Während ich gestern Abend am Flughafen in Athen auf meinen Flug nach Chios warte, denke ich darüber nach, wie die Lage auf den Inseln so eskalieren konnte. In meinen Gedanken gehe ich zum Ausgangspunkt der aktuellen Ereignisse zurück. Seit 2015 beschäftige ich mich mit dem Migrationsnotstand in der EU. In dieser Zeit habe ich regelmäßig die griechischen Inseln besucht. Mein Fokus liegt dabei auf Chios und Samos, weniger auf Lesbos, das beliebteste Ziel von Journalisten, da sich hier das größte Flüchtlingslager der Ägäis befindet. Auf Samos und Chios hatte ich die Möglichkeit mitzuverfolgen, wie sich die Schwächen des EU-Abkommen auf das Leben der Insulaner auswirken. Die Stimmung hat sich bei vielen verändert. Ich bemerke dies unter anderem bei Maristina**, der Rezeptionistin in meinem Hotel auf Samos. Maristina ist eine herzliche und von Grund auf positive Frau. Sie redet am liebsten über die griechischen Politiker, den üblichen Klatsch und Tratsch oder das Wetter. Doch letzte Woche, nach den Unruhen auf Chios und Lesbos, war das Flüchtlingslager das einzige Thema, über das sie sie sprechen wollte.
Letzte Woche war der Höhepunkt der Flüchtlingskrise der letzten Jahre erreicht. Nach wochenlangen Demonstrationen und Blockaden gegen den Plan der Regierung, neue Lager, sogenannte Registrierungs- und Deportationszentren zu errichten, eskalierten die Dinge schnell. Dramatische Bilder von Polizisten, die von einer Fähre ans Land stürmten, die demonstrierenden Inselbewohner brutal schlugen und mit Tränengas beschossen, haben das ganze Land erschüttert.
In Athen wurde nach den Vorfällen der vorigen Woche ein Sondergipfel mit den Bürgermeistern der sogenannten Hotspot-Inseln einberufen, bei dem neue Maßnahmen zur Lösung der Situation beschlossen wurden. In seinem ersten Interview nach dem Treffen erklärt Samos‘ Bürgermeister Georgios Stantzos, dass die Regierung endlich auf die Forderungen der Inselbewohnern eingehen werde, und bereit sei, ein kleineres Lager zu errichten und die Menschen so schnell wie möglich von der Insel zu bringen. Viele Insulaner glauben der Regierung nach wie vor nicht. Sie fürchten, dass die Regierung ihr Versprechen erneut brechen wird, das völlig überfüllte Camp Vathy nicht schließen werde und die Insel künftig zwei Lager beherbergen wird.
Am Freitag, den 28. Februar, bin ich nach Zervou gefahren, der Ort ist 15 Minuten von Vathy entfernt. Hier entsteht das neue Flüchtlingslager der Insel. Ich spreche vor Ort mit Vasilis**, einem Demonstranten, der sich um die Zukunft der Insel sorgt: „Samos erzielt fast alle Einnahmen aus dem Tourismus. Die Insel ist kein Gefängnis.“ Wenn Europa Flüchtlinge aufnehmen wolle, sei das kein Problem. Aber dann sollten die anderen Länder sie auch aufnehmen und sie nicht auf den Inseln lassen. „Warum“, fragt er, „sollen wir sie aufnehmen? Sie wollen nicht hier sein, sie respektieren unsere Bräuche nicht, also sollten sie dorthin gehen, wo sie sein wollen! Dieses neue Lager ist eine Lüge.“ Vasilis dreht sich um und geht. Nach einigen Metern dreht er sich noch einmal um und ruft mir zu: „Wo ist Europa?“
Das Zervou-Lager sollte ursprünglich bereits Ende Februar eröffnet werden. Die Regierung sieht es als wichtigen Schritt zur Bewältigung der Migrationskrise. 5.000 Personen sollen hier aufgenommen werden, der Registrierungs- und Abschiebungsprozess soll beschleunigt werden. Doch das Camp ist noch lange nicht fertig. Ich gehe über die Baustelle, überall liegen Baumaterialien, Rohre und Kabel herum. Vor mir befindet sich ein großes Lagerhaus, hinter dem sich Reihen von Containern mit Solarheizungen befinden. Gearbeitet wird hier nicht.
Plötzlich rennen sechs Polizisten auf mich zu, halten mich fest und zerren mich in ein Polizeiauto. Mit Blaulicht geht es zum Polizeirevier. Ich denke an eine Diskussion mit dem griechischen Vizepräsidenten der EU-Kommission, zuständig für Migration und den Schutz der europäischen Lebensweise, Margaritis Schinas, das ich Mitte Februar in Wien geführt habe. Darin sagte er mir, Europa sei auf einen möglichen Anstieg der Flüchtlingszahlen „besser vorbereitet als 2015“. Dem widerspricht sein Parteikollege der Nea Dimokratia, der stellvertretende Innenminister Georgios Koumoutsakos deutlich: „Griechenland ist wie ein Glas Wasser, und wir sind voll!“ Die Situation auf der Insel zeigt, wie weit die Aussage des EU-Vizepräsidenten von der Realität entfernt ist.
Auf der Polizeistation erzählt mir ein Beamter, dass er seit fünf Jahren auf Samos lebe. Wie ich hat er auch die Veränderung der Menschen bemerkt. Obwohl es eine Zeit lang ruhig war, brodelte es unter der Oberfläche, es herrschte immer eine gewisse Spannung. „Es ist“, sagt er mir, „als ob die Leute immer wieder ein bisschen angestupst wurden, jetzt reicht es ihnen, jetzt reagieren sie.“ Ich frage ihn, wie es zu der Polizeigewalt auf Chios und Lesbos kommen konnte. Er antwortet nicht, aber sein missbilligendes Stirnrunzeln sagt alles.
Zurück im Hotel stehen Maristina und ich auf einem Balkon. „Schau mal!“, sagt sie und zeigt auf den Hügel, auf dem das Camp liegt. „Sie haben dieses Stück Land letzte Woche verbrannt!“ Es stellt sich heraus, dass Migranten, die in Zelten am Hang lebten, ein Feuer entfachten, um sich warm zu halten. Dieses breitete sich schnell aus und führte zu einem Flächenbrand. „Wenn ich das mache, werde ich ins Gefängnis gehen, aber bei denen ist es in Ordnung, ich verstehe das nicht mehr.“ Die Frustration über die Nichtanwendung der Gesetze bei den Flüchtlingen ist ein wiederkehrendes Thema in Gesprächen. Schließlich schaut sie mich an und sagt: „Das ist nicht das Europa in dem ich leben will! Wie konnten wir so versagen.“
Am selben Abend erreicht mich die Nachricht, die Türkei habe die Grenzen nach Griechenland für Flüchtlinge geöffnet. Damit ist der EU-Türkei-Deal am Ende, ein neues Kapitel der Flüchtlingskrise beginnt. Ich fliege zurück aufs Festland und fahre nach Orestiada an die Grenze zur Türkei. Auf der Fahrt sehe ich Konvois von Militärfahrzeugen, die auf dem Weg zur Grenze sind. Um Mitternacht erhalte ich eine Nachricht von einem syrischen Freund aus Wien. Er erzählt mir, dass ein Bekannter es gerade über die Grenze geschafft hat. Er schickt mir seinen Standort über Google Maps. Ich breche sofort zu dem Ort auf und stelle fest, dass das griechische Militär schneller war. Die Soldaten haben Scheinwerfer im Einsatz, Hunde bellen. Ich sehe eine Gruppe von Flüchtlingen auf dem Boden kauern. Sie haben es nicht geschafft und werden, so wird vermutet, zurückgeschickt. Ich frage bei meinem Freund nach, wo sein Bekannter ist. Er erzählt mir, er habe nichts mehr von ihm gehört.