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Versuchskaninchen Heimkind
5. Dezember 2018 Medikamententests Lesezeit 9 min
Heimkind, Missbrauchsopfer, menschliches Versuchskaninchen. An Walter Nowak wurden nicht zugelassene Medikamente getestet. Jetzt will er Gerechtigkeit und gegen einen der größten Pharmariesen der Welt in den Kampf ziehen.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Medikamententests und ist Teil 4 einer 4-teiligen Recherche.
Bild: Elisabeth Pfneisl | Addendum

Der Bodensee glitzert in makellosem Blau. Über dem Wasser schwebt lautlos ein Zeppelin. Das Schilf knistert im Wind. Es ist ein warmer, sonniger Tag im Mai 2018. Es riecht nach Sommer.

Eine Parkbank am Ufer. Hier könnte man den ganzen Tag sitzen, den See und den Zeppelin beobachten. Es ist absurd schön hier.

Walter Nowak führt uns über das weitläufige Gelände, das aus einer Vielzahl an Gebäuden besteht. Zwischen den Gebäuden ist es sehr grün, es gibt hohe, alte Bäume, Blumenbeete voller Blüten und sogar Gemüsegärten. Nichts deutet darauf hin, dass wir uns auf dem Gelände einer Psychiatrie befinden.

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„Da hinten wurden wir immer mit dem Bus angeliefert. Aber eigentlich habe ich immer das Gefühl gehabt, dass es in Abwesenheit der Öffentlichkeit passieren sollte. Wir sind nie über den Haupteingang reingekommen, sondern immer da hinten.“

Walter Nowak, oder Walo, wie er lieber genannt werden will, zeigt auf einen schmucklosen Betonbau, der so gar nicht zu den anderen schönen, gepflegten Gebäuden der Klinik passt.

An viele Details erinnert er sich nicht mehr. Aber er weiß noch, dass er erst für eine kurze Zeit stationär hier war und anschließend viele Tabletten nehmen musste. Zwei Jahre lang.

Es ist das Jahr 1970. Walo Nowak ist 15 Jahre alt und lebt im katholischen Kinderheim St. Iddazell.

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Aus der Dokumentation, die Walter Nowak ausgehändigt wurde
Roland Kuhn

Medikamentenversuche an schwangeren Frauen und Kindern

Zur gleichen Zeit arbeitet auf der „Seeseite“, wie die Psychiatrie salopp genannt wird, der gefeierte Arzt Roland Kuhn. Er gilt als Vater des Antidepressivums und genießt weit über Ärztekreise hinaus hohes Ansehen.

Kuhn stirbt 2005. Erst nach seinem Tod wird bekannt, dass er an 1.600 Patienten nicht zugelassene Medikamente getestet haben soll. An vielen von ihnen ohne deren Wissen. Eine Häufung von Todesfällen zu jener Zeit wurde nie untersucht. Unter seinen „Probanden“: schwangere Frauen, an denen er herausfinden wollte, ob die Medikamente beim ungeborenen Kind zu Missbildungen führen würden. Und Kinder und Jugendliche. Walo Nowak war einer von ihnen.

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Zur Vorgeschichte: Walo Nowak stammt aus Wien, schon kurz nach seiner Geburt ziehen seine Eltern in die Schweiz. Bald darauf kommt es zur Scheidung. Die Mutter ist alkoholkrank, findet einen neuen Mann, der „aus dem gleichen Holz geschnitzt ist“, wie Walo Nowak erzählt. Ihr Sohn sei schuld, dass es zur Scheidung gekommen sei, ist die Mutter überzeugt. Zu Hause wollte man ihn nicht mehr haben. So kam Walo Nowak ins Heim. Nach Aufenthalten bei Pflegefamilien und in anderen Einrichtungen landet Nowak 1969 in St. Iddazell, zu jener Zeit eines der größten Kinderheime der Schweiz.

Es ist eine traumatische Zeit. „Es hat psychische Gewalt, sehr viel physische Gewalt gegeben, es hat auch sexuelle Gewalt gegeben. Wenn du irgendwie für sie eine Strafe verdient hast, dann bist einfach zehn Tage in eine Dunkelkammer eingesperrt worden. Das war also ein Kohlenkeller, da hast du nicht einmal richtig stehen können und hast Ratten drin gehabt, eine Matratze und einen Kübel für die Fäkalien und mehr nicht.“

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Die psychiatrische Klinik Münsterlingen auf einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1970

Ein Jahr nach seiner Aufnahme in St. Iddazell wird Nowak gemeinsam mit anderen Heimkindern nach Münsterlingen gefahren und am 5. März 1970 kinderpsychiatrisch untersucht. Warum es in Nowaks Fall dazu kam, ist bis heute nicht geklärt.

Das Ergebnis der Untersuchung wird per Post an das Erziehungsheim geschickt. Darin wird von Angstzuständen des Knaben berichtet, von Konzentrationsproblemen, Kratzspuren an den Händen und schlechten Leistungen in der Schule. „Wir vermuten vor allem, dass gegenwärtig eine depressive Verstimmung vorliegt. Diese dürfte die Ursache dafür sein, dass die Schulleistungen in den letzten Monaten schlechter geworden sind. Es ist natürlich möglich, das [sic] unerfreuliche Ereignisse diese depressive Störung ausgelöst haben.“

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Was genau das für „unerfreuliche Ereignisse“ gewesen sein könnten, diese Frage stellt die Klinik nicht. Gewalt und Missbrauch seien in St. Iddazell Alltag gewesen und nicht die Ausnahme, steht in einer historischen Aufarbeitung, die Jahrzehnte später veröffentlicht wird.

Walo Nowak wird in Münsterlingen das Medikament „G 35 259“ zu 25 mg verordnet. Drei Tabletten soll er pro Tag nehmen. Kurz darauf wird die Dosis verdoppelt. In den darauffolgenden zwei Jahren kommt zu dem Medikament mit der Nummer Ketotofranil hinzu, dann ein „Ciba-Mittel“. Der Jugendliche berichtet bei den Kontrolluntersuchungen von starker Müdigkeit und Kopfschmerzen. Also kombiniert man zu all den antidepressiv wirkenden Medikamenten, die man ihm verabreicht, das aufputschende und euphorisierende Arzneimittel Ritalin, das zur Gruppe der Amphetamine gehört. Ritalin wird hyperaktiven Kindern verabreicht, um ihre Konzentration zu steigern. Nur war Walter Nowak weit davon entfernt, ein hyperaktives Kind zu sein.

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Wie sich später herausstellt, waren die Medikamente mit den Nummerierungen Wirkstoffe in der Erprobung. Der Name „Ciba-Mittel“ bezog sich auf die Ciba-Geigy AG.

Später entstand aus der Ciby-Geigy-AG durch eine Fusion mit der Sandoz AG der Pharmariese Novartis. Die Fusion fand 1996 statt und war damals die größte Firmenfusion, die jemals stattgefunden hatte. Heute ist Novartis eins der größten Pharmaunternehmen weltweit.

Die Zusammenarbeit zwischen Ciba – damals noch J. R. Geigy AG Basel – und dem Psychiater Roland Kuhn dürfte schon in den 1950er Jahren mit der Erprobung eines Schlafmittels begonnen haben. Was alles getestet wurde und wie diese Tests abgelaufen sind, ist zurzeit Gegenstand einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Kuhns Nachlass umfasst 50 Meter Aktenordner. Seit 2016 wird der Nachlass von einem Team aus Historikern der Universität Zürich im Auftrag des Kantons Thurgau gesichtet und aufgearbeitet. 2019 sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden.

Novartis möchte sich zu alledem nicht in einem Interview äußern, lässt uns aber eine Stellungnahme zukommen:

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„Novartis unterstützt in all diesen Belangen Offenheit und Transparenz. Dies gilt auch für die früheren Aktivitäten unserer Vorgängerunternehmen. Eine Forschungsgruppe am Thurgauer Staatsarchiv ist zurzeit daran, den umfangreichen Nachlass von Prof. Kuhn zu sichten und die damalige Geschichte aufzuarbeiten. Novartis arbeitet mit dieser Forschungsgruppe vollumfänglich zusammen und gewährt ihr auch Zugang zu den Informationen aus den eigenen Archiven. Wir möchten dieser Aufarbeitung von offizieller Stelle nicht vorgreifen und die Angelegenheit daher zurzeit nicht weiter kommentieren. Besten Dank für Ihr Verständnis.“

Albtraumhafter Kirchturm

Aber zurück zu Walter Nowak. Er verlässt St. Iddazell 1972, kommt zunächst bei seiner Großmutter unter und lebt dann vorübergehend auf der Straße. Aber er schafft die Kehrtwende, findet einen Job als Buchhalter, heiratet 1979 und wird Vater zweier Kinder.

An die Kindheit denkt er nicht zurück, inneren Druck baut er mit Extremsportarten ab. In beinahe selbstzerstörerischem Ausmaß. Es kommt immer wieder zu Verletzungen.

1992 scheitert Walo Nowaks Ehe, Mitte der neunziger Jahre hat Nowak dann einen so schweren Skiunfall, dass er invalide wird und in Frühpension gehen muss. Er hat nun chronische Schmerzen und wird von Schmerzmitteln abhängig. Vor seinen Kindern schämt er sich dafür und bricht den Kontakt ab.

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Später zieht er nach Südfrankreich und macht sich selbstständig. Es dauert zehn Jahre, bis er zurückkehren will. Allerdings nicht in die Schweiz, sondern nach Österreich, ins Land seiner Geburt. In Bludenz findet Nowak eine Dachwohnung neben einer Kirche. Aus mehreren Fenstern der Wohnung hat er einen guten Blick auf den Kirchturm. „Und irgendwie, wenn ich den angeschaut habe, habe ich mich immer sehr unwohl gefühlt, und wenn der dann geschlagen hat, war es noch schlimmer, dann habe ich richtige Gänsehaut gekriegt“, erzählt Nowak.

Kurz darauf setzen Albträume ein. Lange verdrängte und vergessene Szenen aus St. Iddazell. Das Exerzieren im Klosterhof. Nackt. Im tiefsten Winter. Die Schläge mit dem Gurt. Der Pater, der nachts immer über den Gang patrouillierte, mit seinen schweren Schuhen. Der Missbrauch. Die Demütigungen. Die sexuellen Übergriffe. Plötzlich ist alles wieder da.

Walo Nowak beginnt sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen, geht zur Polizei, in die Medien. Erst glaubt man ihm nicht. Der beschuldigte Pater spricht in einem Zeitungsinterview von Verleumdung. Aber dann melden sich mehr und mehr ehemalige Heimkinder. Es kommt zum Prozess. Nowak will Gerechtigkeit. Wiedergutmachung. Aber noch bevor das Verfahren zu Ende ist, stirbt der Pater.

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Mittlerweile lebt Walter Nowak in der Nähe von Wien in einem ehemaligen Lokal, das zu einer Wohnung umgebaut wurde. Nowak ist jetzt 62 Jahre alt, die Gesundheit macht ihm zunehmend Probleme. Er ist oft einsam, Gesellschaft leistet ihm nur sein Kater Polo. Die Hälfte der loftartigen Wohnung nutzt Nowak für seine Glaskunst. In aufwendiger Kleinarbeit stellt er Lampenschirme und Möbel her. Seine Gedanken zirkulieren immerzu um seine Kindheit. Er kann und will nicht akzeptieren, dass all das, was ihm geschehen ist, ohne Folgen bleiben soll. „Ich überarbeite mich momentan im Atelier, weil ich mich dabei konzentrieren muss und einfach nicht abschweifen kann. Mein Problem ist, wenn ich mich irgendwo nur hinsetze, sind meine Gedanken schnell in meiner kleinen Welt gefangen.“

„Mein Leben ist gelaufen“, sagt Walter Nowak, während er seinen Kater streichelt. Aber zumindest in Sachen Medikamentenversuche will er Genugtuung. Das ist diese eine Sache, die er noch erreichen möchte. „Bevor ich sterbe, möchte ich die Gewissheit haben, dass ich etwas Gutes getan habe.“

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Es wird ein langer, harter Kampf, auf den Walter Nowak sich nun einlässt. Um den verjährten Fall überhaupt vor Gericht bringen zu können, braucht er einen neuen Beweis. Diesen Beweis könnte ein deutscher Neuropsychologe liefern, der Walter Nowak vor einiger Zeit untersucht hat. Burkhard Wiebel weist darauf hin, dass besonders der massiv hohe Blutdruck, unter dem Walter Nowak leidet, seit er 16 ist, auf Nebenwirkungen der Medikamentenversuche zurückzuführen ist.

„Das fertige Gutachten wird im Detail die lebenslang andauernden zerebralen, endokrinen und das Transmittersystem betreffenden Schäden aus der Wirkung der Hochdosismedikation auf einen chronisch stressexponierten Heranwachsenden darstellen“, sagt Wiebel, der zum Thema Heimkinder in der Psychiatrie forscht. Und er fügt hinzu: „Der Medikamentencocktail seiner Kindheit hätte für Walter Nowak tödlich enden können.“

Wenn das Gericht das Gutachten akzeptiert, will Nowaks Zürcher Anwalt im ersten Schritt gegen den Kanton Thurgau vorgehen, wegen verletzter Aufsichtspflicht im Zusammenhang mit dem Kinderheim. Danach will er wegen der Medikamententests Novartis klagen. Eines der größten Pharmaunternehmen weltweit.

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Die Medikamententests haben Walter Nowaks Gesundheit zerstört – weswegen er nun erst recht medikamentenabhängig ist. Dadurch verdient die Pharmaindustrie ein weiteres Mal an ihm.

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In Zürich sitzen wir mit Walter Nowak und Philip Stolkin, seinem Anwalt, vor einem Aktenberg. Nowak ist aufgebracht. Seit acht Jahren versucht er auf dem Rechtsweg etwas zu erreichen. Ohne Erfolg. „Ich hoffe einfach, das Ganze dauert nicht noch einmal acht Jahre, weil ich das so lange nicht mehr durchziehen werde. Ich habe keine Minute Ruhe, ich bin immer in meiner Geschichte drin, ich kann nicht abschließen. Wie soll ich abschließen mit den ganzen offenen Sachen, die noch da sind? Zum Abschluss kann ich kommen, wenn du mir sagst: Wir hören auf. Oder wenn du mir sagst: Wir ziehen das durch – und wir das wirklich durchziehen!“

„Wir brauchen einfach das Gutachten als Beweis, dann kann ich loslegen“, antwortet Stolkin. Walter Nowak wünscht sich einen Durchbruch, Erlösung. Er ist müde.

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In Fischingen stehen wir mit ihm vor dem Kloster. Walter Nowak zeigt uns das Fenster seines ehemaligen Zimmers. Es ist lange her, dass er zuletzt hier war. Urlauber, die vom Wandern zurückkommen, sehen unser Kamerateam irritiert an.

Ein Teil des Klosters ist heute ein Hotel. Walter Nowak schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, wie man da drin ruhig schlafen kann!“

Dann gehen wir um das Gelände herum und stehen plötzlich vor der Kirche. Wir bleiben im Schatten eines Baumes stehen und sehen zum Kirchturm hinauf. Es ist genau jener Kirchturm, der bei Walter Nowak die Albträume ausgelöst hat. „Ich wollte hierherkommen, weil ich Frieden mit diesem Haus schließen muss. Aber jetzt merke ich, ich bin noch weit weg davon. Es macht mir immer noch Angst, diesen Ort zu sehen.“ 

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