Als ich gehört habe, dass die türkische Grenze nach Griechenland geöffnet wird, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.“ Seit zwei Jahren lebt und arbeitet der Syrer Ahmed in der Türkei. Wir haben mit ihm vor Ort gesprochen: Dass sein Traum von einem besseren Leben in Europa kurz darauf schon wieder vorbei sein sollte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Per Bus und Taxi erreichte er die türkische Grenze. Gemeinsam mit rund 200 anderen überquerte er den Grenzfluss Evros. Doch schon einige Stunden später wurde Ahmed von der griechischen Polizei festgesetzt und mit vielen anderen in einem Obst- und Gemüsetruck wieder zurück in die Türkei gebracht. „Zumindest haben die Griechen uns das Geld nicht abgenommen“, sagt Ahmed. Die Chance, einen Asylantrag zu stellen, bekam er nicht.
Schon lange hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gedroht, jetzt hat er seinen Worten erste Taten folgen lassen: Am Samstag, dem 29. Februar 2020, öffnete die Türkei ihre Grenzen nach Europa. Daraufhin machten sich Zehntausende mit aktiver Unterstützung der türkischen Regierung, die Busse zur Verfügung stellte, auf den Weg zur griechisch-türkischen Grenze. Dort wurden sie von griechischen Polizisten und Soldaten an der Einreise gehindert, Tränengas und Gummigeschosse kamen zum Einsatz. Es sind „hässliche Bilder“, die Erdoğan bei seinem Erpressungsversuch helfen, und die Europa durch finanzielle Zuwendungen im Rahmen des EU-Türkei-Deals bislang verhindern konnte. Nahezu zeitgleich kündigte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis an, ab dem 1. März für einen Monat keine neuen Asylanträge entgegenzunehmen und all jene, die „illegal“ über die Grenze kommen, wieder zurück zu bringen.
Die vom griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis angekündigten Maßnahmen entsprechen genau jenen, die auch die österreichische Regierung im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 in Erwägung gezogen hatte. Auch damals stand die Idee im Raum, neue Asylanträge schlichtweg nicht entgegenzunehmen oder zumindest „liegen zu lassen“. Neue Asylwerber sollten also mit langen Wartezeiten rechnen müssen und daher eventuell freiwillig wieder ausreisen. Umgesetzt wurden diese Pläne allerdings nie, da die Zahl der Anträge in den darauffolgenden Jahren wieder stark zurückging.
Als Grund für die Aussetzung führt die griechische Regierung zudem an, auf die systematische und gezielte türkische Verletzung des EU-Türkei-Deals zu reagieren, da die Türkei Migranten und Flüchtlinge offen als Druckmittel einsetzt – letztlich bezeichnet Griechenland die Türkei als „Schlepperstaat“. Dabei verweist sie auch auf die besonderen Umstände und die Notwendigkeit, die EU-Außengrenzen zu schützen. Außerdem beruft sie sich auf eine kürzlich ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, demzufolge es sich bei Spaniens sofortiger Abschiebung von Migranten aus der Exklave Melilla um keine verbotene kollektive Ausweisung handelte.
Streng genommen muss Griechenland die Asylanträge all jener Menschen, die von der Türkei aus an die Grenze gelangen, bearbeiten und sie bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen als Flüchtlinge anerkennen. Dass sie bereits in der Türkei Schutz gefunden haben ändert an der Flüchtlingseigenschaft nichts – es kommt nur darauf an, ob man sich außerhalb des Heimatlands befindet.
Daher beruft sich die griechische Regierung jetzt auf die „außerordentlichen Umstände“ – jenes Argument, das auch die österreichische Regierung bei der Diskussion rund um eine „Obergrenze“ ins Feld geführt hat. Außerdem hat die griechische Regierung den Notfallmechanismus aktiviert, um die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU sicherzustellen. Ins Land einreisen lassen muss Griechenland Asylwerber während des laufenden Verfahrens übrigens ohnehin nicht – das EU-Recht gibt die Möglichkeit, Verfahren an der Grenze durchzuführen.
Die aus der Türkei gekommenen Flüchtlinge befinden sich – sofern sie die türkische Grenze überquert haben, aber noch vor griechischen Polizisten und Soldaten stehen – tatsächlich in einer Art Niemandsland. Die griechisch-türkische Grenze wurde im Vertrag von Konstantinopel von 1832 und dann noch einmal im Vertrag von Lausanne 1923 festgelegt, die beiden Länder werden großteils durch den Evros-Fluss getrennt. Da diese alten Verträge nicht ganz eindeutig sind, haben sich die beiden Länder in der Praxis darauf geeinigt, dass innerhalb des Grenzstreifens keiner von ihnen Kontrolle ausüben und etwa Polizisten stationieren soll. Theoretisch kann jedoch jeder Flüchtling einen Asylantrag bei Grenzbeamten formlos und sogar per Zuruf einbringen. Wo genau man sich währenddessen befindet, ist unerheblich. Gut möglich, dass die Menschen im Grenzbereich faktisch schon in Europa sind. Die Frage ist allerdings: Wer darf einreisen, wer muss ins Land gelassen werden? Und spielt es eine Rolle, wenn Menschen in der Türkei bereits Schutz bekommen haben?
Wenn sich Flüchtlinge und andere Migranten aus der Türkei auf den Weg nach Griechenland begeben, machen sie damit von einem allgemeinen Menschenrecht Gebrauch: dem Recht, jedes Land (auch die eigene Heimat) zu verlassen. Gleichzeitig gibt es aber kein Recht, in jedes Land einzureisen.
Eine Ausnahme gibt es für Flüchtlinge in Kriegssituationen: An solche Länder angrenzende Staaten sind dazu verpflichtet, Betroffene einreisen zu lassen. Man spricht hier vom Refoulement-Verbot: Zum einen dürfen Staaten niemanden in ein Land abschieben, in dem Verfolgung droht. Zum anderen greift diese Pflicht bereits dann, wenn verfolgte Menschen die Staatsgrenze überqueren wollen.
„Migranten“ ist der Oberbegriff und meint alle Menschen, die sich aus ihrer Heimat in ein anderes Land begeben haben. Flüchtlinge sind damit auch Migranten. Umgekehrt sind nicht alle Migranten Flüchtlinge. Daher ist hier von „Flüchtlingen und anderen Migranten“ die Rede.
vom Französischen „refouler“ – „zurückdrängen“
Die derzeitige Lage an der griechisch-türkischen Grenze passt aber nicht in dieses rechtliche Schema. Schließlich tobt in der Türkei selbst kein Krieg, sie ist vielmehr eine Art Puffer zwischen Syrien und der EU. Es wird daher immer wieder eingewandt, dass die betroffenen Flüchtlinge ohnehin schon Schutz bekommen haben, zumal sie sich oft seit Jahren in der Türkei befinden. Gleiches gilt umso mehr für Menschen, die aus anderen – oftmals wirtschaftlichen – Gründen ihre Heimat verlassen. Innerhalb der Türkei droht ihnen keine Verfolgung oder unmenschliche Behandlung. Insofern müsse die EU beziehungsweise Griechenland ihre Grenzen für diese Menschen auch nicht öffnen.
Zudem steht die Türkei aktuell auf einer Liste von Vorschlägen der Europäischen Kommission, welche Länder EU-weit als „sicherer europäischer Drittstaat“ gelten sollten. Also Länder, in denen es Asylverfahren gibt und welche die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention vollumfänglich ratifiziert haben. Bei Asylwerbern, die über solche Länder in die EU einreisen (oder es versuchen), muss – im Gegensatz zu anderen Ländern – „keine oder keine umfassende Prüfung ihres Antrags“ (Artikel 39 Asylverfahrensrichtlinie) erfolgen.
Das Konzept des „sicheren Drittstaats“ steht seit jeher in der Kritik. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Zusammenhang mit zwei Asylwerbern aus Bangladesch, die von Ungarn ohne nähere Überprüfung nach Serbien zurückgeschickt wurden, jedenfalls festgehalten, dass es im „sicheren Drittstaat“ ein Asylverfahren geben muss. So soll verhindert werden, dass Betroffene in ein Land abgeschoben werden, in dem ihnen Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht.
Im Zusammenhang mit der Türkei besteht allerdings das zentrale Problem, dass sie eines der zentralen EU-rechtlichen Erfordernisse nicht erfüllt, weil sie bei der Genfer Flüchtlingskonvention eine geografische Einschränkung vorgenommen hat. Für die Türkei können völkerrechtlich daher nur Menschen aus Europa unter die Flüchtlingsdefinition fallen, andere – allen voran Syrer – bekommen diesen Status nicht. Daher gilt die Türkei bisher nur in Bulgarien und Griechenland als „sicherer Drittstaat“, das höchste griechische Verwaltungsgericht hat diese Einstufung im Fall von zwei Syrern bestätigt.
Hier kommt auch der „Deal“ zwischen der Türkei und der EU ins Spiel, der ausdrücklich das Ziel verfolgt, „die irreguläre Migration aus der Türkei in die EU zu beenden“. Zu diesem Zweck besagt er, dass „alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, in die Türkei rückgeführt werden“ – eine, wie es heißt, „vorübergehende und außerordentliche Maßnahme, die zur Beendigung des menschlichen Leids und zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung erforderlich ist“. Aus dem Provisorium ist in den letzten Jahren ein Dauerzustand geworden. Das rächt sich jetzt.
Darüber hinaus hat die Türkei sich dazu verpflichtet, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass neue See- oder Landrouten für die illegale Migration von der Türkei in die EU entstehen“. Die Frage, ob Griechenland Menschen über die Türkei auf dem Landweg einreisen lassen muss, sollte sich also gar nicht stellen, jedenfalls nur in Einzelfällen und damit nicht in der aktuellen Intensität.
Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige schnellstmöglich zurückzunehmen, sobald die Türkei die dafür notwendigen Anforderungen erfüllt (was in der Praxis jedoch nicht geschehen ist). Hinzu kommen Zahlungen in Höhe von insgesamt 6 Milliarden Euro bis Ende 2018, die allerdings für konkrete Projekte und Hilfsleistungen zugunsten der betroffenen Flüchtlinge vorgesehen und damit an Bedingungen geknüpft sind.
Laut Europäischer Kommission wurden bislang 3,2 Milliarden Euro ausbezahlt, auch der Rest des Geldes ist bereits entsprechenden Projekten zugewiesen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan beschuldigte die EU, im Gegensatz zur Türkei ihre Verpflichtungen zum Flüchtlingsabkommen nicht zu erfüllen. Bei einem Treffen mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow in Ankara erteilte er dem letzten Angebot jedenfalls eine Abfuhr: „Wir wollen die angebotene eine Milliarde Euro nicht mehr, denn niemand hat das Recht, die Türkei zu erniedrigen.“