Die Heimat ist ein mit menschlichen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Ängsten beladener Ort. Sie jemandem wegzunehmen, ist eine folgenschwere Entscheidung, mitunter sogar ein Verbrechen. Mit Heimatverlust sind Worte wie Flucht, Vertreibung oder Zwangsumsiedlung verbunden. Entsprechend schwer tun sich gewählte Politiker, ihren Wählern einen unfreiwilligen Umzug zu verordnen, oder auch nur Absiedelung zu fördern, auch wenn es aus Sicht der Gesamtbevölkerung manchmal sinnvoll wäre.
Durham County, eine ursprünglich vom Bergbau geprägte Landschaft in Großbritannien, ist beispielhaft für die Ausgangslage vieler Industriegebiete: Der Niedergang der Bergwerke nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu Arbeitsplatzverlust und Abwanderung. Anfang der 1950er Jahre beschloss man daher, 114 von 353 Bergbaudörfern – sogenannte Pit Villages – aufzugeben.
Allerdings gab es Widerstände in der Bevölkerung und Schwierigkeiten beim Ankauf der Grundstücke. Anders als prognostiziert, wuchs die Einwohnerzahl stellenweise sogar wieder. Das Projekt musste aufgegeben werden, nachdem lediglich drei Dörfer abgetragen worden waren.
Größere Umsiedlungs- und Restrukturierungsmaßnahmen sind in einer Demokratie nur schwer durchzusetzen, und wenn, dann von Entscheidungsträgern, deren Wählerschaft nicht ausschließlich aus Betroffenen besteht. Aber auch wenn die Entscheidungen weiter weg fallen, gilt es teils massive Widerstände zu überwinden. Die steirische Strukturreform, bei der vor allem kleine Landgemeinden zusammengelegt wurden, ist ein Beispiel dafür. Große Zusammenlegungen, wie die Fusion der Städte Bruck an der Mur und Kapfenberg, scheiterten jedoch bisher.
Die letzte große Entsiedelungsaktion in Österreich wurde vom NS-Regime verfügt und betraf 40 Ortschaften im Waldviertel. Mit massenhaften Enteignungen schuf man einen Truppenübungsplatz für die deutsche Wehrmacht, der später von den Sowjets beschlagnahmt und schließlich vom österreichischen Bundesheer übernommen wurde. Von einer geplanten Wiederbesiedelung des Truppenübungsplatzes Allentsteig wurde aber Abstand genommen.
Danach beschränkten sich Umsiedelungsaktionen weitgehend auf Hochwasser- und Lawinengebiete, die man in früheren Jahren risikoblind bebaut hatte. Es wurden jeweils kleinere Zonen abgesiedelt oder wenige Häuser geschleift. Die Maßnahmen erfolgten meist nach einer Katastrophe und regelmäßig im Einvernehmen mit den Bewohnern.
Der Bund fördert Schutzmaßnahmen gefährdeter Objekte, solange diese Maßnahmen kostengünstiger sind als eine Entschädigung. Muss ein Haus abgerissen werden, zahlen Bund und Länder 80 Prozent des Zeitwerts der Gebäude, auf den restlichen 20 Prozent und auf den zu Grünland rückgewidmeten Grundstücken bleiben in der Regel die Eigentümer sitzen. Es gibt aber immer wieder abweichende Lösungen.
So entschied das Land Vorarlberg nach einem verheerenden Hochwasser im Jahr 2005, die Parzelle Schildried aufzugeben. Sie war innerhalb von sechs Jahren dreimal überschwemmt worden. Allerdings wurden nicht nur die Häuser, sondern auch die Grundstücke abgelöst. An der Entschädigung der Betroffenen beteiligten sich nicht nur Bund und Land, sondern auch die Gemeinde. Insgesamt mussten 17 Häuser weichen. Auch in Oberösterreich rang man sich zur teilweisen Absiedlung des Ortes Hagenau durch, nachdem er immer wieder von der Donau überschwemmt worden war.
Über eine Frage wird aber kaum gesprochen: Sollte man nicht nur von Naturkatastrophen gefährdete, sondern auch entlegene, bereits von Abwanderung betroffene Gebiete aufgeben und so durch gezielte Umsiedlung langfristig Kosten für die Allgemeinheit sparen?
Wo wenige Menschen wohnen, ist die Erhaltung öffentlicher Infrastruktur naturgemäß teurer. Im Waldviertel, im Südburgenland, in der Obersteiermark, im Lungau und in Oberkärnten zeigen sich ähnliche Bilder: Junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte, vor allem Frauen, wandern ab, alte Menschen und leere Häuser bleiben zurück.
Im steirischen Vordernberg gehören das Schubhaftzentrum und eine Aufbahrungshalle zu den wenigen neuen Gebäuden. Mit Eisenerz und Radmer gehört Vordernberg zu den drei Orten im steirischen Bezirk Leoben, die seit 1971 mehr als die Hälfte ihrer Einwohner verloren haben. Viele Industriebetriebe sind abgewandert, die Gemeinden bleiben auf den Kosten sitzen. Die wirtschaftliche Situation führt zu geringeren Einnahmen aus der Gemeindesteuer, die überalterte Bevölkerung hat außerdem steigende Kosten für Pflege- und Altersheime zur Folge.
In Eisenerz begegnete man dem Abwanderungsproblem, unterstützt vom Land Steiermark, mit gezieltem Rückbau, was unter den schrumpfenden Gemeinden Österreichs die Ausnahme ist. Leerstehende Häuser wurden abgerissen, etwa 800 Wohnungen saniert.
Ähnliche Rückbauprojekte sind weltweit zu finden. Absiedelungsbewegungen betreffen in den USA nicht nur das flache Land, sondern auch Großstädte, die Einwohner durch Suburbanisierung ans Umland verlieren. In Ohio, wo fünf der sechs größten Städte mit Abwanderung kämpfen, reagiert man darauf mit Verdichtungsmaßnahmen: Der Siedlungsraum wird auf kleinerer Fläche konzentriert, um Infrastrukturkosten zu reduzieren.
Die Stadt Youngtown, die 1960 noch 166.000 Einwohner hatte und dann innerhalb von 50 Jahren die Hälfte davon verlor, wird beispielsweise planmäßig rückgebaut. „Als Vision werden kleinere Städte mit kompakten Siedlungskernen und dispersen Bereichen, durchwachsen von Grüngürteln, gesehen“, heißt es in einem Forschungspapier zum Siedlungsrückzug, das vom deutschen Umweltbundesamt beauftragt wurde.
Die Deutschen beschäftigen sich nicht ohne Grund mit dem Thema. In manchen ostdeutschen Regionen dominieren statt blühender Landschaften verlassene Siedlungsgebiete. Eine Neuorientierung fällt aber schwer. Vorschläge zu gezielten Absiedelungsmaßnahmen stießen bisher auf Skepsis oder blanke Ablehnung.
Auch in Österreich versucht man, sich den Abwanderungswellen entgegenzustellen, statt sie zu steuern. Europäische Union, Bund und Länder fördern strukturschwache Regionen mit der Gießkanne, anstatt gezielt Redimensionierungen zu planen. Dabei hätten vor allem die Länder durchaus die Möglichkeit dazu. Ihre Gesetzgebungskompetenz in Sachen Raumordnung und Baurecht ist umfassend und ließe es auch zu, im Rahmen der Landesraumpläne Ab- und Ansiedelungszonen festzulegen.
Dadurch könnte eine Bevölkerungsverdichtung in Regionalzentren erreicht werden, die auch zu deren Attraktivierung beitrüge. Durch eine Aufgabe der schrumpfenden Umlandgemeinden ließen sich Synergieeffekte nutzen. Oft wäre einer Gemeinde schon geholfen, würde sich ihr Siedlungsgebiet auf ein Dorf konzentrieren.
Als Nebeneffekt einer Siedlungsverdichtung ließe sich auch der Platzverbrauch reduzieren. Mit der Festlegung von Verdichtungszonen – in Vorarlberg ist in solchen Zonen nur noch die Errichtung von Mehrfamilienhäusern gestattet – kann gleichzeitig einer weiteren Zersiedelung entgegengewirkt werden.
Zwang wäre nicht notwendig, um diese Entwicklung zu unterstützen. Bund, Länder und Gemeinden müssten nur den Wohnbau im Ansiedelungsgebiet fördern, die Umsiedelung attraktiveren und aufhören, entlegene Siedlungen durch den Erhalt von Buslinien, Müllabfuhr, Wasserleitungen und Straßennetzen zu subventionieren.
Wer dort leben will, könnte das weiterhin tun – auf eigene Kosten. Schon jetzt erfolgt die Absiedelung in Hochwasserzonen grundsätzlich nach dem Freiwilligkeitsprinzip. Wer nicht wegziehen will, kann allerdings bei der nächsten Überschwemmung auch keine Hilfe mehr beantragen.