Flucht und Migration zählen zu den Hauptthemen der Gipfelkonferenz der Afrikanischen Union in Addis Abeba. In unserer ersten Ausgabe der Addendum-Zeitung haben wir uns mit dieser Thematik ausführlich beschäftigt. Einige Geschichten aus unserer Printzeitung wurden jetzt aus aktuellem Anlass auch online aufbereitet.
Text: Robert Kappel
Es gibt viel Positives über einige afrikanische Länder zu berichten. Nach dem verlorenen Jahrzehnt der 1990er Jahre mit vielen Krisen, Kriegen und Katastrophen verzeichneten einige Staaten wie Äthiopien, Ruanda und Tansania ein relativ hohes Wirtschaftswachstum, und das über die vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre. Die Mittelschichten in den Ländern des Kontinents sind gegenwärtig noch klein, aber in einigen Ländern im Zuge des Wachstumsprozesses größer geworden. Die Bevölkerung hat heute einen leicht höheren Lebensstandard als vor zehn Jahren. Dennoch bedarf es eines jährlichen Wachstums von mindestens 6 Prozent, um das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von 750 US-Dollar pro Jahr bis zum Jahr 2025 zu verdoppeln.
Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Staaten ein hohes Bevölkerungswachstum von ca. 2,5 Prozent aufweisen. Nur ganz wenige haben eine demografische Transition durchlaufen, etwa Mauritius und die Kapverden. Was die Umsetzung der Millennium Development Goals der Vereinten Nationen betrifft, hat Subahara-Afrika (SSA) durchaus gewisse Erfolge vorzuweisen, beispielsweise bei den Einschulungsraten und dem Zugang zu Gesundheitsdiensten. Von der Reduktion der Armut auf die Hälfte des Jahres 1995 ist die Region allerdings weit entfernt. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung des Kontinents sind nach wie vor arm. Armut ist vor allem auf dem Land wegen der Benachteiligung des ländlichen Raums anzutreffen und am meisten unter Frauen, Mädchen und Kindern verbreitet.
Positiv ist das Engagement der afrikanischen Staatengemeinschaft zu bewerten, wie der Plan zur Schaffung einer afrikanischen Freihandelszone. Dass auch Entwicklungshilfe dabei keine so große Rolle mehr spielt, ist als positives Signal zu werten. Optimistisch stimmen zudem steigende staatliche Steuereinnahmen, die deutlich höher als die Auslandsdirektinvestitionen und die Geldtransfers der Emigranten (Remittances) sind. Ein wachsender Mittelstand von Unternehmen, steigende Investitionen in die Infrastruktur und ein in den vergangenen zehn Jahren gewachsenes Interesse von Unternehmen aus China, Indien und den Golfstaaten deuten Veränderungen des wirtschaftlichen Milieus an. Dies hat in den Medien zur Charakterisierung Afrikas als Zukunftsmarkt geführt.
Der Kontinent mit 55 verschiedenen Ländern zeichnet sich durch große Vielfalt und unterschiedlichste Entwicklungsgeschwindigkeiten und -voraussetzungen aus. Es gibt zahlreiche Länder mit sehr geringer Bevölkerung (Botswana, Gambia, Guinea-Bissau, Liberia, Namibia). Küsten- oder Binnenländer unterscheiden sich voneinander, und rohstoffexportierende bzw. rohstoffarme Länder haben sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen. Es gibt Länder mit hoher Migration, wie Eritrea, Somalia, Guinea und Mali. Relevant ist auch, ob und zu welchem Zeitpunkt einzelne Länder wirtschaftspolitische Reformen durchgeführt haben. Während reformresistente Länder wie Eritrea und Simbabwe immer weiter in die Krise versinken, haben u.a. Ghana, Senegal, Äthiopien, Ruanda und Tansania frühzeitig die Weichen für Entwicklung gestellt. Diese waren auch über einen langen Zeitraum recht stabil, andere Länder hingegen sind fragil, etwa Somalia, Burundi und der Südsudan.
Unumkehrbar ist der Verstädterungsprozess. Einige Länder verzeichnen hohe Urbanisierungsraten (z.B. Nigeria und Südafrika), dort leben inzwischen mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in Städten. Länder wie Kenia und Uganda sind hingegen überwiegend ländlich geprägt. Große urbane Zentren wie Johannesburg, Lagos, Nairobi, Luanda oder Abidjan sind das neue Gesicht Afrikas. Dort entsteht eine neue wirtschaftliche und kulturelle Dynamik mit modernen Unternehmen, selbstbewussten Startups, Banken und Versicherungen; und zugleich wachsen die Slums mit hoher Arbeitslosigkeit, informellen Jobs und extremer Armut.
Das afrikanische Wachstum weist zwei große miteinander verbundene Probleme auf: 1. Das Wachstum war nicht beschäftigungsintensiv, es koppelte sich von der Schaffung von Arbeitsplätzen ab. 2. Dies hat vor allem mit dem besonderen Strukturwandel zu tun: Die Transformation der wirtschaftlichen Prozesse verläuft in Afrika anders als in erfolgreichen industrialisierenden Ländern wie Vietnam oder China. Arbeitskräfte aus der meist unproduktiven Landwirtschaft finden keine Beschäftigung in der Industrie, sondern wandern in die informellen urbanen Sektoren. Circa 70 Prozent der Menschen überleben mit Mikrounternehmen, als prekär Beschäftigte oder als Subsistenzbauern. Nur wenigen Ländern ist in den Jahren seit der Unabhängigkeit eine strukturelle Transformation mit moderner Industrie und produktiver Landwirtschaft gelungen.
Einige Länder verzeichnen ein sehr hohes Wirtschaftswachstum, sodass auch die Armut sank. Dies illustrieren die vor Jahren noch extrem armen Länder Ruanda und Äthiopien. Sie befinden sich auf dem Weg von einem Niedrigeinkommensland zu einem Mitteleinkommensland, vorausgesetzt das Wachstum setzt sich weiter fort. Die bereits reichsten Länder im Jahr 1990 – Seychellen, Äquatorialguinea, Mauritius, Botswana, Gabun, Südafrika und Namibia haben den Abstand zu den meisten armen Ländern auf dem Kontinent erhöhen können. In diesen Ländern steigt die Zahl der Armen sogar seit dem Jahr 2000 an, sie verbleiben im Club der zwanzig Niedrigeinkommensländer.
Mit Ausnahme von Südafrika und Mauritius haben sich die Staaten des subsaharischen Afrika nach anfänglichen Erfolgen nach der Unabhängigkeit trotz vieler staatlich gesteuerter Industrialisierungskonzepte deindustrialisiert. Erst während der letzten Jahre begannen einige Länder mithilfe ausländischer Unternehmen moderne Fabriken aufzubauen, etwa Äthiopien, Kenia oder Senegal. Die ärmeren Länder bleiben zurück und können sich angesichts des schnellen technologischen Wandels und der globalen Nachfrageverschiebungen hin zu Dienstleistungen kaum noch erfolgreich modernisieren. Der Wertschöpfungsanteil der verarbeitenden Industrie ist zumeist sehr gering.
Als entscheidende Faktoren für den industriellen Erfolg gelten niedrige Löhne und hohe Arbeitsproduktivitäten. Auf diesem Gebiet können jedoch nur wenige Länder wirklich konkurrieren (wie Südafrika oder Äthiopien), weshalb die meisten Länder sogar gegenüber asiatischen Ländern wie Malaysia, Kambodscha oder Indonesien zurückfallen.
Von besonderer Bedeutung ist auch, dass die meisten afrikanischen Länder im Produktzyklus zu spät kommen. Ausnahmen sind die meist von multinationalen Konzernen betriebenen Produktionen von Autos in Südafrika und Ägypten. Kaum ein anderes afrikanisches Land fertigt in den sogenannten Sonderwirtschaftszonen Konsumgüter für den Weltmarkt. Fast nirgendwo gelang es, durch Produktimitation einen Industrialisierungssprung zu machen und die technologische Lücke zu schließen. In fast allen Ländern fehlt es an den dazu erforderlichen technologischen Kompetenzen.
Insgesamt weisen die Länder Afrikas einen technologischen Rückstand sogar gegenüber asiatischen Ländern auf. Der Abstand wird eher größer als kleiner, was auch mit der Roboterisierung und der Digitalisierung zu tun hat. Zwar hat Afrika in den letzten zehn Jahren sehr hohe Wachstumsraten in der Internetnutzung zu verzeichnen, kann aber kaum Anschluss halten. Die Mehrheit der Betriebe nutzt überhaupt kein Internet und ist dadurch von Marktinformationen deutlich abgehängt.
Es gibt ein paar Vorzeigeländer, wie Senegal und Ruanda, die in eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung investiert haben. Sie haben den Mittelstand gestärkt und die Bedingungen für das Unternehmertum verbessert. Manchmal integrieren auch ausländische Multis lokale Zulieferer in die Wertschöpfungskette. Dies gilt insbesondere für die Autoindustrie in Südafrika, dem am stärksten industrialisierten Land Afrikas. Einige Länder sind als Produzenten von Gemüse und Obst erfolgreich (wie Uganda, die Elfenbeinküste oder Kenia), andere haben Textil- und Kleidungsunternehmen in ihre Länder geholt (wie Äthiopien oder Kenia) und dadurch lokale Arbeitsplätze geschaffen und zugleich einheimisches Unternehmertum stimuliert (wie in Ghana, Senegal oder der Elfenbeinküste).
Leicht erhöhte Auslandsdirektinvestitionen (ADI) deuten auf eine steigende weltwirtschaftliche Bedeutung des Kontinents hin, auch wenn der Anteil an Weltinvestitionen immer noch sehr niedrig ist (3 Prozent im Jahr 2016). Auslandsdirektinvestitionen steigen an und haben sich leicht verändert. Dies demonstriert der sogenannte Hirschman-Herfindahl-Index: Während dieser im Jahr 2003 gerade bei 0,1 lag (sehr geringe Diversifizierung), stieg er auf etwas mehr als 0,4, das heißt, ADI fließen nicht nur in wenige Rohstoffsektoren, sondern zunehmend auch in die Konsumgüterindustrie und in die Dienstleistungssektoren (Banken, Versicherungen, Transport). Hierzu haben vor allem ca. 10.000 chinesische Unternehmen beigetragen.
Inzwischen ist China nach den USA, Großbritannien und Frankreich bereits der drittwichtigste Investor und nach der EU auch zum bedeutendsten Handelspartner geworden. Die hohen Wachstumsraten im Handel, bei den Direktinvestitionen, in der Entwicklungshilfe, der Kreditvergabe, dem technologischen Austausch, der massiven Kooperation mit Hochschulen und der Studentenaustausch (70.000 afrikanische Studenten an chinesischen Universitäten im Jahr 2017) zeigen deutlich, dass China eine Strategie mit Afrika im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative und mit dem seit zehn Jahren bestehenden Forum der China-Afrika-Kooperation verfolgt.
Die meisten chinesischen Unternehmen pflegen enge Beziehungen zu lokalen Unternehmen (Sub-Contracting) und beschäftigen weitgehend lokale Arbeitskräfte. Die Qualität der chinesischen Produkte (Konsum- wie Investitionsgüter) hat nahezu das europäische Niveau erreicht. Allerdings unterbieten chinesische Unternehmen die Preise der Konkurrenz, weshalb es ihnen gelang, in fast allen afrikanischen Ländern Konsumgütermärkte zu dominieren. In manch einem Land haben chinesische Unternehmen auch lokale Unternehmen aus dem Markt verdrängt, beispielsweise in der kenianischen und südafrikanischen Textilindustrie. So wurde China wegen seiner stark ansteigenden Investitionen einerseits zum Segen Afrikas. Durch Exporte kamen mehr Devisen ins Land. Zugleich wurde China andererseits zum Fluch, denn die ehemalige Abhängigkeit von Europa wurde so in eine steigende Abhängigkeit von China eingetauscht. Nicht zuletzt die wachsende Verschuldung in der Volksrepublik deutet auf eine strategische Abhängigkeit einiger afrikanischer Staaten von China an (z. B. Tansania, Südsudan, Äthiopien oder Kenia).
Die Folgen der unzureichenden Diversifizierung des Kontinents schlagen sich auch in der Außenhandelsstruktur nieder. Afrika exportiert weitgehend Rohstoffe. Fertigwarenexporte mit Ausnahme von Südafrika sind global gesehen unbedeutend.
Die Diskussionen innerhalb Afrikas, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen, die Integration innerhalb Afrikas voranzubringen und die Handelsasymmetrien abzuschütteln, markieren den neu erwachten Sinn für Entwicklung. Es gibt in einigen Staaten auch eine größere Bereitschaft der politischen und wirtschaftlichen Eliten, ihre Länder voranzubringen. Wirtschaftspolitische Anstrengungen wie makro-ökonomische Stabilität, Investitionsanreizsysteme und Haushaltsdisziplin haben positive Resultate hervorgerufen. Optimismus ist dennoch unangebracht: Zu viele Länder in Afrika hängen am Tropf der Rohstoffexporte. Bricht der Rohstoffmarkt ein, ist – wie 2014 und 2015 – auch das Wachstum gefährdet.
Afrikas Wege zur Entwicklung sind ungleich schwerer geworden. Die Binnenmärkte sind klein. Insofern sind alle Maßnahmen wegweisend, die die nationale wie regionale Infrastruktur verbessern und damit die Märkte öffnen. Auslandsdirektinvestitionen, vor allem wenn sie den Industrieaufbau und die Modernisierung der Landwirtschaft befördern, sowie fairere Handelsbedingungen können dazu beitragen, dass Afrika sich von sich aus entwickelt und allmählich Armut, hohe Arbeitslosigkeit und das Bevölkerungswachstum reduzieren hilft.
Entscheidend ist jedoch, inwieweit das lokale Unternehmertum einen Sprung macht, um die erforderlichen Jobs zu schaffen. Der Westen sollte weniger Entwicklungshilfe leisten, denn diese schafft falsche Anreize und begünstigt Korruption. Er benötigt einen Paradigmenwechsel. Er sollte auch nicht alle Maßnahmen vor dem Hintergrund der afrikanischen Migration und Flucht angehen, sondern langfristig agieren, z.B. durch zukunftsweisende Wirtschaftskooperationen, technologische Zusammenarbeit und Studentenaustausch.