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„Die leichteste Antwort ist: Ich entlasse niemanden“
8. Mai 2019 Maßnahmenvollzug Lesezeit 6 min
Der forensische Psychiater und Gutachter Patrick Frottier über den Anstieg der Zahl der Insassen im Maßnahmenvollzug – und warum die Kritik an den Gutachtern berechtigt ist.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Maßnahmenvollzug und ist Teil 11 einer 12-teiligen Recherche.
Bild: Addendum

Die Regierung hat wieder einmal eine Reform des Maßnahmenvollzugs angekündigt – haben Sie Einblick in die Pläne nehmen dürfen?

Ich habe Einblick nehmen dürfen. Es gibt auch Informationen, die schon herausgekommen sind, wobei ich darauf hinweisen möchte, dass es seit 2014 mehrere Reformpapiere gegeben hat, die teilweise miteinander übereinstimmen und sich teilweise widersprechen. Bevor nicht offiziell ein Reformpapier am Tisch ist, glaube ich nicht, dass eins kommt. Denn die Vermutung, die ich habe, ist die: Nachdem es nicht offiziell geworden ist, sind sich nicht alle Beteiligten einig, ob sie es so wollen oder nicht.

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Also die Koalitionspartner?

Es gibt sehr unterschiedliche Ansichten, wie die Maßnahme zu sehen ist. Maßnahme kann vom Aspekt Sicherheit gesehen werden. Das Ziel ist dann, Menschen, die als gefährlich eingestuft sind, nur unter bestimmten Bedingungen wieder zu entlassen. Alle Zahlen sprechen dafür, dass dieses Konzept derzeit an erster Stelle ist. Wir haben derzeit knapp 1.000 Personen, über 10 Prozent aller Insassen, in der Maßnahme – in den 80er Jahren waren es 1,5 Prozent. Das ist ein Anstieg, der nicht mehr linear ist, sondern irgendwann einmal exponentiell wird.

Der andere, der ursprüngliche, Gedanke war 1975 bei der Einführung des Maßnahmenvollzugs: Menschen, die psychisch krank und nicht zurechnungsfähig sind, sollten die Chance haben, behandelt statt betraft zu werden. Sie sollten schon in einer gewissen Sicherheit sein, aber in einem Psychiatriekontext mit einer psychiatrischen Anstaltsleitung und dergleichen. Das war die ursprüngliche Idee. In der Erwartung, dass Behandlung mehr Erfolg hat als reines Wegsperren in der Rehabilitation und in der Rückfallprävention. Und es war natürlich auch ein durchaus humanistischer Gedanke, wenn man sagt, dass jemand, der schuldunfähig ist, nicht in ein Gefängnis kommen sollte.

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Dr. Patrick Frottier
Facharzt für Psychiatrie
Patrick Frottier ist Facharzt für Psychiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie; er arbeitet auch als forensischer Gutachter. Frottier leitet aktuell das Institut „moment“ und war ärztlicher und therapeutischer Leiter der Justizanstalt Mittersteig für geistig abnorme Rechtsbrecher.

Der Aspekt der Sicherheit wird dadurch also mit jenem der Krankheit verknüpft?

Teilweise entspricht der Maßnahmenvollzug in Wirklichkeit mehr einer Sicherungsverwahrung, wie es sie in anderen Ländern gibt. Der Unterschied ist, dass in Österreich eine psychische Störung vorliegen muss, während in anderen Ländern die Sicherheitsverwahrung unabhängig davon verhängt wird. Das hat zwei Konsequenzen. Die eine ist einfach, dass man Psychiater, Psychologen oder wen auch immer fragen muss: Liegt eine Krankheit vor und gibt es einen Zusammenhang zur Gefährlichkeit? Die zweite ist, dass es in der Öffentlichkeit und in der Justiz einen eindeutigen Zusammenhang zwischen psychisch krank und gefährlich suggeriert, der in dieser Einfachheit überhaupt nicht formuliert werden dürfte.

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Die Rolle dieser Gutachter steht immer wieder im Mittelpunkt der Kritik. Ist das gerechtfertigt?

Natürlich ist es gerechtfertigt, weil diese Gutachten eine hohe Relevanz auf das Leben der Person haben. Es gibt, wenn ich ausreichend ausgebildet und ausreichend erfahren bin, ausreichend gute Kriterien, die sagen: Es liegt eine psychiatrische Erkrankung vor, und es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dieser psychiatrischen Erkrankung und dem Delikt. Behandle ich ihn, nehme ich an, dass die Gefährlichkeit weniger wird, und das ist das Ziel der Behandlung. Bei der österreichischen Gutachterei ist das Problem: Die große Mehrheit der Gutachter ist nicht eindeutig vom Fach kommend. Und die wenigsten, auch die ausgebildeten, haben eine wirkliche forensische Erfahrung. Wir haben einige sehr renommierte, hervorragende Gutachter, aber viele behaupten auch, dass ihre Erfahrung dadurch gegeben ist, weil sie seit 15 Jahren Gutachten machen. Aber da kann man schon sagen: Erfahrung ist auch das, was man seit 15 Jahren falsch machen kann.

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Und die Bezahlung dieser Gutachter ist auch noch sehr schlecht.

Ich sehe das auch als Ausrede: Kein Mensch wird gezwungen, für schlechtes Geld ein Gutachten zu machen. Man muss es ja nicht machen. Wo Sie aber recht haben: Wer ist denn bereit, ein Gutachten für schlechtes Geld zu machen? Na ja, nicht unbedingt der, der sagt: Ich habe alle anderen Möglichkeiten, mein Geld zu verdienen. Sondern der, der eine Nische sieht, wo er relativ einfach ohne größeren Aufwand zu Geld kommt. Und die Richter sind zufrieden, weil es relativ schnell geht.

Warum ändert sich nichts, wenn doch seit Jahren bekannt ist, dass die Gutachten mangelhaft sind?

Wenn ich ein schlechtes Gutachten schreibe und das Gericht ist damit zufrieden, dann werde ich wahrscheinlich keine Notwendigkeit sehen, ein besseres Gutachten zu machen. Das heißt, ich müsste letztendlich auch die Richter ausbilden: Wie sieht eigentlich ein gutes Gutachten aus? Was darf ich fragen, was darf ich verlangen? Sehe ich nicht nur die Formalkriterien, die erfüllt sind, sondern die auch inhaltlichen? Erkenne ich wirklich das Bemühen des Gutachters, der Wahrheitsfindung beizutragen? Ich glaube, es würde dem ganzen Gutachterwesen guttun, wenn zwei Gutachter auftreten würden. Einer für die Staatsanwaltschaft, einer für die Verteidigung. Dann würde es sich niemand leisten können, schlechte Gutachten zu machen.

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Sie haben es bereits angesprochen: Die Anzahl der Personen im Maßnahmenvollzug steigt stark an. Das liegt nicht zuletzt an wenigen Entlassungen. Entlassen werden darf eine Person erst dann, wenn ihre Gefährlichkeit abgebaut wurde. Wie macht man das?

Wenn es so ist, dass die Gefährlichkeit assoziiert ist mit einer psychischen Störung, einer Krankheit, dann ist die Annahme: Behandle ich die Krankheit, wird die Gefährlichkeit geringer. Wenn jemand Stimmen hört, die ihm sagen, er muss jetzt zu dieser Person gehen und diese Person verletzen, ist keine Rückfälligkeit mehr gegeben, wenn er die Stimme nicht mehr hört.

Immer mehr Menschen kommen aufgrund von gefährlicher Drohung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt in die Maßnahme. Halten Sie das für sinnvoll?

Wenn wir es differenziert anschauen, muss man zwei unterschiedliche Seiten sehen. Wenn jemand sich bei der Festnahme gewehrt hat und daraus ein Widerstand gegen die Staatsgewalt wird, kann man sagen: Nein, das ist nicht sinnvoll, das könnte man anders handhaben. Das Gegenargument forensischer Psychiater ist aber: Wenn jemand auffällig wird und ich reagiere nicht adäquat, laufe ich Gefahr, dass ich ihn so lange nötigen und drohen lassen kann, bis irgendwann einmal etwas Schwerwiegendes passiert.

Was aber bleibt, ist die Frage: Welche Maßnahmen haben wir, ist der Maßnahmenvollzug die einzige Maßnahme? Die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten in unserer Gesellschaft ist deutlich geringer geworden. Wir wollen ein Gefühl der Sicherheit, und durch die Medien wird uns vermittelt, dass wir in einer unsicheren Welt leben – obwohl wir heute in der sichersten Zeit sind, die wir jemals hatten, verglichen mit den letzten 100 Jahren.

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Ist es im Endeffekt das Sicherheitsgefühl der Grund, dass die Einweisungen in die Maßnahme mehr werden?

Wenn Sie es rein statistisch sehen, ist es einfach zu beantworten: Die Zahlen gehen deswegen hinauf, weil mehr Leute eingewiesen als entlassen werden. Aber warum werden weniger entlassen als eingewiesen? Und da haben Sie recht mit dem Bedürfnis nach Sicherheit: Ich entlasse erst, wenn ich mich ganz sicher fühle. Aber es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Es gibt keine Intensivstation, wo kein Patient stirbt, und es gibt keinen Justizvollzug, wo keiner rückfällig wird. Wenn ich so wenig Rückfall wie möglich will, ist die leichteste Antwort: Ich entlasse niemanden.

Das kann ja nicht die Lösung sein – was wäre also eine adäquate und humanitäre Lösung?

Eine adäquate humanitäre Lösung wäre, wenn eine Gesellschaft begreift, dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung deutlich benachteiligt sind und in diesem Nachteil auch noch zur Minorität delinquent werden. Die meisten Menschen, die psychisch krank sind, werden nicht delinquent. Aber das ist ein Risikofaktor, und jetzt kann eine Gesellschaft sagen: Gut, was brauchen wir, um diesen Risikofaktor einzuschränken? Eines wäre eine Behandlungsoption, eine Unterstützungsoption, wenn die Auffälligkeit sichtbar wird. Der Versuch, die Patienten zu gewinnen, sie in einem Konzept einzubauen, wo sie die Unterstützung als Unterstützung und nicht als Sanktion wahrnehmen. 

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