Als das Ibiza-Video vor zwei Wochen veröffentlicht wurde, bedeutete dies vorerst das Ende der politischen Karrieren von Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus. Im Zuge ihrer Rücktritte entschuldigten beide ihre Auftritte auf Ibiza mit übermäßigem Alkoholkonsum.
Der ehemalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache sagte bei seinem Rücktritt: „In einem siebenstündigen privaten Gespräch in meinem Urlaub wurde ich – ja, unter Ausnutzung einer zunehmenden Alkoholisierung, ja, es war eine besoffene Geschichte, und ich war in einer intimen Atmosphäre – verleitet, auch unreflektiert und mit lockerer Zunge über alles und jedes zu polemisieren.“ Ist man unter Alkoholeinfluss tatsächlich ein anderer Mensch? Unsere Rechercheergebnisse deuten klar in eine Richtung: Nein.
Das betrunkene Ich ist eine Illusion, das ergab eine Studie der University of Missouri (USA) über Alkoholkonsum. Die Forscher untersuchten, wie sich Menschen im betrunkenen Zustand wahrnehmen und wie sie von anderen wahrgenommen werden.
156 Studienteilnehmer wurden dazu aufgefordert, ihre Persönlichkeit einzuschätzen. Anschließend teilte man sie in zwei Gruppen. Die eine Gruppe musste Wodka mit Sprite-Limonade trinken, die andere bekam Sprite alleine. Bei Spielen, in Diskussionen und mittels kleiner Arbeitsaufgaben wurden das Verhalten und die Persönlichkeiten der Teilnehmer von unabhängigen Beobachtern eingeschätzt. Diese bewerteten, wie offen, gesellig, rücksichtsvoll, gewissenhaft und emotional die Teilnehmer waren. Anschließend beurteilten die mittlerweile betrunkenen Teilnehmer ihre eigene Persönlichkeit selbst.
Es zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen der eigenen Wahrnehmung der Betrunkenen und jener von Außenstehenden. Während die trinkenden Teilnehmer in allen fünf Persönlichkeitsbereichen einen großen Unterschied beschrieben – sich also offener, emotionaler oder weniger gewissenhaft fühlten –, nahmen die Beobachter außer einer gesteigerten Offenheit (Aufgeschlossenheit) keine Veränderungen im Vergleich zur Persönlichkeit der nüchternen Teilnehmer wahr.
Das Ergebnis überraschte auch die leitende Psychologin Rachel P. Winograd: „Wir waren erstaunt, solche Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von Trinkenden und Beobachtern festzustellen“, sagte sie dem Wissenschaftsmagazin Clinical Psychological Science. Küchenpsychologisch auf den Punkt gebracht: Ein paar Gläser Alkohol verstärken nur manche Teile der Persönlichkeit, die auch nüchtern vorhanden sind. Sie verleihen aber kein anderes Ich.
Ähnlich bewertet das der Wiener Gesundheitspsychologe Alfred Uhl. Er war lange Zeit im Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung und im Anton-Proksch-Institut als Suchtforscher tätig. Seit 2014 ist er stellvertretender Leiter des Kompetenzzentrums Sucht in der Gesellschaft „Gesundheit Österreich“ und unterrichtet daneben an der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Er sagt: „Man wird etwas freundlicher, lustiger unter Alkoholeinfluss.“ „Der Alkohol macht einen offener. Sehr häufig sagen die Leute im betrunkenen Zustand etwas, was sie sonst nicht sagen würden. Aber grundsätzlich muss das in einem Menschen schon drinnen sein, was dann, wenn die Hemmungen wegfallen, herauskommt.“
Sollte Alkohol mit stimulierenden Substanzen gemischt werden, wirke sich das wie folgt aus: „Durch stimulierende Substanzen wie Kaffee, Amphetamin, Kokain wird man wacher. Das heißt, man merkt den Alkoholzustand, die Beeinträchtigung weniger.“ Dadurch würden „Gefahren nicht richtig eingeschätzt, man kommt sich toller vor, als man ist, es fördert die Überheblichkeit. Die Beeinträchtigung durch den Alkohol hat man aber trotzdem, die Kritikfähigkeit ist also noch mehr ausgeschaltet.
Johann Gudenus beschrieb seinen Zustand im Wahlkampf 2017 derart: „Erschöpft, überarbeitet, nahe einem Burnout und in einer persönlichen Krise. Zu wenig Schlaf, zu viel Alkohol, gemixt mit Energydrinks, und psychotrope Substanzen, um die innere Anspannung und Unruhe zu bekämpfen.“
Vier Tage nach seinem Rücktritt stellte er dann in den Raum, dass ihm auf Ibiza auch K.o.-Tropfen in ein Getränk gemischt worden sein könnten. Gegenüber der APA beschrieb sich Gudenus als „willkommenes und willfähriges Opfer“, das durch „womöglich zusätzlich K.o.-Tropfen oder ähnliche Substanzen und Drogen“ gefügig gemacht worden sei. „Mir fehlen streckenweise Erinnerungen, und ich weiß auch nicht mehr, was ich in diesen Zuständen von mir gegeben habe“, so der ehemalige FPÖ-Klubchef.
Suchtforscher Uhl analysiert diese Aussage so: „K.o.-Tropfen sind zum Beispiel Benzodiazepine, die eine Person relativ schnell in einen bewusstlosen Zustand bringen. Wenn jemand K.o.-Tropfen konsumiert hat, dann kann man die Person zwar vergewaltigen, aber sie nicht fragen, ob’s ihr Spaß macht.“
Heinz-Christian Strache gehörte – zumindest bis zu seinen staatsmännischen Auftritten als Vizekanzler nach der Angelobung im Dezember 2017 – zu jener Spezies Politiker, die sich selbst beim Feiern inszenieren. Unsere Recherchen führten uns deshalb auch dorthin, wo Politiker bis heute unter sich miteinander anstoßen: In der gleichsam legendären wie diskreten Eden-Bar in der Wiener Innenstadt trifft sich seit 103 Jahren die bessere Gesellschaft, um sich bei Champagner und zu Live-Musik auszutauschen. In den 1970ern wurde die Eden unter Heinz Werner Schimanko zum Szene-Treff: Romy Schneider war hier, und Alain Delon mit ihr. Der Schah von Persien feierte in der Eden, Liz Taylor und Helmut Newton ebenso, genauso wie Niki Lauda oder Klaus Maria Brandauer. Seit Schimankos Tod im Jahr 2004 wird die Bar von seiner Tochter Michaela Schimanko und deren Bruder Heinz Rüdiger weitergeführt.
„Bei uns feiern Politiker aller Couleurs“, erzählt uns Michaela Schimanko, und diese würden nicht anders als ihre Wähler feiern, denn: „Das Feiern liegt uns Menschen im Blut.“ Unterschiede bei Feiernden macht sie nur daran fest, „welchen Alkohol sie bevorzugen“. Die Jüngeren würden heutzutage schneller und härtere Getränke ordern, Ältere nach wie vor eine gemütliche Nacht mit Champagner verbringen.
Was sich jedoch über die Jahre verändert habe, sei das Feierverhalten selbst: „In den 1990ern hatten wir Hochkonjunktur“, sagt Schimanko, da sei gefeiert worden nach dem Motto „Was kost‘ die Welt.“ „Es war locker und lustig, alle fröhlich, alle gut drauf. Im Zuge der Digitalisierung mit den berühmten Handy-Fotos hat sich alles geändert. Seither werden mehr Privatpartys gemacht. Man lässt sich nicht mehr so gern zuschauen.“
Die Menschen, vor allem Prominente, seien „viel vorsichtiger geworden, um nicht in irgendeiner verfänglichen Situation gefilmt oder fotografiert zu werden“. Ein einziges Mal sei so etwas auch in der Eden-Bar passiert, erzählt Schimanko: „Das war mit dem Herrn Elsner (ehemaliger Generaldirektor der Bawag, Anm.), als er mit der Fußfessel da war. Das hat wer fotografiert, das war das erste illegale Foto in der Eden.“
Seither achte sie besonders auf das „Recht auf eine persönliche Privatsphäre, das jeder hat. Was in der Eden war, bleibt in der Eden. Ich bin immer nüchtern und pass auf – auf alle. Ich behalte das für mich, was hier passiert. Jeder, der in der Eden arbeitet, hat Schweigepflicht.“ Und was sagt sie, als Szene-Insiderin, dann zum Ibiza-Video, zu Heinz-Christian Strache? „Der ist in eine böse Falle getappt. Das sehe ich als Negativbeispiel für unsere digitale Kultur.“
Michaela Schimankos Bar-Mitbetreiber und Bruder, Heinz-Rüdiger Schimanko, bezweifelt aber, dass sich unter Alkohol der Charakter eines Menschen verändert. „Ich glaube, es fördert das zutage, was der wahre Charakter ist. Das erlebe ich als Wirt regelmäßig, dass die Menschen ihr wahres Gesicht zeigen. Wie sagt man so schön: Betrunkene und Kinder sprechen die Wahrheit.“