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Warum der Maßnahmenvollzug gescheitert ist
10. Dezember 2018 Maßnahmenvollzug Lesezeit 18 min
Verschleppte Reformen, steigende Einweisungszahlen, überfüllte Anstalten: Der Maßnahmenvollzug ist für die Justiz ein immer größer werdendes Problem. Und die angekündigte Reform von Justizminister Josef Moser dürfte nichts besser machen.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Maßnahmenvollzug und ist Teil 1 einer 12-teiligen Recherche.
Bild: Addendum

Wir wissen nicht, was im Kopf von Francis N. vorging. Warum er wirres Zeug stammelte und Passanten attackierte. Warum er mit heruntergelassenen Hosen, mit Axt und Hammer bewaffnet, durch Ottakring lief. Und vor allem nicht, warum er in den frühen Morgenstunden des 4. Mai 2016 am Brunnenmarkt mit einer elf Kilo schweren Eisenstange, mit einzigartiger Brutalität, wie Ermittler und Sachverständige betonten, auf die 54-jährige Maria N. einschlug, immer wieder, zehn Mal, bis sie tot war. „Hochgradige paranoide Schizophrenie“ lautete die Diagnose des Psychiaters. Wie konnte es passieren, dass ein so gefährlicher Mann frei herumlief? Multiples Systemversagen lautete die Diagnose des Abschlussberichts zum Fall, den der damalige Justizminister Wolfgang Brandstetter anforderte – bei der Polizei, der Justiz, der Jugendgerichtshilfe wurden Fehler geortet.

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Bild: Addendum
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Aber die Diskussion fokussierte schnell auf eine Einrichtung, die sich bei diesem Fall nichts hatte zuschulden kommen lassen: den Maßnahmenvollzug. Also die Unterbringung „geistig abnormer Rechtsbrecher“, die das Recht aufgrund ihrer, so formuliert es das Gesetz, „geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades“ gebrochen haben. Aus der Zeit gefallene Formulierungen sind aber bei weitem nicht das größte Problem, mit dem der Maßnahmenvollzug zu kämpfen hat.

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Endstation Maßnahmenvollzug

Francis N. war vor seiner Tat nie im Maßnahmenvollzug, der für immer mehr psychisch auffällige Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung straffällig werden, die Endstation ist. Mitte November dieses Jahres saßen 960 Personen im Maßnahmenvollzug – fast viermal so viele wie im Jahr 1990; da waren es rund 260. Und fast hundert mehr als noch Anfang des Jahres, als es 878 Personen waren. Insgesamt sitzen derzeit rund 9.200 Personen in Österreichs Gefängnissen.

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Wer sich mit dem Maßnahmenvollzug beschäftigt, stößt schnell auf große Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt: Wohin mit Menschen, die psychisch krank und potenziell gefährlich sind? Wann sagen wir als Gesellschaft: Dieser Mensch darf nicht mehr frei herumlaufen? Wenn etwas passiert ist? Oder bereits präventiv? Wer entscheidet das? Und warum steigen die Einweisungen aktuell so rapide an?

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Das Ministerium schweigt

„Weil unsere Gesellschaft zunehmend verlernt, dass es ein Risiko gibt“, sagt Christian Grafl, stellvertretender Leiter des Instituts für Strafrecht und Kriminologie in Wien: „Zusätzlich tun weltweit Politiker zunehmend so, als könnten sie dieses Risiko ausschließen.“ Das Justizministerium will sich zu all diesen Fragen nicht äußern: Es verweigert Addendum die Besuche von Justizanstalten genauso wie Interviews mit deren Leitern; auch Justizminister Josef Moser ist zu keinem Interview bereit, lediglich schriftliche Fragen beantwortet seine Pressesprecherin. Dafür liegt Addendum ein interner Monitoring-Bericht vom Juli dieses Jahres vor, in dem zu lesen ist, wieso das Thema für das Ministerium kein angenehmes ist. Die Entwicklung im Maßnahmenvollzug sei „dramatisch“ und werde „gravierende Belastungen organisatorischer und finanzieller Art zeitigen“, steht dort bereits in den Vorbemerkungen.

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Das Ministerium legt Wert auf die Feststellung, dass Justizminister Moser nur so lange nicht zu einem Interview bereit ist, bis die Reform präsentiert wurde.

Der Maßnahmenvollzug ist die schärfste Sanktion, die das Strafrecht kennt: Die Einweisung gilt unbegrenzt und präventiv – weil nämlich zu befürchten ist, dass diese Person „unter dem Einfluß seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde“. Ein bisschen wie im Film „Minority Report“ geht es beim Maßnahmenvollzug auch um die Verhinderung zukünftiger Verbrechen. Die Anlasstat, um dort zu landen, muss keine schwere Straftat sein. Sie muss eine Strafandrohung von über einem Jahr haben – eine gefährliche Drohung mit dem Tode reicht aus.

„Derzeit gibt es in der Maßnahme knapp tausend potenziell Lebenslange. Die meisten davon haben kein Delikt begangen, das mit lebenslanger Haftstrafe bedroht ist. Das ist eine beeindruckende Anzahl, das sind fast ein Achtel aller Inhaftierten“, sagt der Psychiater und Gutachter Patrick Frottier, der ein vernichtendes Urteil über den Maßnahmenvollzug fällt. Sein Wort hat Gewicht, weil er sein halbes Berufsleben im Gefängnis verbracht hat, als ärztlicher Leiter in der Justizanstalt Mittersteig tätig war, wo zurechnungsfähige Maßnahmeninsassen sitzen.

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Krank und böse?

Es sind grundsätzlich zwei Personengruppen, die im Maßnahmenvollzug landen können: Die eine sind Menschen, die psychisch krank sind, bei denen das Gesetz aber trotzdem davon ausgeht, dass sie zurechnungsfähig sind – dass sie wissen, was sie getan haben. 410 der 960 Personen im Maßnahmenvollzug gehören zu dieser Gruppe. Sie bekommen eine Haftstrafe und können über das Haftende hinaus angehalten werden, wenn das Justizsystem davon ausgeht, dass von ihnen weiterhin Gefahr ausgeht – was in über 80 Prozent der Fälle passiert.

Das klingt nicht nur für Laien verwirrend. „Wenn jemand laut Gesetz voll zurechnungsfähig und geistig abnorm ist, dann ist die geistige Abnormität  aus psychiatrischer Sicht nicht wirklich relevant. Wir sollten diesen Paragraphen daher in dieser Form verwerfen“, sagt Frottier. Die Klassifizierung als geistig abnorm, aber voll zurechnungsfähig beruhe auf einem Missverständnis: „Dass gesunde Menschen schreckliche Taten begehen, ist für viele nicht vorstellbar. Menschen müssen dafür nicht krank und gestört sein, denken Sie nur an die Gräuel im Krieg.“

Der Paragraph werde aktuell auch für Menschen genutzt, bei die tatsächlich lebenslang weggesperrt werden sollten, die „durchaus verantwortlich sind für das, was sie getan haben, aber so unglaublich gefährlich sind, dass man sie vorsorglich länger verwahren kann, als es der Haftstrafe entspricht: Serienmörder, Serienvergewaltiger, Sadisten“, sagt die Psychiaterin und Gutachterin Adelheid Kastner, die unter anderem Josef F. und die„Eis-Lady“ Estibaliz C. begutachtete.

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„Ich bring dich um“: Drohung oder Unmutsäußerung?

Für diese gefährlichen Menschen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden muss, schlägt Frottier eine Sicherungsverwahrung analog zu Deutschland vor. Dort kann unbegrenzt angehalten werden, wer gefährlich ist, auch ohne geistige Abnormität. In manchen Fällen, sagt Frottier, sei es nicht anders möglich: „Ich habe einmal jemanden begutachtet, der meinte, er würde im Falle einer Entlassung sicher wieder töten, weil ihm das Freude bereite. Was wollen Sie in diesem Fall tun? Er sagt es ja selbst.“ Dies gelte aber nur für eine ganz kleine Gruppe jener, die aktuell als zurechnungsfähig und geistig abnorm einsitzen, Frottier schätzt sie auf weniger als fünf Prozent innerhalb dieser Gruppe.

Die zweite Gruppe im Maßnahmenvollzug sind jene, die zum Tatzeitpunkt zurechnungsunfähig waren, die nicht wussten, was sie tun – der Großteil von ihnen leidet unter Schizophrenie. Sie können aufgrund ihrer Erkrankung gefährlich sein, sagt Adelheid Kastner. Ein „Ich bring dich um“ könne durchaus „eine Vorabinformation, nicht nur eine milieubedingte Unmutsäußerung“ sein. Einmal verurteilt, werden Zurechnungsunfähige ohne Schuld und Strafe angehalten. „Diese Personen sind also per Definition nicht verantwortlich, sondern krank“, sagt Kriminologe Christian Grafl und schließt eine Frage an, die für ihn eine rhetorische sein sollte: „Wo gehören Kranke hin, in ein Gefängnis oder in ein Spital?“

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Von der Beliebigkeit der Einweisung

In der Realität kann es skurril werden: „Wenn jemand aufgrund einer Geisteskrankheit plötzlich aggressiv wird“, sagt Friedrich Forsthuber, der als Obmann der Fachgruppe Strafrecht in der Richtervereinigung spricht und außerdem Präsident des Wiener Straflandesgerichts ist, „kommt entweder die Rettung oder die Polizei. Taucht die Rettung auf und er schlägt ein bisschen um sich, ist das noch keine Straftat. Taucht die Polizei auf, wird es ein Widerstand gegen die Staatsgewalt, die letztlich vielleicht zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug führt.“

Mit 155 Personen wurde im Vorjahr ein Rekord an Einweisungen bei Zurechnungsunfähigen erreicht, das zeigt der interne Monitoring-Bericht des Justizministeriums aus dem Juli diesen Jahres. Dazu kommen 163 Personen, die vor ihrem Urteil vorläufig angehalten wurden, weil es Gründe zur Annahme gibt, dass sie zurechnungsunfähig sein könnten – viele von ihnen werden im Maßnahmenvollzug landen.

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Es gäbe aber nicht mehr psychisch Kranke, sondern „es hat die Toleranz für Übergriffe abgenommen“, sagt Adelheid Kastner. „Das kann man jetzt gut oder schlecht finden, das ist einfach ein Faktum.“ Während in den Siebzigern die Maxime ‚Lieber ein Schuldiger in Freiheit als ein Unschuldiger in Haft‘ war, sei es nun genau umgekehrt, sagt Patrick Frottier. Mittlerweile würde die Bevölkerung die Gefahr, die von Kriminellen ausgeht, deutlich überschätzen. „Wir haben 50 bis 100 Morde und zwischen 1.200 und 1.500 Suizide in Österreich pro Jahr – das heißt die gefährlichste Person in Ihrem Leben sehen Sie dann, wenn Sie in den Spiegel blicken“, sagt Frottier. „Und die zweitgefährlichste steht möglicherweise hinter Ihnen, da über 60 Prozent der Morde Beziehungstaten sind.“

Mittlerweile, erzählt Kriminologe Grafl, wird sogar darüber diskutiert, bei Delikten wie Stalking die Strafandrohung hinaufzusetzen – alleine aus dem Grund, um Menschen mit solchen Delikten auch in den Maßnahmenvollzug einweisen zu können. Die Tendenz sei: „Wenn dich einer dreimal böse anschaut, muss ich sagen können: ‚Sperrts ihn weg.‘“

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Rekord bei den Einweisungen

Hoch gefährliche Menschen wie Francis N., der nach seiner Tat ebenfalls in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher landete, sind auch bei Zurechnungsunfähigen eher die Ausnahme als die Regel. Aber sein Fall war eine Zäsur, die zu einem Anstieg an Einweisungen führte. Wurden 2015 noch 19 Personen wegen strafbarer Handlungen gegen die Staatsgewalt angezeigt, waren es 2017 bereits 41. Bei den strafbaren Handlungen gegen die Freiheit, bei denen die gefährliche Drohung das häufigste Delikt ist, stiegen die Einweisungen im selben Zeitraum von 46 auf 95 Personen. Sie alle sitzen nun potenziell lebenslänglich ein; ohne schuldig gesprochen zu sein.

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Auch dem 21-jährigen Martin N. (Name geändert) blüht genau das. Er steht an einem nebligen Novembermorgen am Wiener Neustädter Bahnhof und auch ein bisschen neben sich. Vor kurzem wurde er wegen gefährlicher Drohung zur Maßnahme verurteilt, nun wartet er auf seine Einweisung. N. wirkt noch jünger, als er sowieso ist, und wer mit ihm spricht, hat nicht wirklich das Gefühl, dass er sich des Ernstes der Lage gewahr ist: dass die Justiz drauf und dran ist, die Kontrolle über sein Leben zu übernehmen, weil er sie verloren hat – und das vielleicht für eine sehr lange Zeit.

Mit der Polizei hatte er schon mehrmals zu tun, meistens ging es um Drogen, bislang ist es immer glimpflich ausgegangen. Diesmal nicht. Eine Freundin besuchte ihn eines späten Abends, N. war auf Jägermeister, Cannabis und Speed; sie kifften gemeinsam weiter, bis sich N. plötzlich einbildete, sie hätte einen komischen Akzent. Er gab ihr deshalb eine Watsche, schrie sie an. Nach ihrer Erzählung hielt er ihr auch eine Glasscherbe an die Kehle, das bestreitet er.

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Ein Gutachter urteilte, N. sei aufgrund einer drogeninduzierten Psychose geistig abnorm, zurechnungsunfähig und gefährlich – weshalb nun er in den Maßnahmenvollzug soll. Aber gehört er in dieselbe Institution, in der Francis N., die „Eislady“ Estibaliz C. und Josef F. gelandet sind?

Lebenslang für Jugendliche?

„Ich finde, Kinder und Jugendliche haben in der Maßnahme grundsätzlich nichts verloren“, sagt Markus Drechsler, Obmann des Vereins SIM (Selbst- und Interessensvertretung im Maßnahmenvollzug) und selbst ehemaliger Maßnahmeninsasse. Vor zwei Jahren gründete er nach seiner Entlassung den Verein, mittlerweile betreut er mit rund 50 ehrenamtlichen Helfern etwa 250 Angehörige und Insassen genauso wie solche, die es bald werden, und solche, die es einmal waren. Aktiv war er schon in Haft, begann dort Jus zu studieren und gründete eine Insassen-Zeitschrift. „Ich komme aus der IT-Branche, und da jammert man nicht, dass der Drucker nicht geht, sondern man versucht ihn zu reparieren.“ Dasselbe will er beim Maßnahmenvollzug erreichen, auch wenn er weiß, wie schwierig das ist. „Der erste Politiker, der sich hinstellt und ankündigt, er macht eine Reform für geistig abnorme Rechtsbrecher, kann gleich wieder zurücktreten“, sagt er. Deshalb versucht er auf einer persönlichen Ebene zu helfen.

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N. ist einer seiner Klienten, heute begleitet Drechsler ihn vom Wiener Neustädter Bahnhof zu einem Privatgutachter, dessen Expertise im Idealfall eine bedingte Nachsicht zur Folge haben soll: dass von einer Einweisung abgesehen wird, wenn N. gewisse Auflagen erfüllt. „Wie absurd die Sache ist, zeigt sich schon daran, dass N. wegen seiner Gefährlichkeit eingewiesen werden soll, aber bis zur Einweisung auf freiem Fuß ist“, sagt Drechsler. „Wenn er so gefährlich ist, wieso darf er jetzt in Freiheit sein?“

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Der dunkelste Ort Österreichs

Drechsler glaubt auch nicht, dass der Maßnahmenvollzug N. helfen könnte, weil er aktuell an seiner grundlegendsten Aufgabe scheitert: die psychisch kranken Menschen in seiner Verantwortung zu betreuen und zu therapieren. Während das forensische Zentrum im oberösterreichischen Asten als Vorzeigeanstalt gilt und in weiten Teilen einer Psychiatrie gleicht, ist die niederösterreichische Anstalt Göllersdorf offenbar das Gegenteil davon – in diesen beiden Anstalten sitzen zurechnungsunfähige Maßnahmeninsassen. Als „dunkelsten Ort Österreichs“ bezeichnet es ein Justiz-Mitarbeiter, auch er muss anonym bleiben, weil er „einen Maulkorb bekommen“ hat. Dort würden die schwierigsten Personen Österreichs sitzen, die oftmals keinerlei Chance auf Entlassung hätten. Aber sie seien krank, nicht böse; auch sie hätten es verdient, angemessen und menschenwürdig betreut zu werden. Es liege nicht an den Mitarbeitern, sondern an der Überlastung, dass das nicht passiert. Drei Psychiater gibt es dort für 131 Insassen (Stand 1.1.2018).

Als Markus Drechsler in die Justizanstalt am Mittersteig eingewiesen wurde, musste er dort einmal zwei bis drei Monate warten, bis er überhaupt in die „Basisgruppe“ kam – in der erklärt wird, wie der Alltag im Gefängnis abläuft. Der Mittersteig ist Österreichs einzige Anstalt, in der nur zurechnungsfähige Maßnahmeninsassen untergebracht sind; viele von ihnen sitzen auch in eigenen Departments in den Justizanstalten Stein, Karlau und Garsten. Sie sollten dort getrennt von normalen Insassen untergebracht werden, in der Praxis funktioniert das aber kaum.

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Therapie? Bitte warten

In der Justizanstalt Stein gibt es für 71 Maßnahmeninsassen lediglich einen Psychiater – der für nur acht Stunden pro Woche in der Anstalt ist. Am Mittersteig, wo 128 zurechnungsfähige Maßnahmeninsassen untergebracht sind, ist ein ärztlicher Dienst für gerade einmal vier Stunden pro Woche verfügbar. Als Markus Drechsler fragte, wie er hier am besten wieder rauskäme, sagte man ihm, er müsse seine Gefährlichkeit reduzieren. Wie? „Die Antwort war: Da muss man selber draufkommen“, erzählt er.

Auch seine Diagnose habe sich geändert, „im Bus auf dem Weg von der Untersuchungshaft in der Josefstadt zum Mittersteig habe ich offenbar eine Persönlichkeitsstörung verloren“. Auf die Basisgruppe folge eine Gruppentherapie und eine Einzeltherapie. Auf diese Therapien müsse man zwischen Wochen und Jahren warten, im Normalfall seien es Monate. Wer keine Therapie bekomme, könne seine Gefährlichkeit nicht reduzieren und sitze einfach seine Zeit ab – auf unbestimmte Dauer.

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Weniger Rückfälligkeit durch mehr Entlassungen

Diese unbestimmte Zeit wird immer länger. Die Entlassungsrate 2017 bei Zurechnungsunfähigen war die niedrigste seit 2009, neun Prozent der vor dem Jahr 2000 Eingewiesenen sind immer noch angehalten. Ein zurechnungsfähiger Insasse sitzt durchschnittlich doppelt so lange, wie seine eigentliche Strafdauer ist. Menschen mit kurzer Strafe seien paradoxerweise besonders benachteiligt, erzählt Markus Drechsler: „Durch die Wartezeiten auf die Therapien ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, in unter zwei, drei Jahren wieder rauszukommen.“

Dass die lange Anhaltung der Sicherheit dient, glaubt auch das Ministerium nicht: „Ebenso belegt ist die Tatsache, dass die Steigerung der Zahl bedingt entlassener Untergebrachter nicht zu einer Steigerung der Wiederkehrer-Rate und somit der Rückfälligkeit führte. Tendenziell ist eher das Gegenteil der Fall“, steht im internen Monitoring-Bericht.

Die Kombination aus vielen Einweisungen und langer Anhaltung bewirkt, dass das System mittlerweile aus allen Nähten platzt. Von den 497 zurechnungsunfähigen Untergebrachten Anfang 2018 waren lediglich 280 in Justizanstalten untergebracht. Alle anderen wurden in Psychiatrien ausgelagert, weil die Justiz in ihren Anstalten schlicht nicht genug Platz für diese Menschen hat.

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Raus aus der Psychiatrie, rein ins Gefängnis

Das Perfide dabei: Für die Psychiatrien ist diese Entwicklung sehr angenehm. Weil sie über eine besondere Konstruktion des Systems mit Maßnahmeninsassen Geld verdienen, während sie davor als psychiatrische Patienten Kosten verursachen. Denn sobald ein psychisch Kranker straffällig wird und im Maßnahmenvollzug landet, ist nicht das Gesundheits-, sondern das Justizsystem für seine Betreuung zuständig – und für die Kosten, die er verursacht; bis zehn Jahre nach Entlassung. Wird er in einer Psychiatrie untergebracht, zahlt die Justiz Tagessätze zum Privatversichertentarif.

Laut Auskunft des Justizministeriums schwanken diese je nach Psychiatrie zwischen 330 und 660 Euro pro Tag – also bis zu 20.000 Euro im Monat für einen einzigen Insassen. Während ein Tag für einen normalen Strafhäftling auf durchschnittlich 127 Euro kommt, kostet ein Maßnahmeninsasse in einer Justizanstalt zwischen 220 und 230 Euro pro Tag. Im Jahr 2017 kosteten die in Psychiatrien untergebrachten Maßnahmeninsassen die Justiz 42,5 Millionen Euro.

Um zu verstehen, wie das Problem entstand, muss man weit zurückgehen, bis ins Jahr 1975: Die Strafrechtsreform des sozialdemokratischen Justizministers Christian Broda läutete eine neue Ära des Strafvollzugs ein. Für psychisch Kranke wurden damals eigene Vollzugsformen geschaffen – der Maßnahmenvollzug war geboren. Eine gute Idee mit schlechter Ausführung, sagt Psychiater Frottier: „Die Psychiatrie hat sich geöffnet, ohne an die Konsequenz für Menschen zu denken, die mit dieser Freiheit nicht zurechtkommen“ – seitdem ist das Justizsystem für die gefährlichen unter den psychisch Kranken zuständig. Bis 1991 waren recht konstant immer rund 260 Menschen im Maßnahmenvollzug, danach stieg die Zahl der Einweisungen jedoch steil an. Im selben Jahr wurde das Unterbringungsgesetz verabschiedet, das die Voraussetzungen weiter erschwerte, Menschen gegen ihren Willen in die Psychiatrie einzuweisen.

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Das Gesetz hatte offenbar eine ungewünschte Nebenwirkung: Mehr psychisch kranke Personen wurden straffällig und landeten deshalb nicht in der Psychiatrie, sondern im Maßnahmenvollzug. „Wir haben eine Gesellschaft, die eine Wahlfreiheit erlaubt, ob man sich behandeln lässt, aber wenn man unbehandelt ein Delikt begeht, wird man für viele Jahre eingesperrt. Das ist für mich zum jetzigen Zeitpunkt ein unauflösbares Problem“, sagt Frottier.

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Zombies, Teufel und Dämonen

Genau diese Situation ist bei N. und seiner drogeninduzierten Psychose eingetreten. Für den Psychiater Pius Prosenz, der für ihn sein Privatgutachten erstellt, ist die Frage entscheidend, warum N. psychotisch wird: Sind es die Drogen, oder treten Psychosen auch auf, wenn er clean ist? Eine Gefährlichkeit sei im psychotischen Zustand immer gegeben: „Es kommt oft genug vor, dass Menschen in ihren Wahnvorstellungen töten, wenn sie Zombies, Dämonen und Teufel sehen“, sagt er.

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Martin N. müsste seiner Meinung nach über mehrere Wochen oder Monate in einem kontrollierten Umfeld sein – „wenn man ihn so lässt, nimmt er die Drogen weiter“. Der Maßnahmenvollzug wäre eine Möglichkeit für ein kontrolliertes Umfeld; die härteste, die es gibt. „Es muss die Möglichkeit gegeben sein, das mit den geringstmöglichen freiheitsberaubenden Maßnahmen zu machen“, sagt Prosenz. Nicht mit dem Vorschlaghammer der unbegrenzten Anhaltung. Aber „es ist in Österreich fast nicht möglich, irgendeine Zwangsmaßnahme zu setzen“, sagt er. Weil es keine anderen passenden Einrichtungen gibt beziehungsweise diese einen nicht festhalten können, soll N. ins Gefängnis.

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Justizminister sieht „strukturelle Mängel“

„Es sind sich ja alle einig, dass Menschen, die psychiatrisch auffällig sind, eine Behandlung brauchen. Der Punkt ist nur: Warum soll das die Justiz machen?“, sagt Kriminologe Christian Grafl. Auch der ehemalige Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) wollte eine Reform, vor allem nachdem sich die Mängel beim Maßnahmenvollzug im Foto des verfaulten Fußes eines Insassen in der Justizanstalt Stein manifestierten, das die Wiener Stadtzeitung Falter 2014 veröffentlichte. Der Fall sei „symptomatisch für strukturelle Mängel im Strafvollzug“, sagte Brandstetter damals.

Er gab ein Reformpapier in Auftrag, das Anfang Jänner 2015 präsentiert wurde und unter anderem vorsah, die Voraussetzungen für die Einweisung hinaufzusetzen – damit eine gefährliche Drohung mit dem Tode nicht mehr ausreicht, um potenziell lebenslänglich eingesperrt zu werden. Man muss beim Maßnahmenvollzug „die Festplatte komplett löschen und neu bespielen“, sagte damals der stellvertretende Leiter der Vollzugsdirektion, Christian Timm, der heute die Justizanstalt Stein leitet.

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Reform? Bitte warten

Auch die von Justizminister Brandstetter beauftragte Expertenkommission kam in ihrem Reformpapier zu dem Schluss, dass genau das passieren sollte. Die Länder – sprich das Gesundheitssystem – sollten sich entweder an der Behandlung der zurechnungsunfähigen Insassen beteiligen oder sie sollten überhaupt in das Gesundheitssystem übergeführt werden.

Passiert ist seitdem: nichts.

Als Francis N. am Brunnenmarkt Maria N. tötete, kippte er auch die Reform des Maßnahmenvollzugs. Aufgrund des Vorfalls könne die Reform nicht so umgesetzt werden wie geplant, gab Brandstetter bekannt – dem „Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft müsse ausreichend Rechnung getragen“ werden, kündigte der Minister in einer Aussendung an. Er ließ das Gesetz überarbeiten; die neue Version mit einigen Änderungen und Verschärfungen wurde präsentiert, aber nicht beschlossen. Bis zu seinem Abgang kam es zu keiner Reform. Er plante, ein zweites forensisches Zentrum neben Asten zu bauen, auch daraus wurde nichts.

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Keine Erwartungen

Der neue Justizminister Josef Moser hat bis Jahresende ein Reformpapier angekündigt, die Ankündigungen sind bislang wenig konkret. Davon, Zurechnungsunfähige in das Gesundheitssystem überzuführen, ist nicht mehr die Rede, dafür sollen sich künftig mehr Anstalten spezialisieren – das könnte bedeuten, dass beispielsweise eine zweite Justizanstalt abseits vom Mittersteig für zurechnungsunfähige Maßnahmeninsassen zuständig ist. Über Einweisungen und Entlassungen soll in Zukunft ein Kollegialgericht entscheiden, nicht ein Einzelrichter. Sie sollen in Zukunft nicht wie bisher aufgrund eines Gutachtens entscheiden, es sollen künftig ein klinischer Psychologe und ein Psychiater Gutachten erstellen, allerdings nur „abhängig von der budgetären Bedeckung“.

Als fix gilt außerdem, dass alle Maßnahmen-Insassen nach ihrer Entlassung eine Fußfessel bekommen sollen – was viel Geld kosten und wenig bringen dürfte. „Ich halte davon nicht viel“, sagt Richter Friedrich Forsthuber. „Die Fußfessel hilft nicht gegen Aggressionen, sie reduziert nicht die Gefährlichkeit.“ Ein Haftentlassener ist entweder weiterhin gefährlich oder nicht – daran ändert aber die Fußfessel nichts, insbesondere nicht bei psychisch Kranken, die eben nicht wissen, was sie tun. Forsthuber befürchtet, dass überhaupt „relativ wenig“ der Reformvorschläge verwirklicht wird.

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Auch Psychiaterin Adelheid Kastner erwartet sich „nichts mehr“ von einer Reform. Sie versteht nicht, „wieso man die Reform schon wieder neu schnitzen muss“, wenn doch genug Vorschläge auf dem Tisch lägen. Und sie glaubt, dass die wichtigste Aufgabe der Reform sein wird, Kosten einzusparen, „auf dem Rücken derer, die sich am wenigsten wehren können“. 

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