Nach der Tötung eines Beamten in Dornbirn stehen viele offene Fragen im Raum: Was hat der Täter bei seinem Asylantrag gesagt? Hätte man ihn in U-Haft nehmen können beziehungsweise müssen? Waren Österreich aufgrund des EU-Rechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention die Hände gebunden, wie es das Innenministerium anfangs behauptet hat?
Mittlerweile fordert Innenminister Kickl eine „Sicherungshaft“ für potenziell gefährliche Asylwerber. Der nunmehrige burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil ging wenig später sogar so weit, eine Präventivhaft für alle, also auch für österreichische Staatsbürger, zu fordern. Die Opposition sieht wiederum eine Gefährdung der Grundrechte. Selbst unselige Begriffe wie „Schutzhaft“ stehen im Raum. Wir haben uns aus diesem Grund mit Bernhard Raschauer, emeritierter Professor für Verwaltungs- und Verfassungsrecht an der Universität Wien, unterhalten. Er hat 2016 für das Innenministerium eine Studie erstellt, in der er die Asylgesetzgebung in der Schweiz und Deutschland untersucht hat.
Nach der Tötung eines Beamten in Dornbirn wird über die vorsorgliche Inhaftierung gefährlicher Asylwerber diskutiert. Kritiker befürchten einen „Polizeistaat“. Wie sehen Sie das?
Eins gleich vorweg: Zu Dornbirn möchte ich nichts sagen. Das wäre unseriös. Ich kenne den Akt und die näheren Umstände nicht ausreichend.
Allgemein gefragt: Verstößt ein Instrument für vorsorgliche Haft gegen die Menschenrechte?
Das ist derzeit ein bisschen Nebelgranatenwerfen. Ich bin ein wenig verärgert, dass einige das pauschal zurückweisen und sagen, das sei alles gegen die Menschenrechte. Der Teufel, der da an die Wand gemalt wird, das ist doch Blödsinn. Tatsächlich denkt niemand daran festzustellen, dass man sich künftig von einem Psychologen bestätigen lässt, dass jemand aussieht wie ein Verbrecher, um ihn festnehmen zu lassen.
Sondern?
Das Problem, und das ist im Innenministerium seit Jahren bekannt, liegt darin, dass die Europäische Menschenrechtskonvention und das EU-Recht mehr Festnahmegründe vorsehen, als wir in Österreich umgesetzt haben. Und jetzt könnte man aus gegebenem Anlass darüber nachdenken, ob wir uns nicht der europäischen Rechtslage anpassen wollen. Die Schweiz zum Beispiel hat genau das, wovon jetzt dauernd die Rede ist. Dort kann ein Fremder unter bestimmten Umständen aus Gründen der Sicherheit für längstens sechs Monate inhaftiert werden. Und das ohne richterliche Anordnung, sondern mit nachträglicher richterlicher Überprüfung. Rechtsgrundlage ist Artikel 75 Schweizer Ausländergesetz, der spricht von einer solchen Vorbereitungshaft.
Wieder ein neuer Begriff …
Das ist die Schweizer Terminologie, ja. Das ist schon verwirrend, vor allem wenn man sich dann auch noch die deutsche Rechtslage ansieht. Jeder nennt das anders. Jedenfalls ist die Schweiz ja auch Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention und faktisch auch an dieselbe EU-Richtlinie gebunden wie Österreich. Was ich damit sagen will: Das kann nicht ganz absurd sein. Es gibt sechs Tatbestände in der Aufnahmerichtlinie, davon haben wir zwei umgesetzt. Bei uns sagen jetzt manche, „aber das geht doch nicht“, „das kann man nicht“ und so weiter.
Man kann also doch?
Wenn jemand im Asylverfahren nicht mitwirkt, also schweigt, sich weigert, seine Dokumente herauszugeben, weder seine Identität noch seinen Fluchtweg nachweisen kann. Das kommt ja nicht von ungefähr. Man hört ja immer wieder, dass die Leute von NGOs beraten werden, sich passiv zu verhalten. In der Schweiz ist das Erste, was passiert, dass er ins Gefängnis kommt. Das sind Haftgründe, die im Unionsrecht und in der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen sind. In Wahrheit geht es beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte immer um die zwei Tatbestände: die Abschiebung und die fehlende Kooperation – die bei uns aber kein Haftgrund ist.
Das ist aber noch keine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit.
Richtig, darum geht’s da jetzt nicht. Haft aus Gründen der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung ist jedenfalls auch möglich, da müssen wir jetzt nichts Neues erfinden. Allerdings hat es schon einen Grund, wieso man die EU-Aufnahmerichtlinie nicht 1:1 umgesetzt hat: das Bundesverfassungsgesetz über die persönliche Freiheit. Das ist strenger als das EU-Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention. Man kann auch nicht sagen, dass man es einfach entsprechend auslegt. Da gilt das Günstigkeitsprinzip, also das, was wir im Bundesverfassungsgesetz über die persönliche Freiheit finden.
Wenn die Festnahme von Fremden gegen etwas verstößt, ist das also immer ein hausgemachtes Problem. Es muss ja ein Außerlandesbringungsverfahren anhängig sein, so die österreichische Lesart. Auf europäischer Ebene, für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ist das kein Thema. In dem Moment, in dem jemand um Asyl angesucht hat, befindet er sich in einem Verfahren, das möglicherweise in einer negativen Entscheidung und damit auch mit einer Ausweisung enden kann. Und das genügt, das ist nach Artikel 5 ein Festnahmegrund. Nicht bei uns. Die zweite Frage ist also, ob wir uns nicht auch in diesem Punkt an den europäischen Standard angleichen wollen.
Der Verwaltungsgerichtshof sagt aber, dass eine Inhaftierung auch in einer Frühphase des Asylverfahrens möglich ist. Je früher, desto triftiger müssen die Gründe sein. Aber die grundsätzliche Möglichkeit besteht doch; zum Beispiel, wenn ein Aufenthaltsverbot besteht.
Ja, die Schubhaft: Wenn es Indizien dafür gibt, dass die Außerlandesbringung nicht gesichert ist. Jetzt geht es aber um Antragsteller, die – ich spintisiere da jetzt herum – im Flüchtlingsheim durch Aggression aufgefallen sind, wegen denen es schon Polizeieinsätze gegeben hat, die einen Beamten bedrohen, vielleicht in der Vergangenheit einen Beamten verletzt haben, oder der Beamtenschaft pauschal den Krieg erklären. Ohne dass klar ist, dass sie sich einer Abschiebung entziehen. Also Fälle unterhalb der Schwelle von Terrorismus, da gäbe es ja die Untersuchungshaft; beziehungsweise andere Fälle, in denen eine U-Haft nicht infrage kommt. In der Schweiz oder auch in Deutschland kann ich den dann festnehmen, obwohl eine Abschiebung noch nicht im Raum steht. Das ist gewissermaßen eine Auffangermächtigung zur Festnahme.
Das klingt nach einem schweren Eingriff in die Rechte jedes Einzelnen.
Bitte mich nicht falsch verstehen. Das heißt jetzt nicht, dass man pauschal alle einsperren soll. Aber: Wir haben derzeit nicht einmal die Möglichkeit dazu, jemanden einzusperren, der ein Sicherheitsrisiko darstellt. Das können wir nicht, solange wir uns diesen Alleingang in Form des Bundesverfassungsgesetzes über die persönliche Freiheit leisten. Man wird also die Verfassung anrühren müssen, nicht die Europäische Menschenrechtskonvention.
Schubhaft reicht Ihrer Meinung nach nicht aus?
Ganz sicher nicht. Auch wegen den konkreten Mitwirkungspflichten, also Fingerabdrücke abgeben, Reisedokumente und anderer Unterlagen bringen oder die Reiseroute bekanntgeben. Das ist alles vom europäischen Recht gefordert, das haben wir uns ja nicht ausgedacht. Die kann ich mit Schubhaft allein nicht durchsetzen. In der Schweiz gibt es da die Möglichkeit von Haft (nach – siehe oben – § 77 Schweizer Ausländergesetz). Der Asylwerber soll dort einmal nachdenken. Natürlich gilt da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, man wird nicht zum Spaß jemanden einsperren. Aber immerhin kann man Druck auszuüben.
Wie rechtfertigt man die unterschiedliche Behandlung von Staatsbürgern und Asylwerbern?
Im englischen Recht habe ich gelernt, dass der, der Gerechtigkeit („equity“) sucht, mit sauberen Händen kommen muss (die „Clean Hands“-Doktrin). Das ist auch im Hinblick auf den Gleichheitssatz bedeutsam. Also wenn jemand die Aufnahme in unseren Staat, in unsere Gesellschaft sucht, kann man schon höhere Anforderungen stellen und Sanktionen vorsehen, die für Staatsbürger nicht vorgesehen sind.
Sie wollen die Möglichkeit einer Haft also nicht nur aus Gründen der Sicherheit, sondern auch um Druck auszuüben, falls jemand nicht ausreichend beim Asylverfahren mitwirkt?
Ja. Wieso nicht gleich den ganzen Artikel 8 Aufnahmerichtlinie umsetzen, das ist doch unionsrechtlich vorgesehen. Die Schweizer Juristen haben sich die Sache genau angesehen, da kann man schon davon ausgehen, dass das EMRK-konform ist. Aber das ist nicht das, was das Innenministerium derzeit beabsichtigt.
Bleibt die Frage: Was macht man nach der Haft? Man kann die Menschen ja nicht ewig wegsperren.
Gute Frage. Man liest dann ja immer am Ende der Urteile, dass jemand freigelassen werden musste und aus. Diese Fristen haben ja einen Sinn, sie haben eine disziplinierende Wirkung für die Behörde. Man muss eine „Na der sitzt eh“-Grundeinstellung verhindern, immerhin hat man jemandem die Freiheit entzogen. Die Behörden sollen dadurch unter Druck gesetzt werden, etwas zu tun, und das schnell: ein Ermittlungsverfahren, Abfragen bei Kollegen in anderen Ländern, eine Entscheidung. Sechs Monate scheinen sich da allgemein als sinnvolle Dauer etabliert zu haben. Und ja, gegebenenfalls kann eine Schubhaft nahtlos anschließen. Man muss es also innerhalb dieser Fristen schaffen, zu einer Lösung zu kommen. Eine solche Haft hat eine Sicherungswirkung und ja: auch ein pönales Element. Aber sie ist keine Strafhaft und darf es auch nicht werden.
Und langfristig? Eine Abschaffung der Freiheitsrechte kommt ja nicht mit einem Schlag, sondern in kleinen Schritten.
Für diese Sorge habe ich Verständnis. Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen. Sehen sie sich mal § 35 Verwaltungsstrafgesetz an. Das ist die allgemeinste Bestimmung zur Festnahme, die liest sich sehr hart. Hier wurde der Spielraum für Polizisten von den Gerichten aber sukzessive eingeschränkt. Oder auch die Rechtslage zu Störungen der öffentlichen Ordnung. Da sieht das Sicherheitspolizeigesetz ausdrücklich gelindere Mittel vor, die einer Festnahme vorangehen müssen, zum Beispiel eine Wegweisung. Also eine Einbahnstraße in Richtung mehr Festnahmen sehe ich nicht.