Zwanzig Jahre haben Onkologen am SMZ Ost Krebsbehandlungen erfasst und so 10.000 Patientengeschichten dokumentiert. Für behandelnde Ärzte, aber auch für Patienten ist dieser Datensatz von unschätzbarem Wert. Auswertungen zeigen nämlich, wie gut Krebsbehandlungen am Patienten funktionieren und unterziehen so klinische Studien einem Realitätstest. Um in Betrieb zu bleiben, hätte das System ein Software-Update gebraucht. Warum das nicht gemacht wurde, dazu bleibt man seitens des Pressebüros des Wiener Krankenanstaltenverbundes eher vage. Nur so viel: Es gibt jetzt ein neues System. Die Daten aus dem alten werden umgewandelt und sollen dann verwendet werden können. Bis wann das geschehen soll, dazu gibt es keine Antwort.
Fälle wie dieser zeigen nicht nur das Potenzial, das im Sammeln und Auswerten von Daten steckt. Auch die Probleme, die mit Insellösungen wie jenem alten SMZ-Ost-System einhergehen, werden deutlich. Um Daten über verschiedene Systeme hinweg verwenden zu können, sind aufwendige Wandlungsprozesse nötig, die zudem nicht immer erfolgreich sind. Dabei braucht man möglichst viele Daten, denn Auswertungen werden besser, umso größer die Fallzahlen sind, auf denen sie beruhen.
„Über das Auswerten von Daten verstehen wir die Prozesse, die zu Krebs führen können, besser. So können wir Krebs nicht nur früher erkennen, sondern ihn vor allem viel gezielter bekämpfen. Krankheitsfälle können damit besser analysiert und davon abgeleitet sehr spezifische Medikamente gewählt werden“, beschreibt der aus Österreich stammende und in Oxford forschende Big-Data-Experte Viktor Mayer-Schönberger das wesentliche Potenzial von Daten für die Diagnose und Behandlung von Krebs.
Big Data bedeutet die gemeinsame Auswertung unterschiedlicher Quellen: Krebs-Geschichten, wie jene aus dem SMZ Ost etwa, wissenschaftlichen Publikationen und Gensequenzanalysen. Verknüpft man all das in einem intelligenten System mit Algorithmen, dann kann man das volle Potenzial von Big Data nutzen.
Gene, respektive einzelne Sequenzen werden auf ihre Zusammensetzung hin untersucht; so können krankheitsverursachende Mutationen entdeckt werden.
„Die Utopie ist ganz klar: bessere Entscheidungen zu Diagnose und Therapie für jede einzelnen Patienten und jeden einzelnen Patienten zu treffen – damit diese als Individuen wahrgenommen werden, und nicht bloß als Fallzahl. Dank vieler Daten treiben wir gerade die Individualisierung und Personalisierung der Medizin voran und machen aus einem stumpfen Holzhammer ein präzises Werkzeug“, erklärt der Big-Data-Experte weiter. „Indem man die genetischen Informationen von Patienten und Krebszellen im konkreten Krankheitsfall analysiert, kann man davon abgeleitet sehr spezifische Medikamente wählen bzw. bauen, die genau in diesem Kontext am besten wirken.“
Erste Versuche, verschiedene Datenquellen zu kombinieren, gibt es bereits. Beispielsweise in Oberösterreich, Vorarlberg oder Tirol. Doch auch dabei handelt sich sich um Insellösungen. „Wünschenswert wäre“, sagt Dominik Wolf, Direktor der Abteilung experimentelle Onkologie an der Uniklinik Innsbruck, „dass flächendeckend alle das gleiche System hätten.“ Unterschiedliche Software-Systeme sind meist nicht miteinander kompatibel. Wechselt ein Patient aus einem Spital mit einer Software in ein anderes, das mit einem anderen Software-Anbieter arbeitet, können die Ärzte dort nicht nur auf vorhandene Datenbestände nicht zurückgreifen, die Daten können auch nicht gemeinsam ausgewertet werden.
Die typisch österreichischen und damit föderalen Strukturen bremsen die Zukunft der Krebsforschung ein. Für die Dokumentation sind die Länder zuständig, heißt es aus dem Pressebüro des Gesundheitsministeriums: „Der Einsatz derartiger Informationssysteme kann von Bundesseite nicht normiert bzw. vorgegeben werden. Hier handelt es sich um verschiedene Systeme von verschiedenen Anbietern für die unterschiedlichen Krankenhausinformationssysteme. Der Einsatz derartiger Systeme obliegt den jeweiligen Krankenanstaltenverbänden bzw. Einrichtungen.“ Die flächendeckende Anwendung dürfte in Österreich also nicht kommen.
„Würden wir die Dokumentationen aller Spitäler in ein System einspeisen, dann könnte man schauen, wie gut eine Therapie flächendeckend abschneidet und in weiterer Folge auf politischer Ebene überlegen, wie man eine Krebsversorgung auf höchstem Niveau sicherstellen kann“, sagt der Innsbrucker Krebsspezialist Dominik Wolf. Dabei verwenden nicht nur die Bundesländer unterschiedliche Systeme, selbst zwischen einzelnen Spitälern innerhalb eines Krankenanstaltenverbundes unterscheiden sich diese Systeme manchmal.
Die Folge: Nicht nur in Wien, sondern in ganz Österreich werden Datenbestände zur Krebstherapie nur unzureichend genutzt. Dabei sind Forscher wie Mayer-Schönberger davon überzeugt, dass es die Big-Data-Analyse in bestimmten Fällen sogar mit der Erfahrung von Krebs-Spezialisten aufnehmen kann. „Im Erkennen von Hautkrebs oder bestimmten Prostatakrebsformen ist Big Data besser als der (Fach-)Arzt.“