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Gestrandet im Niemandsland
6. März 2020 Neue Flüchtlings­welle Lesezeit 6 min
Seit Präsident Erdoğan die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hat, sitzen Zehntausende in einer Art Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland fest. Wo hört die Türkei auf und wo beginnt Griechenland? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob jemand das Recht auf einen Asylantrag hat.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Neue Flüchtlings­welle und ist Teil 14 einer 15-teiligen Recherche.
Bild: Ahmed Deeb | dpa

192 Kilometer, die die Welt bedeuten: So lang ist die Grenze zwischen Griechenland – und damit der EU – und der Türkei. Ihr Ursprung geht auf das beginnende 20. Jahrhundert zurück, ihr genauer Verlauf ist bis heute unklar. Angesichts der aktuellen Krise stellt sich diese Frage mit neuer Intensität: Denn wer europäischen Boden betritt, hat ein Recht auf Bearbeitung seines Asylantrags. Unklar ist dagegen, welche EU-rechtlichen Asylpflichten „an der Grenze“ greifen.

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Das Niemandsland

Gute Nachbarn waren die Türkei und Griechenland noch nie. Griechenland erlangte Anfang des 19. Jahrhunderts als erstes Land die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Neun Jahre führten griechische Separatisten einen Unabhängigkeitskrieg, ihr Erfolg war nur durch das Einschreiten der Briten, Franzosen und der Russen möglich. 1830 wurde Griechenland als unabhängiger Staat anerkannt. Aus dieser Zeit stammt auch die ursprüngliche Grenze, die im Vertrag von Konstantinopel 1832 erstmals festgelegt wurde. Rund hundert Jahre später wurde sie im Lichte des Zerfalls des Osmanischen Reichs und des daran anschließenden türkisch-griechischen Kriegs (1919–1922) im Vertrag von Lausanne 1923 erneut festgelegt.

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Grenzstreitigkeiten am Fluss

Dieser Vertrag legt die Grenzen der neu gegründeten Türkei fest, zu Griechenland verläuft die Grenze entlang des Mariza-Flusses (griechisch Evros). Üblicherweise wird bei der genauen Grenze innerhalb von Flüssen dahingehend unterschieden, ob es dort Schiffsverkehr gibt („schiffbar“). Falls ja, verläuft die Grenze entlang des tiefsten Punkts (des Talwegs) oder entlang der üblichen Route von Schiffen.

Bei nicht-schiffbaren Flüssen wie der Mariza/dem Evros gilt üblicherweise wiederum die genaue Mitte des Flusses als Grenzlinie. Aufgrund der Sumpfgebiete und Ablagerungen verschiebt sich der Grenzverlauf allerdings immer wieder, was zu regelmäßigen Disputen führt.

Wer es über den Evros-Fluss schafft, befindet sich damit auf griechischem Staatsgebiet. Dort gibt es ein Recht auf Asyl und ein Recht darauf, während der Bearbeitung im Land zu bleiben. Eine Sofort-Abschiebung verstößt somit gegen EU-Recht.

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Landgrenzen

Daneben verläuft die Grenze vereinzelt auch auf dem Land; an zwei Stellen liegt türkisches Gebiet über dem Fluss, an einer wiederum liegt griechisches Gebiet auf der östlichen Seite des Flusses. Der genaue Verlauf ist dabei allerdings unklar, der Vertrag von Lausanne ist hier vage. Insbesondere beim „Karaağaç-Dreieck“ beim türkischen Edirne ist es nicht eindeutig, ab welchem Punkt die Türkei aufhört und wo Griechenland beginnt. Dabei ist auch zu bedenken, dass der Gedanke des „Niemandslands“ zwischen zwei Grenzen genau genommen unscharf ist: Zwar verständigen Länder sich in der Praxis oft darauf, im Grenzgebiet keine Polizisten oder Militärposten zu stationieren – das bedeutet aber nicht, dass dieses Gebiet niemandem gehört.

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Das ist bei der Türkei und Griechenland nicht anders. Ein Großteil der Asylwerber befindet sich damit zwar im faktischen Niemandsland. Theoretisch könnten sie sich formell gesehen bereits in Griechenland befinden, ohne es zu wissen.

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Was heißt „an der Grenze“?

Die Asylverfahrensrichtlinie legt Mindestgarantien fest, etwa die Pflicht, Asylwerbern Informationen in einer verständlichen Sprache zur Verfügung zu stellen oder Dolmetscher bereitzustellen, oder das Recht, während der Prüfung des Antrags in einem Mitgliedstaat zu bleiben. Darunter fallen neben dem Landesinneren wiederum das Grenzgebiet und Transitzonen.

Der Knackpunkt liegt allerdings darin, ob Asylwerber ein Recht auf Einreise haben, sie also über das Grenzgebiet hinaus ins Landesinnere dürfen. Grundsätzlich gibt es die Möglichkeit, ein Verfahren an der Grenze durchzuführen.

Dort kann entschieden werden, ob der Antrag überhaupt zulässig ist – so kann er zurückgewiesen werden, wenn jemand über einen sicheren Drittstaat einreisen möchte. Griechenland erachtet die Türkei als einen solchen sicheren Drittstaat. Allerdings besteht hierbei das Problem, dass die Türkei ein wesentliches formelles Kriterium nicht erfüllt, weil sie nur Europäer als Flüchtlinge anerkennt. Alle anderen erhalten eine Art „vorläufigen“ Flüchtlingsstatus, der so lange gilt, bis die Menschen in einem anderen Land Schutz finden.

Außerdem kann „an der Grenze“ auch über den Antrag selbst entschieden werden. Diese Möglichkeit besteht beispielsweise, wenn Antragsteller falsche Angaben gemacht oder keine Identitätsdokumente bei sich haben oder Staatsangehörige eines als sicher geltenden Landes sind (in Österreich gelten etwa Kosovo, Nordmazedonien, Algerien, Tunesien oder Serbien als „sichere Herkunftsstaaten“).

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Niemand zuständig?

Daneben legt die Dublin-III-Verordnung fest, dass jeder Asylantrag, der „an der Grenze oder in Transitzonen“ (etwa auf Flughäfen) gestellt wird, geprüft werden muss. Die genaue Bedeutung dieser Wortformel ist allerdings umstritten. Besondere Formerfordernisse gibt es jedenfalls nicht. Können Asylwerber, wie es der Asylrechtsexperte Daniel Thym ausführt, möglicherweise nur direkt am „Schlagbaum“ (also dem Übergang) einen Antrag stellen? Oder reicht schon ein lauter „Asyl!“-Zuruf in Hörweite eines Grenzbeamten aus?

Ungeachtet dessen gibt es ein weiteres Problem: Artikel 13 der Dublin-III-Verordnung zufolge ist jenes Land für die Prüfung eines Asylantrags zuständig, über das „ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat“ (sofern keine anderen Zuständigkeitsgründe vorliegen, etwa bei unbegleiteten Minderjährigen). Solange man sich nicht in Griechenland (oder irgendeinem anderen EU-Land) befindet, ist streng genommen weder Griechenland noch irgendein anderes EU-Land zuständig.

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Griechenland „setzt das Asylrecht aus“

Mit der stetig ansteigenden Zahl von Menschen an der Grenze zu Griechenland und den griechischen Inseln soll gezielt Druck auf die EU ausgeübt werden. Die Türkei hat nicht nur damit aufgehört, Flüchtlinge vom Überqueren der Grenze abzuhalten, sondern unterstützt sie sogar offen. Auf sozialen Netzwerken kursieren mittlerweile Videos, die türkische Behörden dabei zeigen sollen, wie sie massiven Druck auf Asylwerber ausüben, auf Boote zu steigen.

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Griechenlands Regierung und die EU bleiben derzeit dabei, die Grenzen geschlossen halten zu wollen. Umgekehrt hält die Türkei die betroffenen Asylwerber gewaltsam davon ab, zurückzukommen. Sie stecken somit im „Niemandsland“ fest.

Eine Pattsituation zulasten der Betroffenen. Denn der griechische Premier möchte sich von der Türkei „nicht erpressen lassen“. Obendrein hätten sich die Asylwerber seit Jahren in Sicherheit befunden. Die Menschen, die sich derzeit an der Grenze befinden, seien ohnedies keine Flüchtlinge aus der derzeit umkämpften syrischen Region Idlib. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) handelt es sich vielmehr nicht nur um Syrer, sondern überwiegend um Afghanen, Iraner, Somalier und Sudanesen.

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Am 1. März hat Griechenland außerdem bekannt gegeben, das Asylrecht – genau genommen das Recht auf einen Asylantrag – auszusetzen. Für viele ein Dammbruch, zumal die EU neben den bereits genannten Richtlinien auch ein allgemeines Recht auf Asyl verankert hat. Umgekehrt sollte aber nicht vergessen werden, dass die EU schon lange andere autokratische Regierungen dafür bezahlt, dass Asylweber gar nicht erst an die Außengrenzen gelangen – die „Türsteher Europas“, wie es heißt. Der Dammbruch besteht so gesehen eher darin, dass nun erstmals ein EU-Land selbst die „Drecksarbeit“ erledigt und Menschen mit Gewalt am Grenzübertritt hindert.

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Notstand

Die griechische Regierung scheint sich dabei auf die allgemeine EU-rechtliche Ausnahmebestimmung in Notstandssituationen zu berufen. Rechtsprechung gibt es hierzu keine, jedenfalls nicht vonseiten des Europäischen Gerichtshofs: weder dazu, ab wann ein solcher vorliegt, noch dazu, was Staaten in solchen Momenten tun dürfen (und was nicht).

Daneben kommt eine kürzlich ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ins Spiel. Darin ging es um die Abschiebung zweier Asylwerber, die gemeinsam mit einer größeren Gruppe von etwa 70 Personen den Grenzwall entlang der spanischen Exklave Melilla überwunden haben. Sie wurden ohne jedwede Prüfung ihres Asylantrags zurück nach Marokko gebracht, obwohl sie sich bereits auf spanischem Gebiet befanden.

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Was der Gerichtshof sagt …

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) fand hier entgegen einer früheren Entscheidung keine Verletzung des Verbots von Kollektivausweisungen. Seitdem ist des öfteren davon die Rede, dass es Staaten sehr wohl erlaubt sei, Asylwerber ohne Prüfung ihrer Anträge in „sichere Länder“ zurückzubringen. Insbesondere hätten die Betroffenen die Möglichkeit gehabt, regulär am spanischen Konsulat um ein Visum anzusuchen – eine Feststellung, für die das Gericht viel Kritik erntete, weil ein solcher Antrag nur geringe bis keine Chancen hat.

… und was er nicht sagt

Der EGMR hat sich aus Verfahrensgründen nicht mit dem Verbot von Abschiebungen in Länder, in denen unmenschliche Behandlung droht, befasst, weil zuvor klargestellt worden war, dass in Marokko keine derartige Bedrohung vorlag. Insofern könnte das Sperren der Grenze und Abschiebungen ohne jedwede Überprüfung des Asylantrags dennoch gegen das Folterverbot verstoßen. Ob und welche praktischen Auswirkungen das hat, wird sich erst zeigen. 

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