Seit der Ankündigung der Türkei, ihre Grenze zu Griechenland nicht mehr zu kontrollieren, boomen Angebote von Schleppern. Wer auf Facebook in arabischer Sprache „Passage nach Griechenland“ oder „Passage nach Europa“ in die Suchmaske tippt, bekommt mittlerweile mehr als hundert private oder auch offene Gruppen angezeigt.
Zusammen mit einem Lockvogel nehme ich per Direktnachricht Kontakt zu einer dieser Gruppen auf. Er schreibt, dass er in der türkischen Stadt Mersin lebe und seine Schwester, ihre zwei Kinder und ich die Türkei nach Europa verlassen wollen. Zehn Minuten später bekommt er eine Antwort. Nach einem kurzen Austausch wird ihm eine türkische Telefonnummer mitgeteilt. Das Gespräch wird über WhatsApp fortgesetzt.
Der Schlepper teilt ihm mit, über welche Stationen seine Reise verlaufen wird: Zuerst soll es mit dem Bus nach Çanakkalle gehen. Dort werde er den Schlepper treffen, der ihn, seine Schwester und die Kinder per Minivan dann zum Strand fahren werde. Von dort aus soll es nach Lesbos gehen. In nur 35 Minuten werden seine Familie und er in Europa sein. Unser Lockvogel fragt nach der Situation auf der Insel, ob die Gerüchte wahr sind, dass „Menschen bei ihrer Ankunft für Monate ins Gefängnis gebracht werden“. Der Schlepper antwortet, dass das alles nicht stimme und es keinen Grund zur Sorge gebe: „Ihr werdet nur zwei Tage von der Küstenwache festgehalten, dann bekommt ihr eure Papiere zurück.“ Der Schlepper will das Geschäft ganz offensichtlich so schnell wie möglich abschließen.
Jetzt geht es um den Preis: Der Schlepper verlangt 850 US-Dollar pro Person. Für die beiden Kinder würde nur die Hälfte, also jeweils 425 US-Dollar anfallen. Er fügt dann allerdings hinzu, dass dies nur gelte, wenn sie nicht besonders groß und schwer seien. Ansonsten müsse er aufgrund des zusätzlichen Platzes den vollen Preis berechnen. Der Lockvogel teilt ihm mit, dass er nicht so viel Geld habe. Der Schlepper überlegt und antwortet, dass er ein guter Kerl sei und Menschen helfen wolle. Sobald sie in Çanakkale ankämen, könnten sie noch einmal über den Preis sprechen.
Mit den Worten, er werde darüber nachdenken, beendet der Lockvogel das Gespräch. Zurück auf Facebook sucht er nach einem anderen Schmuggler. Auch dieser will sich nur über Whatsapp unterhalten. Er ist günstiger, verlangt 700 US-Dollar pro Person, Kinder würden unabhängig von ihrer Größe kostenlos mitgenommen.
Auf Nachfrage schickt er Links zu YouTube-Videos, die angeblich vorherige erfolgreiche Schlepperfahrten zeigen. Auf einem dieser Videos sind junge Männer zu sehen, die davon schwärmen, wie gut alles verlaufen sei.
Diese Männer sind so etwas wie Werbetestimonials für die Schlepper. Sie sollen unentschlossene „Kunden“ dazu bringen, eine Fahrt mit den Schlepperbooten zu kaufen. Ob die Männer wirklich auf Samos angekommen sind, wie sie behaupten, oder für dieses Video bezahlt wurden, lässt sich schwer verifizieren. Fest steht, dass Menschen mit falschen Versprechungen in die Arme der Schlepper gelockt werden sollen.
Martin Hofmann, Migrationsexperte beim International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) mit Sitz in Wien, bestätigt, dass es finden letzten Tagen einen deutlichen Anstieg der Schlepperaktivitäten gibt. Einige Leute würden die Gelegenheit sehen, rasch viel Geld zu verdienen. Viele von ihnen hätten bislang nichts mit Schlepperei zu tun. Hofmann betont aber, dass wir es hier mit einer Ausnahmesituation zu tun haben. Das Schlepperwesen habe sich in den vergangenen Jahren in die Richtung einer Art informeller Tourismusbranche entwickelt. Neue Erkenntnisse zeigten auch, dass diese neue Strukturen nur selten mit der klassischen Organisierten Kriminalität in Verbindung stehen.
Manche Flüchtlinge versuchen es ohne Schlepper und wagen die Überfahrt in einfachen Faltbooten. Das Video wurde im Oktober 2019 an der türkischen Küste aufgenommen:
Letzte Woche habe ich auf Samos den 24-jährigen Jasim getroffen. Er erzählt mir von seiner Reise über die Ägäis. Er hat nur 500 US-Dollar für die Fahrt gezahlt. Dafür musste er dem Schmuggler dabei helfen, das Boot zu steuern. Das Boot legte morgens früh vollbesetzt von der türkischen Küste ab, nach etwa 15 Minuten Fahrt übergab der Schlepper Jasim die Lenkstange des Außenbordmotors, sprang von Bord und schwamm zurück in Richtung Türkei. Bei der Ankunft des Bootes wurde Jasim sofort verhaftet und als Schlepper angezeigt.
Seit der Grenzöffnung am vergangenen Wochenende haben die griechischen Inseln einen kurzen Anstieg der Ankunftszahlen verzeichnet. Da die See seit Montag aber sehr rau war, haben viele Menschenschmuggler ihre Schlepperfahrten verschoben. Ab Freitag soll sich das Wetter wieder beruhigen, aller Voraussicht nach werden die Ankünfte dann wieder sprunghaft zunehmen. Die griechische Regierung hat sich schon darauf vorbereitet und ein Militärschiff nach Lesbos geschickt. Hier sollen die Neuankömmlinge untergebracht werden. Das seit Jahren hoffnungslos überfüllte Lager Moria beherbergt mittlerweile etwa 20.000 Menschen.
Fotis Garoufalias, Präsident der Küstenwache in Lesbos Hauptstadt Mytilini, sagte gestern Abend gegenüber Medienvertretern: „Die Anweisungen lauten, sie (die Flüchtlinge, Anm.) zu registrieren, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen.“
Bis zu 500 Flüchtlinge sollen auf dem Boot aufgenommen werden und dann so schnell wie möglich aufs griechische Festland gebracht werden. Ein „strenges Kontrollsystem“ solle verhindern, dass sich unter die Neuankömmlinge Menschen mischten, die zuvor bereits auf der Insel Lesbos in Flüchtlingslagern gelebt hatten und nun versuchten, ebenfalls an Bord zu gehen.