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EU-Türkei-Deal: Wo Erdoğan recht hat
5. März 2020 Neue Flüchtlings­welle Lesezeit 7 min
Weder die EU noch die Türkei sind zufrieden mit dem Flüchtlingspakt. Die EU kritisiert neben fehlender Effizienz auch den Umgang der Türkei mit den NGOs. Umgekehrt verweist Erdoğan auf die 4 Millionen Flüchtlinge im Land – und auf ausstehende Gelder.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Neue Flüchtlings­welle und ist Teil 11 einer 15-teiligen Recherche.
Bild: Burhan Ozbilici | AP

Im März 2016 haben die EU-Länder der Türkei einstimmig Unterstützung in Höhe von 6 Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen zugesichert. Das Geld sollte in zwei Tranchen konkreten Projekten zugewiesen werden, vom Bildungsbereich bis hin zur Integration am Arbeitsmarkt.

Seither ist viel passiert: 4,7 Milliarden Euro sind vertraglich gebunden, 3,2 Milliarden Euro wurden bislang ausgezahlt, 45,6 Millionen kamen aus Österreich, 427,5 Millionen aus Deutschland.

Der europäische Rechnungshof bemängelte allerdings fehlende Sorgfalt bei den Kosten und Intransparenz. Die Hälfte der Projekte habe nicht gebracht, was versprochen wurde. Zudem haben die türkischen Behörden die Arbeit der NGOs im Land unnötig erschwert.

655 Millionen für Erdoğans Regierung

Neben NGOs und internationalen Organisationen hat auch die türkische Regierung, konkret das Gesundheits- und das Bildungsministerium, rund 655 Millionen Euro erhalten. Geld, das Erdoğan als nicht ausreichend bezeichnet. Laut seiner Rede vom Juli 2019  beliefen sich die Kosten für syrische Flüchtlinge alleine auf rund 37 Milliarden Euro. Im Zuge der aktuellen Krise kritisiert er die EU wiederum dafür, die versprochenen Gelder „nicht überwiesen“ zu haben. Auch der bulgarische Premierminister pflichtete ihm bei, er verstehe nicht, wo das Geld bleibe.

Wolfgang Bogensberger von der Europäischen Kommission kann diese Kritik nicht nachvollziehen, schließlich werden Gelder den Grundsätzen des europäischen Finanzmanagements entsprechend „erst dann vollständig ausgezahlt, wenn alle Supportleistungen erbracht und alle Aktivitäten und Projekte abgeschlossen wurden. Das ist in der Türkei nicht anders als sonstwo. Die Gesamtauszahlungen werden vermutlich bis Ende 2020 auf 4 Milliarden Euro ansteigen. Die erste Generation von Projekten wird 2021 und die zweite 2025 abgeschlossen sein.“ Außerdem wurden im Zuge der gegenwärtigen Krise bereits zusätzliche 170 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für Syrien zugesichert.

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Wohin das EU-Geld bisher geflossen ist

Die EU hat mit der ersten Tranche 72 Projekte finanziert, rund 1,4 Milliarden Euro flossen in humanitäre Hilfe – etwa Schulbildung für betroffene Kinder oder Gesundheits- und Verwaltungskosten (darunter die Registrierung von Flüchtlingen) –, der Rest wiederum in 26 Projekte im Bereich der „Unterstützung bei der Entwicklung“.

Türkische Ministerien

Rund 422 Millionen Euro gingen an das türkische Bildungsministerium, um die Integration syrischer Kinder ins Schulsystem sicherzustellen. Das Projekt gilt als voller Erfolg, laut Kommission wurden viele der gesetzten Ziele übertroffen.

Das Gesundheitsministerium hat wiederum knapp 244 Millionen Euro erhalten, um die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen zu gewährleisten. Damit wurden 178 Gesundheitszentren für Migranten errichtet – rund 70 Prozent des Personals sind Syrer –, auch zwei Spitäler befinden sich im Bau.

NGOs und internationale Organisationen

Daneben spielen auch öffentlich-rechtliche Akteure oder internationale (Regierungs-)Organisationen eine Rolle: Allen voran das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat über eine Milliarde Euro bekommen, die an bedürftige Flüchtlingen über eine Art Bankomatkarte weitergegeben werden, auf die pro Monat 120 türkische Lira (rund 18 Euro) überwiesen werden.

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Die „Bankomatkarte“, über die das Welternährungsprogramm bedürftige Flüchtlinge unterstützt

Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau – eine öffentlich-rechtliche Förderbank – hat in Summe 120 Millionen Euro bekommen, davon 50 Millionen, um Syrer für gefragte Berufe auszubilden. Ein Weltbank-Projekt wurde mit derselben Summe ausgestattet, um ihre Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt – durch das türkische Äquivalent zum Arbeitsmarktservice und andere türkische Institutionen in dem Bereich – zu verbessern.

Dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF sind 208,72 Millionen Euro zugeflossen, die Internationale Migrationsorganisation (IOM) erhielt 20 Millionen Euro, um die türkische Küstenwache bei Such- und Rettungsoperationen zu unterstützen (insgesamt bekam sie rund 29 Millionen).

Bleiben die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), darunter der „Dänische Flüchtlingsrat“ (Danish Refugee Council, rund 12,89 Millionen Euro), das Rote Kreuz (rund 13 Millionen), die Diakonie (12,23 Millionen) oder Gesundheitsorganisationen wie die französischen Médecins du Monde (15,67 Millionen).

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„Für das Geld wäre mehr möglich gewesen“

Der Rechnungshof der Europäischen Union hat zuletzt die bis Ende März 2018 erfolgte Umsetzung des EU-Türkei-Deals einer Überprüfung unterzogen. Allerdings sind seine Angaben teilweise ungenau und unvollständig. Allgemein ist von „Projekten“ die Rede, die dahinterstehenden Akteure werden oft nicht genannt, sondern nur in „UN Organisationen“ und „NGOs“ unterteilt. Welche Organisation oder NGO konkret gemeint ist, lässt sich folglich oft nicht sagen. Fest steht aber auch, dass die Folgen des gescheiterten Putschversuchs im Sommer 2016 und die großangelegten „Personaländerungen“ innerhalb der Behörden sich auch auf die Umsetzung des Deals auswirkten. Die Tätigkeit der türkischen Ministerien wurde im Übrigen nicht bewertet.

Insgesamt sind die Angaben des Rechnungshofs äußerst vage. So wurde allgemein geprüft, ob und inwiefern die Unterstützung tatsächlich bei Flüchtlingen in der Türkei ankommt. Das Endergebnis ist durchaus ernüchternd: Die Hälfte der Projekte hat ihre vorab genannten Ziele nicht erreicht, davon vier der fünf evaluierten NGO-Projekte. Das liege allerdings auch daran, dass die türkischen Behörden die Aktivitäten von NGOs oft behindert hatten, teilweise sei es dadurch sogar zu Projektabbrüchen gekommen.

Auch die Effizienz habe zu wünschen übrig gelassen. „Für das Geld wäre mehr möglich gewesen“, fasst es der Rechnungshof zusammen. Allerdings fehlen auch zu den Zielvorgaben nähere Angaben.

Sozialbetrug und Korruption

Insbesondere habe die Kommission es verabsäumt zu prüfen, ob die veranschlagten Kosten der einzelnen Projekte gerechtfertigt sind. Ein besonders schwerwiegendes Problem bestand bei den direkten Geldleistungen an syrische und andere Flüchtlinge in der Türkei durch das Welternährungsprogramm. Weil die türkische Regierung unter Berufung auf das Datenschutzrecht keine Informationen zu den Empfängern (Namen, Identitätsnummern und Wohnadressen) offengelegt hat, ließen sich die Geldströme nicht nachvollziehen. Der Verdacht von (Sozial-)Betrug steht im Raum, es geht, wie bereits erwähnt, um über eine Milliarde Euro. Das wiegt umso schwerer, als auch im allgemeinen Fortschrittsbericht zur Türkei anhaltende Korruption bemängelt wird.

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Flüchtlingspakt als „Game Changer“?

Wie so oft machte der europäische Rechnungshof eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen, von verbesserter Überwachung der Umsetzung bis hin zum Aufruf an die türkischen Behörden, NGOs in Ruhe arbeiten zu lassen. Ob und inwiefern sie umgesetzt wurden und werden, bleibt weiter ungewiss. Zurzeit ist die allgemeine Einhaltung des Deals ohnehin fraglich.

Schon jetzt darf bezweifelt werden, ob der Deal tatsächlich eine Erfolgsgeschichte ist. Die Europäische Kommission spricht zwar von einem „Game Changer“. Sie verweist dabei auf den starken Rückgang sogenannter irregulärer Grenzübertretungen nach Griechenland und darauf, dass wesentlich weniger Menschen die im Ägäischen Meer umgekommen oder als vermisst gemeldet sind.

Kritiker bemängeln wiederum, dass nur wenige Syrer tatsächlich in die Türkei zurückgebracht wurden. Zudem habe die EU sich von Erdoğan abhängig gemacht und seine Machtstellung gefestigt: Schließlich hat auch die türkische Regierung – entgegen anderslautender (medialer) Angaben – Geld bekommen, nicht nur internationale Organisationen oder NGOs.

Flüchtlingsland Türkei

Wo Erdoğan jedenfalls recht hat: Die Türkei spürt die globalen Flucht- und Migrationsbewegungen enorm, kein kein anderes Land – in absoluten Zahlen – beherbergt mehr Flüchtlinge. Mittlerweile befinden sich laut Angaben der EU etwa 4,1 Millionen im Land, davon 3,7 Millionen Syrer.  Nur rund 7 Prozent von ihnen sind in Lagern untergebracht, der Großteil lebt in Städten, Vororten und ländlichen Gebieten.

Die Gastfreundlichkeit ist mittlerweile zurückgangen, seit den letzten Wahlverlusten fährt Erdoğans Regierung gegenüber den syrischen Flüchtlingen einen härteren Kurs. Neben vereinzelten Abschiebungen werden Flüchtlinge, die sich außerhalb der ihnen zugewiesenen Gebiete befinden, vermehrt dorthin zurückgebracht. Außerdem versucht die Regierung, sie im türkisch eroberten Nordosten Syriens anzusiedeln.

Dabei darf man auch die Nichtsyrer nicht vergessen: Etwas weniger als die Hälfte der restlichen Asylwerber ist UNHCR zufolge aus Afghanistan (46,2 Prozent), gefolgt vom Irak mit 38,5 Prozent, dem Iran (10,6 Prozent) und, weit abgeschlagen, Somalia mit 2 Prozent. Dass der türkische Präsident nun eine „gerechtere Lastenverteilung“ fordert, ist angesichts dieser Zahlen durchaus nachvollziehbar. 

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