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Vom Weggehen und Zurückkehren
19. November 2018 Landflucht Lesezeit 8 min
Zu wenig Arbeitsplätze, fehlende Ausbildungsmöglichkeiten und kaum Infrastruktur: Gründe für Abwanderung gibt es viele. Ob jemand weggeht oder bleibt, ist jedoch eine zutiefst persönliche Entscheidung.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Landflucht und ist Teil 4 einer 7-teiligen Recherche.
Bild: Stefanie Stocker | Addendum

Sie war schon immer eine Wanderziege. So hat Sarah Miriam Pritz’ Großvater sie genannt. Eine, die immer hin und her gewandert ist zwischen den geschiedenen Eltern. Zwischen der Mutter im Lungau und dem Vater in Graz. Zwischen dem kleinen Dorf und der für sie damals mystischen, großen Stadt. Mit 18 Jahren ist sie dann nach Wien abgewandert. Aus Wien wurde vor fünf Jahren Frankfurt. Aus Frankfurt wurde Hamburg. Dort arbeitet sie heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität.

Das gefühlt kleinste Dorf

Und jedes Mal, wenn die heute 31-Jährige in eine neue Stadt kommt, denkt sie: „Oh, aber aufgewachsen bist du in einem Mini-Dorf.“ Das Mini-Dorf ist die 300-Einwohner-Gemeinde Thomatal in Salzburg. Dem Bezirk Tamsweg, in dem die Gemeinde Thomatal liegt, wird eine der höchsten Abwanderungsraten Österreichs (–17 Prozent) bis 2050 prognostiziert. Auch die heute Wahl-Hamburgerin kann sich eine Rückkehr nicht vorstellen.

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Am schlimmsten waren die Busfahrten.

Sarah Pritz wächst in der Einliegerwohnung der Volksschule Thomatal auf, zwischen Pfarrhof, Kindergarten und Kirche. Mit zwei Jahren ist sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater von Graz in das gefühlt kleinste Dorf gezogen. Jedes Jahr hat sie dort auf das Palmbesen-Tragen zu Ostern hingefiebert und auf die wunderschön geschmückten Pferde am Georgitag. Sie wusste aber sehr bald, dass sie dort nicht bleiben würde: Da war die 30-minütige Fahrt mit dem Schulbus in den nächsten Ort ab dem Gymnasium, die Langeweile im 300-Seelen-Dorf und die Perspektivlosigkeit, wenn es um Akademiker-Jobs in der Gegend geht. Da war aber auch die Feindseligkeit, mit der ihr und ihrer Familie immer wieder begegnet wurde. Das Gefühl, immer die „Zugrasten“, die Fremden, zu bleiben, die dörfliche Enge und das Angepöbeltwerden.

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Die Rückkehrerin

Übertreffen kann die Salzburger Abwanderungs-Prognose nur der steirische Bezirk Murau (–24 Prozent), der östlich direkt an den Lungau grenzt. Die Murtalbahn, eine Schmalspurbahn, verbindet die beiden Bezirke. Auf ihren rot-grünen Sitzen bringt sie Schüler aus dem Lungau und aus Murau in die Bezirkshauptstadt und im Winter die Skitouristen auf den Kreischberg. Unter der Woche kann man alle zwei Stunden auch die Strecke in das 50 Kilometer entfernte Scheifling zurücklegen – in gut eineinhalb Stunden.

Dort, in einem Ort mit gut 2.000 Einwohnern, ist Madleine Scheriau aufgewachsen. Es ist einer jener Orte, in denen sich die Menschen freundlich grüßen und man beim Einkaufen an der Kassa ein paar Worte wechselt. Hier kommen alle Einwohner zusammen, wenn vor Weihnachten der Christkindlmarkt stattfindet und zu Ostern die Fleischkörbe gesegnet werden. Und wenn jemand stirbt, bringen die Nachbarn nur wenige Stunden später Kuchen und Kerzen vorbei. Im Garten hinter ihrem Haus feiert Madleine als Jugendliche jeden Sommer Grillfeste. Das sind Abende, an denen alle Freunde zusammenkommen, es ist der Ort, an dem man sich tagsüber die Sonne auf den Bauch scheinen lässt und die Nächte durchtanzt.

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„Die Entscheidung wieder zurück aufs Land zu ziehen, ist mir überhaupt nicht leicht gefallen.“

Manche Dinge hätte sie sich als Jugendliche aber gewünscht: ein Kino im Bezirk oder ein Lokal im Ort, in dem man sich spontan abends mit Freunden treffen kann. Am besten eines, wo man auch mit den Öffis hinkommt, damit man nicht für alles ein Auto braucht, und wo man nicht die Eltern um 2 Uhr morgens noch aufwecken muss, um einen nach dem Fortgehen abzuholen. Scheifling ist einer jener Orte, in dem man früh lernt, dass man wohl eine Zeit lang weggehen wird. Mit 18 Jahren ist Madleine dann zum Studieren nach Graz gezogen. Scheifling ist aber auch der Ort, in den die 22-Jährige vor einem Jahr zurückgekehrt ist.

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Seit einem Jahr unterrichtet Madleine Scheriau an einer Neuen Mittelschule im 15 Kilometer entfernten St. Lambrecht. In dem Ort, aus dem Lukas Wachernig nach Matura und Zivildienst weggezogen ist. Mehr als 35 Prozent der Einwohner hat der Ort im letzten Jahrhundert verloren. Es sind, wie in anderen Gemeinden, die Jungen, die gehen. Auch der heute 28-Jährige wollte raus aus dem Dorf, etwas anderes erleben, studieren. Schon während der Schulzeit war er im Theaterverein, er hat Musik gemacht und einen Film gedreht.

Daheim in München

Sowohl die Quote an Maturanten als auch die der Studienanfänger ist in Österreich in den letzten fünfzig Jahren gestiegen. Im letzten Wintersemester haben gut 47.000 Menschen zu studieren begonnen. Vor allem Maturanten aus ländlichen Gebieten wie Murau oder Tamsweg müssen dafür meistens in eine Stadt ziehen.

Manchmal fragt Lukas Wachernig sich, wie es wohl gewesen wäre, immer auf dem Land zu bleiben, aber dann hätte er seiner Leidenschaft nicht nachgehen können. Er wollte nicht nur studieren, sondern vor allem ans Theater. Seit vier Jahren ist er nun Regieassistent und Spielleiter am Gärtnerplatztheater in München. Von der Dachterrasse vor seinem kleinen Büro aus blickt er über die Dächer der bayerischen Stadt, die mittlerweile daheim geworden ist. Gleichzeitig zieht es ihn aber doch immer wieder in die alte Heimat zurück – alleine schon wegen des Biers, das daheim im Wirtshaus einfach besser schmeckt.

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„Ein Großteil in der Heimat hatte davor keinen Bezug oder keinen Kontakt zum Theater, und jetzt ist es plötzlich Gesprächsthema am Stammtisch in den Wirtshäusern, und das ist schön.“

Den Traumberuf in die Heimat holen

Genau dort ist ihm gemeinsam mit Freunden auch die Idee für die Wandelbühne gekommen, ein Theatercamp. Seit fünf Jahren veranstalten sie dieses als Ferienprogramm für hundert schauspielinteressierte Kinder und Jugendliche. Letztes Jahr im Sommer wurde das Stück Struwwelpeter inszeniert. Damit versucht er seinen Traumberuf in die Heimat zu holen.

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Man kennt Lukas Wachernig in der knapp 2.000-Einwohner-Gemeinde. Bereits als Jugendlicher war er Mitglied in der Landjugend, hat seinen Zivildienst im Benediktiner-Stift im Ort gemacht und war auch später immer in Projekten und Veranstaltungen involviert. Er könnte es sich gar nicht vorstellen, die Wandelbühne woanders als in St. Lambrecht zu organisieren: „Jeder kommt, hilft mit, hat etwas beizutragen. Und wenn er nicht direkt etwas zum Endprodukt beizutragen hat, dann bringt er was zu trinken oder zu essen vorbei. Das macht die Produktion am Land nicht nur schön, sondern auch praktisch“, erzählt er.

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Etwa 50 Einheimische sind jedes Jahr an der Theaterproduktion beteiligt. Tischler, Schlosser und Gemeindebedienstete helfen dabei, die Bühne zu bauen und Requisiten herzustellen. Eine Gruppe von Pensionisten hatte angeboten, die Tribüne zu bauen. „Das sind Dinge, die gibt’s nur am Land, das gibt es in der Stadt nicht“, meint Wachernig.

Und später sind die Leute aus der Gegend dann zum Zuschauen gekommen. Zuerst weil ihre Kinder, Freunde oder Verwandten beim Stück mitgespielt haben, und dann sind sie wiedergekommen: jedes Jahr ein paar Zuschauer mehr, jedes Jahr ein paar Schauspieler mehr. Mehr als tausend Besucher kamen dieses Jahr an den zwei Vorstellungs-Wochenenden. Aus ursprünglich 24 Schauspielern wurden hundert. Ganz in die Heimat zurückzuziehen, kann sich Lukas Wachernig aber trotzdem nicht vorstellen. Er mag das Zusammenspiel aus Stadt und Land.

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Zwischen Arbeit und Natur

Bereut hat es Madleine Scheriau im letzten Jahr nie, wieder zurück nach Scheifling gezogen zu sein. Trotz der fehlenden Lokale und obwohl sie jeden Tag das Auto braucht, um in die Arbeit zu kommen. Sie wusste immer, dass sie irgendwann wieder auf dem Land enden würde. Die junge Frau wollte eine Arbeit, die ihr Sicherheit und einen geregelten Ablauf bietet. Sie will aber auch ein Leben mit einer guten Balance, wie sie es nennt: nicht nur einen Job, bei dem sie Verantwortung übernehmen kann, Zeit für ihre Hobbys, irgendwann mal eine Familie gründen. Die 22-Jährige mag die Natur, ist gerne draußen in den Bergen oder auf der Skipiste, sie nimmt Gitarrenunterricht und ist im Schwimmverein. Auch viele ihrer Kolleginnen und Freundinnen haben wieder den Schritt von der Stadt aufs Land gewagt. Vor einem Jahr hat sie im Haus ihrer Eltern eine Wohnung für sich eingerichtet. Das alles trägt dazu bei, ein Leben zu führen, wie sie es sich vorstellt.

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„Man muss sich ein eigenes Koordinatensystem erschaffen.“

Als Sarah Pritz mit 18 Jahren nach Wien zieht, zwingt sie plötzlich niemand mehr am Dorfleben teilzunehmen. „Man wird aus dieser Enge in eine absolute Bedeutungslosigkeit geworfen“, meint sie heute. Das hat sich damals ein wenig leer angefühlt. Sie musste sich erst den Studienkollegen annähern, Wien kennenlernen und „ein eigenes Koordinatensystem der Stadt erschaffen“, wie sie es nennt. In jeder neuen Stadt streift sie gerne lange durch die Straßen, geht lieber zu Fuß, als den Bus zu nehmen. In Hamburg hat sie gerade ein Postamt entdeckt, das wie ein altes Schloss aussieht. „Man muss aktiver sein und sich eine Stadt aneignen“, sagt die 31-Jährige.

Trotzdem ist da aber auch eine gewisse Zerrissenheit. Nicht nur sie hat sich verändert, sondern auch das alte Zuhause ist ein wenig fremd geworden. Es nervt sie, dass sie sich nicht einfach mit einer alten Freundin auf einen Kaffee treffen kann. Oder dass ihre Eltern so weit weg wohnen. Sie denkt darüber nach, wie es wäre, in nächster Zeit selbst Mutter zu werden, und merkt, dass sie dann die Eltern gerne in ihrer Nähe hätte.

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Auf das Dorfleben blickt die Soziologin heute nachsichtiger. Sie weiß, dass sie nie mehr dort leben wird, das lässt auch das Dorf etwas weniger eng wirken. Die 31-Jährige kann nun die Heimat genießen, wenn sie zweimal im Jahr zu Besuch kommt. Sie weiß auch, wie es ist, sich fernab vom alten Zuhause eine neue Welt erschaffen zu müssen. Es zu versuchen, sich vom Land abzugrenzen, um dann doch zu merken, wie viel davon in einem steckt. Ob sie in Hamburg bleibt, steht für sie nicht fest, vielleicht zieht sie irgendwann wieder nach Wien. Vielleicht auch nicht. Sie ist eben eine Wanderziege. 

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