes wegen oder aufgrund politischer Entscheidungen entsprechend dem Wissen oder der Kompetenz verteilt.“ Für seine provokanten Vorschläge hat Brennan, und das schreibt er selbst, keine Erfolgsgarantie. Die haben gegenwärtig etablierte demokratische Systeme allerdings auch nicht.
Grundlegend jeglicher Wahleinschränkung widerspricht Politikwissenschaftler Dirk Jörke in seinem Buch Die Größe der Demokratie: „Ein Regime, in dem einige mehr politische Rechte besitzen als andere, kann schwerlich als demokratisch bezeichnet werden.“ Außerdem sei ein Regime, in dem die politische Gleichheit dauerhaft ausgehöhlt ist, keine Demokratie.
Ohne sich gegen den Vorgang der Wahl zur Umsetzung einer Demokratie auszusprechen, beschäftigt sich der Jurist Florian Meinel in Vertrauensfrage – Zur Krise des heutigen Parlamentarismus mit den Problemen der Ausgestaltung dieses Wahlsystems. Wahlrechtsreformen zugunsten eines Mehrheitswahlrechts in Deutschland sind unwahrscheinlich, sogar die Frage, ob sich parlamentarische Repräsentation theoretisch auch anders denken lässt, fällt Meinel schwer zu beantworten. Als eigentliches Problem der repräsentativen Demokratie könnte man die „Nichtorganisierten“ sehen:
Das bedeutet nun nicht, so Meinel, dass solche Konflikte keiner Repräsentation fähig sind; es gäbe aber „einen gut belegten Zusammenhang zwischen Gesellschaften ohne eine politisch anschlussfähige Organisationsform sozialer Gruppeninteressen und einem inneren Hang zu jener cäsaristischen Repräsentationsform, die nur ein plebejischer Präsidentialismus à la Trump anbieten kann.“ Hier droht die Gefahr der Präferenz für autoritäre Figuren, parlamentarische Repräsentation erscheint als absurd, und: „Die Populisten wissen das.“
Der Satiriker und Spitzenkandidat der Satirepartei „Die Partei“, Martin Sonneborn, hat bereits vor fast vier Jahren den Einzug ins EU-Parlament geschafft und kürzlich ein Buch über seine Abenteuer im Europäischen Parlament vorgelegt, in dem er erklärt, dass die EU funktioniere, aber mit den falschen Leuten besetzt sei. Sonneborn lotet die Grenzen dessen, was wählbar ist und sein kann, aus, sieht sich allerdings selbst als Protestwahlmöglichkeit für intelligente Wähler. Fragt man ihn, wozu man wählen sollte, antwortet Sonneborn:
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Das politische Feuilleton gibt anhand von aktuellen Büchern einen überblick über den akademisch-intellektuellen Überbau von relevanten Themen, die gerade öffentlich diskutiert werden.
Agamben, Giorgie/Badiou, Alain/Bensaid, Daniel/Brown, Wendy/Nancy, Jean-Luc/Rancière, Jacques/Ross, Kristin/Žižek, Slavoj: Demokratie? Eine Debatte. Berlin 2016
Brennan, Jason: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin 2017
Jörke, Dirk: Die Größe der Demokratie. Berlin 2019
Meinel, Florian: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. München 2019
Rosanvallon, Pierre: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Hamburg 2010
Rosanvallon, Pierre: Die gute Regierung. Hamburg 2016
Van Reybrouck, David: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen 2016