Herr Pichlbauer, wozu führen die steigenden Zahlen an Krebspatienten?
Wir müssen uns darauf einstellen, dass immer mehr Menschen mit Krebs leben. Warum? Weil wir immer älter werden und Krebs mit steigendem Alter wahrscheinlicher wird. Gleichzeitig werden die Therapien besser, womit wir eben den Krebs deutlich länger überleben, bis er zu einer chronischen Erkrankung wird. Also steigen diese Zahlen, aber das ist ganz logisch und nicht besonders überraschend.
Das heißt, Krebs wird immer mehr zu einer gesellschaftlichen Aufgabe und verursacht in der Zukunft immer mehr Kosten?
So ist es. Wir leben in einem Gesundheitssystem, das die Möglichkeit bietet, Patienten mit Krebs lange leben zu lassen.
Wozu kann dieser Kostendruck führen?
Das muss man von zwei Seiten sehen: Einerseits ist das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem massiv erschüttert. Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt mittlerweile, dass man ohne eine Zusatzversicherung nicht gut versorgt wird, das ist dramatisch. Denn fehlendes Vertrauen führt zu einer Kostendiskussion, wodurch die öffentliche Versorgung gefühlt an Wert verliert, was wiederum die Bereitschaft schwinden lässt, mehr für sie zu zahlen. Auf der anderen Seite lieben Menschen Politiker, die sparen, was diese auch scheinbar umsetzen wollen. Da geht die Schere auf.
Wenn die Patientenzahlen steigen und es viele neue Krebsmedikamente gibt, die sehr viel kosten, werden die Gesamtkosten für Krebsmedikamente steigen, nicht wahr?
Die werden steigen, ja. Aber wir verteilen ungefähr 13 Prozent der öffentlichen Gesundheitsausgaben auf den Medikamentenbereich, und dieser Prozentsatz ist seit Jahren annähernd gleich, trotz enormer Innovationen im Bereich Krebs. Innerhalb der Medikamente wird es sicher zu einer Umschichtung kommen. Wir werden immer weniger teure Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgeben oder für Infektionen – wobei Antibiotika auch sehr teuer sind – und dafür mehr für Krebsmedikamente. Aber es wird sich immer am Ende ungefähr die Waage halten, da die Gesellschaft nicht bereit ist, mehr zu bezahlen, und damit die Preise drückt. Wir sollten aber nicht vergessen: Die größeren Kostenblöcke bei den Gesundheitsausgaben bleiben weiterhin Personalkosten für Spitalsaufenthalte, Gebäudekosten und so weiter.
Man hört, dass nicht jedes Spital für jeden Patienten die neuesten und innovativsten Krebsmedikamente bereit hält?
Da sind wir auf der betriebswirtschaftlichen Ebene gelandet, in einer ganz anderen Welt. Die Spitäler achten darauf, dass sie die Kosten pro Bett bzw. pro Patient niedrig halten, und fangen dann an, teure Patienten hin und her zu schieben. Gerade bei sehr teuren Medikamenten wird der Patient dann tendenziell in größere Einheiten verschoben, was ich persönlich aber nicht so schlecht finde. Deswegen sind große Krankenhäuser auch sehr viel teurer als kleine Krankenhäuser. Und die sagen dann: Wir sind eh viel besser als die Großen, deswegen sollten alle klein werden. Also, da sind sehr viel Lügen im Spiel. Betriebswirtschaftlich betrachtet führen teurere Medikamente in einzelnen Abteilungen zu erheblichen Schwierigkeiten. Ärzte, die da arbeiten und einen Patienten mit einer extrem teuren Therapie hätten, müssen sich genau überlegen, ob sie den in der eigenen Abteilung behandeln oder nicht doch woanders hinschicken.
Ich denke, dass das versorgungswirtschaftlich durchaus gut ist. Die Gefahr besteht dort, wo dann auch in diesen größeren Spitälern der Sparstift angesetzt wird – weil eben dann vor allem die kleinen Spitäler darauf hinweisen, wie vergleichsweise effizient sie angeblich sind. Anders gesagt: Wenn die Kleinen ihre teure Patienten zu den Großen schicken und dann behaupten, die Großen seien ineffizient, dann ist das ein bisschen absurd.
Weil wir am Ende aber keine Versorgungsdaten haben, die uns zeigen könnten, wer was wann wo warum und mit welchem Erfolg bekommen hat, können wir nicht garantieren, dass alle am Ende des Tages das kriegen, was sie brauchen. Wobei man sagen muss: Österreich gehört zu den Ländern, wo Innovationen extrem schnell beim Patienten ankommen. Das spricht dafür, dass wir grundsätzlich eine gute Versorgung haben, auch wenn wir es nicht belegen können.
Also alles gut?
Nein. Wo wir meines Erachtens ein Riesenproblem haben, ist die Frage: Wie viel Geld nehme ich in die Hand, um was zu erreichen? Es fehlt die Berücksichtigung einer guten Kosten-Nutzen-Analyse, bei der der Nutzen in der Lebensqualität des Patienten gemessen wird. Ich habe schon manchmal das Gefühl, dass wir in die Lebensverlängerung viel mehr investieren als in die Lebensqualität.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen Sie Diabetiker. Der Diabetiker wird wahnsinnig schlecht versorgt. Deswegen gibt es hier viele Komplikationen, etwa chronische Wunden an den Beinen. Das führt dazu, dass wir viermal mehr Gliedmaßen amputieren müssen als etwa im vielgescholtenen Großbritannien. Viermal mehr! Aber der Patient bekommt eine pipifeine Amputation und eine pipifeine Prothese. Und das ist dumm. Die Prothese zu verhindern, wäre das Richtige. Und bei Krebs gibt es garantiert ebenfalls dieses Austherapieren und dieses Nochmal-was-Reinschütten und Nochmal-was-Reinschütten bei an sich hoffnungslosen Fällen – in beiden Fällen ist eben nicht die Lebensqualität das gewünschte Ergebnis, sondern die lebensverlängernde Therapie.
Das führt zu sehr merkwürdigen Fehlinvestitionen, denn wenn die Lebensverlängerung immer teurer wird, können wir eben dieses Geld nicht vorher in der Prävention einsetzen, obwohl es dort sinnvoller investiert wäre.
Das heißt, wenn wir mehr Geld in die Prävention stecken, dann bekommen die Menschen erst gar nicht Krebs?
Ganz so einfach ist es nicht. Wenn ich einem Raucher sage, er soll aufhören zu rauchen, verhindere ich sein Lungenkarzinom mit 65. Aber leider Gottes kann ich nicht garantieren, dass er nicht sein Dickdarmkarzinom mit 67 kriegt. Man muss damit leben: Je älter wir werden, desto häufiger wird Krebs entstehen, und wir können nichts dagegen tun, weil die Ursachen so tief auf der genetischen Ebene liegen. Das ändert aber nichts daran: Je besser das System die Menschen motiviert, gesünder zu leben, desto länger werden sie bis zu dem Zeitpunkt, wo sie schwer erkranken, eine hohe Lebensqualität haben – man erreicht also mit den gleichen Ressourcen mehr Lebensqualität.
Mal eine grundsätzliche Frage: Verbieten sich ökonomische Sichtweisen nicht per se, wenn es um ein Menschenleben geht?
Ökonomische und gesundheitsökonomische Sichtweisen sind nicht dasselbe. Das österreichische System ist praktisch nur ökonomisch orientiert und nicht gesundheitsökonomisch. Es zählt der Preis pro Tablette, pro Bett, pro durchschnittlichem Spitals- oder Kassenpatienten. Die Gesundheitsökonomie hingegen will mit den eingesetzten Ressourcen einen möglichst großen Patientennutzen erzeugen. Das sind zwei völlig verschiedene Ansätze. Grundsätzlich hab ich aber ein Problem mit der Kritik, dass das Leben ökonomisiert wird. Ökonomie ist der vernünftige und zielgerichtete Einsatz von Ressourcen. Wenn wir uns jedoch nicht über das Ziel klar sind und uns vor der Frage drücken, wie viele Ressourcen zur Verfügung stehen, dann kommt es zu diesem unguten Gefühl der Ökonomisierung, weil dann eben nur polemisches Sparen gemeint ist. Solange wir uns vor dieser berühmten Frage „Welchen Wert hat das Leben?“ drücken, wird das auch so bleiben.
Man möchte meinen, unendlichen Wert?
Ist das so? Ein Beispiel: Man könnte ein Auto herstellen, in dem der Fahrer garantiert nicht zu Schaden kommt, egal wie dumm er sich verhält. Das Auto würde kosten: 250.000 Euro. Das kann ich auf den Markt werfen und schauen, wie viele Leute das kaufen. Und dann werde ich schnell feststellen, dass die Sicherheit dem Einzelnen gar nicht so viel wert ist. Er beginnt selbst zu rechnen: In einem 25.000-Euro-Auto werde ich zwar viel wahrscheinlicher sterben als in dem für 250.000 Euro, aber trotzdem ist das noch immer extrem unwahrscheinlich. Außerdem hat das billigere auch eine schöne Musikanlage, deswegen kaufe ich das. In dem Augenblick, in dem sowas passiert, hat diese Person ihrem eigenen Leben selbst einen Wert gegeben.
Das ist natürlich alles sehr schwierig und nicht so einfach auf ein öffentlich finanziertes Gesundheitssystem übertragbar, aber sich vor dieser Frage zu drücken, führt dazu, dass das Leben einen unendlichen Wert verliehen bekommt. Und wenn es unendlich viel wert ist, heißt das in letzter Konsequenz, dass man unendlich viele Ressourcen in die Lebensverlängerung stecken muss. Unendlich viele Ressourcen sind aber nicht real. Wir landen so in einem moralischen Dilemma, das gelöst werden muss, weil es da ist. Es zu ignorieren heißt die Ressourcen- und Zielentscheidungen in einen intransparenten Bereich zu verdrängen.
Wenn ich Sie richtig verstehe: Selbst wenn jeder diese Rechnung für sich selbst macht, wird er wahrscheinlich nicht zu dem Schluss kommen, dass das eigene Leben unendlich viel wert ist?
Na ja, wenn ein Dritter das Auto bezahlt, nimmt natürlich jeder das 250.000-Euro-Auto. Er fragt sich vorerst nicht, woher kommt das Geld? Aber der Dritte, der das bezahlt, der sollte sich das schon fragen und nicht jedem versprechen, du kriegst das, wenn er dieses Geld nicht hat. Und weil der Dritte eben nie genug Geld haben kann, kann nicht jeder mit einem 250.000-Euro-Auto herumfahren. Jeder, der aber selbst zahlen muss, der wird sich der Frage stellen und zum Schluss kommen: Mir ist mein Leben nicht unendlich viel wert. Man kann das übrigens auch umdrehen: Fragen Sie einen gesunden Menschen, wie viele Stunden er bereit ist, täglich für einen unbekannten Fremden unentgeltlich und ohne andere Kompensation zu arbeiten, damit dessen Therapie bezahlt werden kann.
Wie werden diese Fragen in Österreich gelöst?
Es gibt weltweit kein anderes Land, das eine solche Fragmentierung des Gesundheitswesens aufweist. Es gibt unterschiedlichste Zuständigkeiten und Finanzierungsströme. Niemand weiß genau, was wo wie funktioniert. Es ist ein riesiges Chaos, das es unmöglich macht herauszufinden, welche Ressourcen wo für was und mit welchem Erfolg eingesetzt werden. Vielleicht wissen wir die Zahl der Operationen, aber wie viel Gesundheit dabei produziert wurde, wissen wir nicht. Wir können ganz hervorragend ausrechnen, wie viele Prothesen verrechnet wurden, aber wir wissen nicht, ob die Prothesen sinnvoll waren oder nicht.
Und weil wir einfach nur in das System hineinschütten, wissen wir nichts – außer dass die Politik jedem ein 250.000-Euro-Auto verspricht.
Kann ich einem Patienten schaden, indem ich zu viel Geld für ihn ausgebe?
Ja. Wenn man heute ausschließlich die Lebensverlängerung als Parameter heranzieht, dazu ein paternalistisches Gesundheitssystem hat, das den Patienten praktisch kaum in die Entscheidungsfindung einbezieht, dann kann tatsächlich die Entscheidung getroffen werden, das Leben auf Teufel komm raus zu verlängern. Das ist, aus meiner Erfahrung als Pathologe, sehr oft mit extremem Leid verbunden. Man hat die Patienten wochenlang auf einer Intensivabteilung liegen und lässt sie einfach nicht sterben. Das ist sicher nicht zum Wohl des Patienten.