Zwischen Kerkerhaft und Versetzung
Missbrauch in der Kirche ist kein neues Phänomen, sondern zieht sich durch die Geschichte der katholischen Kirche. Allerdings mit unterschiedlicher Vehemenz und Transparenz. Ein historischer Abriss über die Handhabe der katholischen Kirche.
Schon im vierten Jahrhundert nach Christus gab es im jungen Christentum strenge Regeln für Glaubensbrüder. So wurden Mönche, die des Missbrauchs schuldig befunden wurden, öffentlich ausgepeitscht und zu sechs Monaten Kerkerhaft verurteilt.
Der später heilig gesprochene Benediktiner Peter Damien veröffentlicht das Buch „Liber Gomorrhianus“. In diesem verdammt er sexuelle Beziehungen von Kirchenmitgliedern und besonders diejenigen zwischen Priestern und jungen Männern. Der damalige Papst Leo IX. unterstützte Damiens Forderungen zwar, schwächte dessen Vorschläge von angedachten Strafen allerdings ab.
1123
Der Zölibat wird eingeführt. Priestern, Ordensbrüdern und -schwestern wird damit die Auslebung jeglicher Erotik verboten und Sexualität für sie kriminalisiert.
1140
Der italienische Mönch Gratian versucht alle bisherigen Kirchengesetze zu vereinheitlichen. Er fordert, dass Priester für sexuelle Vergehen schwerer bestraft werden sollen als Laien.
Im Zuge des dritten bis fünften Laterankonzils sowie des Konzils von Trient, die zwischen 1179 und 1566 stattfanden, wurde beschlossen, dass weltliche Mächte weniger Einfluss auf die Kirche und ihre Finanzmittel haben müssen. So sollte die Unabhängigkeit der Kirche garantiert bleiben. Gleichzeitig wurden die Strafen für Priester, die in Beziehungen lebten, erhöht. Je nach Umstand des Vergehens waren von Exil über Galeerendienst bis zur öffentlichen Verbrennung unterschiedliche Formen der Strafe möglich.
„Verbrechen wider die Natur“
1568
Papst Pius V. schreibt einen Brief „Romani pontifices“, um Verbrechen gegen die Natur – mutmaßlich die Vergewaltigung von Jungen – anzuprangern und Priester davon abzuhalten. Der Papst ordnet an, dass alle überführten Priester den weltlichen Behörden überführt werden sollen und alle Kirchenprivilegien aufgeben müssen.
Einer der Gründe für den erneuten Versuch, Missbrauch einzuschränken, könnte die hohe Zahl von Priestern vor der Inquisition gewesen sein. Rund zehn Prozent aller Angeklagten im 16. Jahrhundert waren Priester und Ordensmitglieder, denen Missbrauch vorgeworfen wurde.
1614
Da viele Priester die intime Situation der Beichte ausnutzten, wird aufgrund der häufigen Übergriffe auf Kinder und Frauen der Beichtstuhl eingeführt.
1617
Der Schulorden der Piaristen wird gegründet, bereits zwölf Jahre später wird dem Ordensbruder Stefano Cherubini Kindesmissbrauch nachgewiesen. Anstatt belangt zu werden, wird Cherubini 1643 zum Ordensoberen gemacht. Erst 1646 ordnet Papst Innozenz X. eine Schließung des Ordens an. Nur zehn Jahre später formieren sich die Piaristen neu, der Orden betreibt bis heute Schulen.
Nach wie vor wurde die Inquisition zur Einschränkung des Missbrauchsproblems genutzt. Forschungsberichten zufolge wurden zwischen 1723 und 1820 3.775 Fälle verhandelt, das sind rund 40 pro Jahr. 1842 beendete Papst Gregor IX. die Meldepflicht von Priestern, die während der Beichte Geschlechtsverkehr hatten, für Länder, in denen „Schismatiker, Häretiker und Mohammedaner“ lebten.
1866
Papst Pius IX. erlässt ein Edikt, dass Priester nach Bekanntwerden von Missbrauchsvorwürfen nicht mehr an weltliche Behörden übergeben werden sollen. Das Thema wird damit erstmals zu einem Geheimnis des Vatikans erklärt.
1890
Die Geheimhaltungsstufe wird erhöht: Zeugenaussagen nach einem Missbrauch durften nur vor den kirchlichen Kommissionen getätigt werden. Will ein Opfer dort gehört werden, muss ein Vertrag über die Verschwiegenheit abgeschlossen werden. Eine Meldung an staatliche Behörden wird ab diesem Zeitpunkt mit Schweigegeld verhindert.
1901
Der sozialdemokratische Abgeordnete Franz Schuhmeier thematisiert Missbrauchsfälle durch Priester im österreichischen Reichsrat und fordert Konsequenzen.
1917
Das kanonische Recht wird reformiert. Alle bisherigen Gesetze, nach denen Täter an weltliche Gerichte übergeben werden hätten müssen, wurden damit auch formal außer Kraft gesetzt und aus dem Kanon gestrichen.
Papst Pius XI. griff nicht in die Rechtslage ein, äußerte allerdings mehrmals Besorgnis über die Ausmaße des Missbrauchs, so etwa 1935 über den kontinuierlichen Wegfall an Priestern – bedingt durch persönliche Unwürdigkeit. In diesem Jahrzehnt waren zwei kanadische Ordensbrüder zum Tod durch den Strang verurteilt worden, nachdem sie Kinder vergewaltigt hatten. Da die Kinder ihren Eltern vom Missbrauch erzählten, hatten die Brüder sie kurzerhand umgebracht.
1950
Pius XII. weist darauf hin, dass Seminaristen und Priesteramtsanwärter auf ihre psychologische Eignung zum Ordensleben geprüft werden müssen.
Strategien zur Geheimhaltung und Vertuschung
2001
Josef Ratzinger verfasst als Vorsitzender der Glaubenskongregation und damit oberster Zuständiger für die Religionsauslegung den Brief „De delictis gravioribus“. In diesem wird festgelegt, dass die Vergewaltigung von Minderjährigen durch Priester in jedem Fall an die Glaubenskongregation gemeldet werden muss und diese die einzige Stelle ist, die diese Fälle kirchenrechtlich behandeln darf. Mit diesem Brief verschafft sich der Vatikan die alleinige Hoheit über Missbrauchsfälle und die notwendige päpstliche Geheimhaltung – und garantiert damit absolutes Schweigen nach außen.
Im Zuge der Untersuchung von Missbrauch durch Kirchenamtsträger in Pennsylvania sichtete eine Grand Jury unzählige kircheninterne Geheimdokumente und zog FBI-Analysten zur Erkundung der Vertuschungspraktiken zu Rate. Diese fassten die Vorgehensweise der Diözese folgendermaßen zusammen:
- Nicht von geschlechtlichen Handlungen, sondern von unangenehmen Vorfällen sprechen
- Vorwürfe nicht untersuchen
- Priester beurlauben, sobald Vorwürfe öffentlich werden
- Versetzung des Priesters nicht in der Gemeinde erklären
- Priestern muss bei Missbrauch Wohnung und Unterhalt zur Verfügung gestellt werden
- Bei Bekanntwerden von Missbrauchsfällen sollen Priester in eine andere Gemeinde versetzt werden
- Die Polizei darf nicht informiert werden
Seit Beginn der 2000er Jahre waren in den USA, in Irland, Australien, Deutschland, Österreich und weiteren Ländern immer größere Skandale von Kindesmissbrauch durch Priester und Ordensmitglieder zu Tage getreten. Die seither veröffentlichten Aufarbeitungsberichte zeigen allerdings, dass Josef Ratzinger bereits als Vorsitzender der Glaubenskongregation über das Ausmaß des Missbrauchs Bescheid wusste und noch als Papst aktiv an den Vertuschungspraktiken festhielt.
28. Februar 2013
Papst Benedikt XVI. tritt zurück. Als Grund gibt er seine angeschlagene Gesundheit an. Sein Nachfolger wird der Argentinier Jorge Mario Bergoglio unter dem Namen Franziskus.
21.–24. Februar 2019
Als Zeichen der Versöhnung und des guten Willens lädt Papst Franziskus zu einer Kinderschutz-Konferenz in den Vatikan. Opfer von Kindesmissbrauch und auch von Priestern missbrauchte Nonnen sprechen vor versammelten Mitgliedern der Kirche, nicht eingeladene Betroffene demonstrieren vor dem Vatikan. Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle berichten von konstruktiven Gesprächen zur Entwicklung neuer Richtlinien zum Kinderschutz, immanente Ergebnisse gibt es allerdings keine – nur neue Entschuldigungen.
Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und der strukturellen Probleme, die dahinter stehen, steht noch am Anfang. Die Fälle, die bis jetzt bekannt sind, bilden erst die Spitze des Eisbergs. Viele Länder haben noch gar nicht damit begonnen.
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