Der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche schwappte im Jahr 2010 nach Österreich über. Immer mehr Betroffene physischer, psychischer und sexueller Gewalt durch Priester, Ordensbrüder und Nonnen meldeten sich. Die Zahl der Kirchenaustritte stieg rasant an, bis Jahresende sollten es fast 90.000 werden (eine Steigerung von mehr als 60 Prozent gegenüber 2009). Aus anderen Ländern war bekannt, wie tief die Kirche für Entschädigungen von Betroffenen sexueller Gewalt in ihren Reihen in die Taschen greifen musste: In den USA hatte die Diözese Los Angeles im Jahr 2007 insgesamt 508 Missbrauchsopfer mit jeweils einer Million Euro für ihr Leid entschädigt. In Irland zahlten Staat und Kirche bis 2009 1,28 Milliarden Euro an Betroffene aus – im Schnitt 65.000 Euro pro Person.
Die katholische Kirche in Österreich musste handeln. Ihre Glaubwürdigkeit im Umgang mit Betroffenen sexueller Gewalt und viel Geld standen auf dem Spiel. Ein Gremium rund um Kardinal Christoph Schönborn beriet im März 2010, wie man mit der Missbrauchsproblematik umgehen solle. Man kam überein, dass Entschädigungszahlungen geleistet werden müssten, dass sich die Kirche im Zuge dieser „freiwilligen Zahlungen“ nicht auf Verjährung berufen dürfe, und dass man eine Person außerhalb des Klerus benötige, die sich um die Abwicklung kümmere. Es fiel der Name der ehemaligen steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic, politisch versiert und Trägerin des höchsten päpstlichen Laienordens.
An einen „schicksalshaften Freitag“ erinnert sich Waltraud Klasnic in dem von ihr herausgegebenen Buch „Missbrauch und Gewalt“ (Leykam, 2013). Es war der 26. März 2010. Klasnic saß im Zug von Wien nach Graz, als sie „völlig überraschend“ von Kardinal Christoph Schönborn angerufen wurde. Ein Anruf, der, schreibt Klasnic, „mein Leben (…) völlig verändern sollte“. Schönborn, Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz, fragte sie, ob sie bereit sei, sich der Opfer von Gewalt und Missbrauch in der katholischen Kirche anzunehmen.
Nach einer ersten Zusage sei es am Nachmittag zu einem ausführlicheren Telefongespräch der beiden gekommen. „Eine Grundbedingung formulierte ich gleich: Es muss bei der Tätigkeit völlige Unabhängigkeit gewährleistet sein“, berichtet Klasnic. Noch am selben Tag habe sie sich mit ihrem langjährigen politischen Wegbegleiter und Geschäftspartner Herwig Hösele kurzgeschlossen, der ihr volle Unterstützung zusagte. Zwei Tage später, am Palmsonntag des Jahres 2010, verkündete der Wiener Erzbischof in der ORF-Pressestunde, Klasnic als „unabhängige Opfer-Beauftragte“ einzusetzen. Er sicherte Betroffenen „finanzielle Zuwendungen und Finanzierung von Therapien“ zu. Die katholische Presseagentur „Kathpress“ zitiert Schönborn zudem mit dem Satz: „Wo Täter noch belangt werden können, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden.“
Klasnic suchte ehrenamtliche Mitarbeiter für eine Opferschutz-Kommission, die umgangssprachlich bald unter dem Namen „Klasnic-Kommission“ firmierte. Kardinal Schönborn bat die ehemalige Politikerin: „Bitte helfen Sie den Opfern und der Kirche.“
Am 26. April 2010 präsentierte Waltraud Klasnic das achtköpfige Team aus Rechts- und Psychologie-Experten, das heute noch – bis auf den 2017 verstorbenen Publizisten Hubert Feichtlbauer – unverändert besteht. Ein Modell für Hilfszahlungen wurde entwickelt. Zwischen 5.000 und 25.000 Euro sollen Gewaltopfer aus dem kirchlichen Bereich zugesprochen bekommen, je nach Schwere und Auswirkung des Erlebten. Bis Ende 2018 wurden durch Beschluss der Opferschutz-Kommission – inklusive der Übernahme von Therapiekosten – rund 27 Millionen Euro für 2.022 anerkannte Betroffene ausbezahlt. Das entspricht durchschnittlich 14.000 Euro pro Person.
Seit 2011 sind die in jeder Diözese eingerichteten Ombudsstellen als Erstanlaufstellen für Betroffene zuständig. Dazu kommen seit 2013 die Diözesankommissionen, die sich mutmaßlicher Täter in den Reihen der Kirche annehmen soll. Die Opferschutz-Kommission prüft die Plausibilität der an die Ombudsstellen herangetragenen Vorwürfe und empfiehlt der von der Kirche eingerichteten Stiftung Opferschutz die Höhe der Hilfszahlungen. „Bisher wurden unsere Empfehlungen immer eins zu eins umgesetzt“, sagt Waltraud Klasnic.
Die „Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt“, lässt an der Arbeit der Opferschutz-Kommission kein gutes Haar. Deren Obmann Sepp Rothwangl ortet „Paralleljustiz“ und sieht die von Waltraud Klasnic geleitete Kommission als Teil der „Täterorganisation“ Kirche. Klasnic selbst betont stets, dass ihr Expertenteam für die Hilfszahlungen von Opfern zuständig sei. Täter würden von den dafür zuständigen Diözesankommissionen mit den Vorwürfen konfrontiert. Klasnic: „Wir sind nicht die Staatsanwaltschaft.“ Georg Prader aus Oberösterreich, in seiner Kindheit viele Jahre lang von einem Pfarrer und dessen Lebensgefährten vergewaltigt, sieht die Opferschutz-Kommission als „tolle PR-Aktion der katholischen Kirche. Die Austritte sind zurückgegangen, die Täter in den eigenen Reihen bleiben unbehelligt und die Betroffenen werden mit Almosen abgespeist.“
Ihren Kritikern entgegnet Klasnic: „Grundsätzlich muss ich sagen, die Kommission besteht aus Menschen, die zum Teil überhaupt nicht einmal katholisch sind. Also entweder nicht in der Kirche, aus der Kirche ausgetreten, evangelisch, ohne Bekenntnis. Zum Zweiten, wenn jemand das Gefühl hat, dass diese Kommission mit der Kirche identifiziert werden kann, ist das leider nicht gut verstanden, weil es nicht so ist.“
Dass den unabhängigen Einrichtungen der katholischen Kirche – den Ombudsstellen und der Opferschutz-Kommission – von vielen Betroffenen die Unabhängigkeit dennoch abgesprochen wird, zeigen Erfahrungen der Volksanwaltschaft. Sie ist für die Abwicklung der seit 2017 vom Nationalrat beschlossenen Heimopferrente zuständig. Diese bekommen ehemalige Heimkinder, die in öffentlichen, privaten oder kirchlichen Einrichtungen Gewalt erlebt haben, in Höhe von rund 300 Euro monatlich zugesprochen. Volksanwalt Günther Kräuter: „Viele Personen sagen auch, dass sie Schreckliches im Rahmen einer kirchlichen Einrichtung erlebt haben und niemanden mehr sehen wollen, der mit der Kirche zu tun hat.“ Immer wieder suchen Opfer kirchlicher Täter die Volksanwaltschaft um Genehmigung der Heimopferrente auf, ohne zuvor bei einer der von der katholischen Kirche ins Leben gerufenen Stellen um Hilfeleistungen angesucht zu haben. Zudem habe die Volksanwaltschaft – im Gegensatz zu den im kirchlichen Bereich tätigen Organisationen – die gesetzliche Verpflichtung, die Namen von mutmaßlichen Tätern an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, um eine Strafverfolgung zu gewährleisten.
Bei aller Kritik muss erwähnt werden, dass die Kriterien der von Waltraud Klasnic gegründeten Kommission von anderen, öffentlichen Stellen übernommen wurden. So passte etwa die Stadt Wien ihr Entschädigungsmodell für ehemalige Heim- und Pflegekinder exakt jenen der Opferschutz-Kommission an. Abgewickelt wurde dies über die Verbrechensopferhilfe-Organisation „Weisser Ring“. Im Gegensatz zur katholischen Kirche hat die Stadt Wien ihre Zahlungen an ehemalige Heimkinder mittlerweile eingestellt.
Im Vergleich zu anderen Ländern , wie Australien oder Irland, hält sich die Republik Österreich bei den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche nobel zurück. Es gibt keine staatliche Aufarbeitung, keine Forderung, die geheimen Archive der Diözesen zu öffnen, um an die Täter heranzukommen, keine bundesweite öffentliche Kommission, die den Hintergründen auf den Grund geht, Täter ausforscht und den Betroffenen hilft. Man scheint ganz froh zu sein, dass die katholische Kirche die Vorfälle intern oder durch selbst eingesetzte Institutionen klären lässt. Eine in der Ministerratsvorlage ursprünglich intendierte Forderung, die Kirche solle sich an der Finanzierung der Heimopferrente beteiligen, wurde vor der Abstimmung im Nationalrat ersatzlos gestrichen. Damit kommt der Steuerzahler für die Zusatzrente für Opfer aus kirchlichen Heimen auf.
In den USA rief jüngst Andrew Smith, der Polizeichef von Green Bay im US-Bundesstaat Wisconsin, zu einem Boykott kirchlicher Missbrauchsanlaufstellen auf: „Zu lange Zeit haben wir quer durchs Land gesehen, wie religiöse Organisationen, Schulen und Unternehmen versuchen, die Dinge intern abzuhandeln, wenn es Hinweise auf Schwerverbrechen gibt.“ Priester seien in andere Pfarren, Lehrer in andere Schulen, Pfadfinder-Führer in andere Gruppen versetzt worden. „Das ist nicht die Antwort“, sagt Smith, „die Antwort ist, der Polizei ihre Ermittlungen zu ermöglichen und der lokalen Staatsanwaltschaft die Entscheidung zu überlassen, ob die Vorwürfe reichen, um ein Verfahren einzuleiten.“ Smith plädiert an Betroffene sexuellen Missbrauchs, sich an die Polizei zu wenden und nur ja nicht zu einer Einrichtung der katholischen Kirche zu gehen. „Warum jener Organisation trauen, der die Vorwürfe gelten? Das hat doch keinen Sinn. Wählen Sie den Polizeinotruf.“
Kritik gibt es an Waltraud Klasnic und Herwig Hösele, dem Koordinator der Opferschutz-Kommission, wegen einer Beteiligung eines gemeinsamen Unternehmens an einem kirchlichen Immobilienprojekt. Die Dreischritt GmbH, eine PR- und Kommunikationsberatung mit Sitz in Graz, ist zu knapp 75 Prozent im Eigentum von Geschäftsführerin Klasnic, zu rund 25 Prozent ist Hösele beteiligt. Im Jahr 2017 stiegen Klasnic und Hösele mit Dreischritt in das von der Kirche geführte Tourismus-Projekt Marienkron ein. Das Kurhaus im burgenländischen Mönchhof wird derzeit aufwendig renoviert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Eigentümer sind mit den Zisterzienserinnen Marienkron (24%), den Zisterziensern Heiligenkreuz (24 Prozent), den Elisabethinen Linz-Wien (24 Prozent) und den Elisabethinen Graz (24 Prozent) vier katholische Orden. Zu jeweils zwei Prozent steht das Projekt im Eigentum eines Rechtsanwalts und eben der Dreischritt GmbH.
Auf die Frage von Addendum, ob denn eine Beteiligung an einem kirchlichen Immobilienprojekt die Unabhängigkeit Klasnic’ als Opferschutz-Anwältin nicht in Frage stelle, sagt Waltraud Klasnic, sie habe durch ihr Engagement verhindert, dass das Kurhaus geschlossen wird. „Sonst wären in Mönchhof circa 70 Leute ohne Arbeit gewesen. Darum habe ich das gemacht.“ Sie habe für neue Strukturen gesorgt. „Und damit das möglich ist, gibt es, glaube ich, einen Anteil von zwei Prozent.“ Zudem würde sie finanziell von der Firmenbeteiligung nicht profitieren. Es gebe einen Schuldenberg von 15 Millionen Euro. „Ich habe dort noch nie einen Cent bekommen und werde auch keinen bekommen.“