Millionen zusätzliche Arbeitskräfte wird die EU bis 2060 benötigen.
Das vermutlich Wichtigste zuerst: Der globale Migrationspakt ist kein Vertrag. Vielmehr handelt es sich, wie der Text ausdrücklich betont, um ein „rechtlich nicht verbindliches Rahmenwerk für die Zusammenarbeit“, weil „kein Staat die Herausforderungen und Chancen“ des „globalen Phänomens Migration“ alleine angehen könne.
Es handelt sich folglich um eine Absichtserklärung. Völkerrechtler sprechen in diesem Zusammenhang von „soft law“. Die Einhaltung kann also von keinem anderen Staat eingeklagt oder sonstwie geltend gemacht werden. Die Umsetzung erfolgt vielmehr über sanften Druck (durchaus auch über öffentliche Kritik), Konsultationen und Überprüfungen. Allenfalls stehen derartige „soft law“-Instrumente am Beginn einer Entwicklung hin zu verbindlichen Verpflichtungen (so etwa im internationalen Umweltrecht, wo die Erklärung von Stockholm 1972 den Startschuss für spätere Verträge markierte). Bis dahin würde allerdings noch viel Zeit vergehen.
Der globale Migrationspakt geht auf den 2015 verabschiedeten UN-Entwicklungsplan (Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung) zurück, der unter anderem das Ziel nennt, „durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik … eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen“ zu erleichtern. In der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten vom September 2016 einigten sich alle Staaten – sie wurde mit Konsens angenommen – wiederum darauf, Verhandlungen rund um einen globalen Migrationspakt zu beginnen. Das Endergebnis wurde im Juli dieses Jahres vorgelegt. Trotz seines unverbindlichen Charakters beschrieb der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák (in seiner Funktion als Präsident der UN-Generalversammlung) den Abschluss der Verhandlungen als historischen Moment. Es war schließlich das erste Mal, dass nahezu alle UNO-Mitglieder zusammengekommen sind, um das Thema Migration gemeinsam und allumfassend zu behandeln.
Angesichts der unterschiedlichen Interessen der verhandelnden Staaten ist der globale Migrationspakt selbst ein komplexes Dokument, in das zahlreiche Forderungen Eingang gefunden haben (manche Diplomaten bezeichnen derartige Erklärungen als „Christbaum“). Die über 30 Seiten Text beinhalten neben einer allgemeinen Absichtserklärung Ausführungen zu 23 Zielen sowie zu ihrer Umsetzung und Überprüfung, darunter etwa
Der globale Migrationspakt widmet sich nicht nur Flüchtlingen, sondern sämtlichen Formen der Migration, also auch „Klimaflüchtlingen“, „Wirtschaftsmigranten“ und subsidiär Schutzberechtigten (also Menschen, die zwar nicht individuell verfolgt werden, aber aufgrund der Situation in ihrem Heimatland fliehen mussten und nicht zurückkehren können).
Er fußt außerdem auf einem grundsätzlich migrationsfreundlichen Grundverständnis. UN-Generalsekretär António Guterres betonte anlässlich des ersten Entwurfs für den globalen Migrationspakt, dass er Migration als „positives globales Phänomen“ versteht, das „Wirtschaftswachstum ankurbelt und Ungleichheiten reduziert“. Diese Haltung findet sich auch im finalen Text, der globale Migrationspakt spricht beispielsweise von Zusammenarbeit zum Vorteil aller („win-win“, wie es im Vertrag selbst heißt).
Ebenso ist von Migration als „essentiellem Bestandteil unserer globalisierten Welt“ die Rede, der folglich jedes Land betrifft und nicht im Alleingang gehandhabt werden kann. Vielmehr brauche es einen „allumfassenden Zugang, um die allgemeinen Vorteile von Migration zu optimieren“ und zugleich die „Risiken und Herausforderungen für einzelne und Gemeinschaften in den Herkunfts-, Transit- und Zielländern“ zu behandeln.
Allerdings wird Migration nicht näher definiert. Wie die derzeitige Debatte einmal mehr gezeigt hat, gehen die Ansichten dazu weit auseinander. Während Länder wie die USA und Australien seit Jahrzehnten erfolgreich gezielt Hochqualifizierte anwerben, schneidet die EU beim globalen Wettbewerb um die begehrtesten Arbeitskräfte vergleichsweise schlecht ab (wie auch die Europäische Kommission bemängelt).
Bei der Aufnahme von Flüchtlingen sind sie wiederum wesentlich zurückhaltender. Die USA haben via Resettlement (über dieses Programm können aufnahmebereite Länder Flüchtlinge „aussuchen“ und davor Sicherheitsüberprüfungen unterziehen) 2017 lediglich 33.000 Flüchtlinge aufgenommen, in Australien wurden 23.111 Flüchtlinge anerkannt oder via Resettlement aufgenommen (zum Vergleich: In der EU haben 538.000 Asylwerber Schutz zugesprochen bekommen). Zuletzt hat selbst Kanada seine Flüchtlingspolitik aufgrund der hohen Antragszahlen wieder verschärft (großteils aufgrund der Flüchtlinge aus Haiti, die über die USA auf dem Landweg und somit nicht via Resettlement an die kanadische Grenze gelangten).
Ungeachtet der fehlenden Verbindlichkeit des globalen Migrationspakts beinhaltet er Passagen zur Umsetzung und Überprüfung. Darunter fällt eine gemeinsame Plattform zur Finanzierung von Projekten oder dem Austausch von Daten. Außerdem soll der UN-Generalsekretär alle zwei Jahre zur Umsetzung des globalen Migrationspakts berichten, ebenso sind regelmäßige Beratungen und Verhandlungen der Mitgliedsländer geplant. Allfällige Kritik an der Umsetzung könnte über die bestehenden Organe (etwa die Menschenrechtskommissarin oder der Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten von Migranten) geäußert werden.
Bis zur Annahme (eine formale Unterschrift wird es nicht geben) des globalen Migrationspakts am 10. und 11. Dezember wird es wohl noch einige Debatten geben. Bislang haben jedenfalls die USA, (möglicherweise) Australien und Ungarn bekannt gegeben, ihre Teilnahme zu verweigern.
So hat die US-Vertreterin bei den Vereinten Nationen Nikki Haley bereits im Dezember 2017 betont, dass die USA ihren eigenen Umgang mit Migration finden wollen. Die USA würden selbst darüber entscheiden, wie sie ihre Grenzen kontrollieren und wer das Land betreten darf.
Ebenso erklärte der australische Innenminister Peter Dutton im Juli dieses Jahres, dass Australien den globalen Migrationspakt in seiner „derzeitigen Form“ nicht annehmen werde. Hintergrund des australischen Ärgers ist insbesondere ein Passus, demzufolge Migranten nur in Ausnahmefällen eingesperrt werden sollen – das australische System, Asylanträge auf entlegenen Inseln zu bearbeiten, müsste demzufolge überdacht werden.
Besonders drastisch fiel die Kritik aus Ungarn aus, der ungarische Außenminister Peter Szijjarto bezeichnete den globalen Migrationspakt als „Bedrohung für die Welt“, da er Millionen Menschen dazu ermuntern könnte, sich auf den Weg zu machen. Außerdem bemängelte Szijjarto die Darstellung von Migration als „positives und unvermeidbares Phänomen“. Ungarn habe ein negatives Bild von Migration, weil sie mit „außerordentlich ernsthaften Auswirkungen auf die Sicherheit“ einhergehe. Mit einer ähnlichen Begründung hat zuletzt auch der polnische Innenminister Joachim Brudzinski seinem Premierminister einen Ausstieg aus dem globalen Migrationspakt nahegelegt.
Die Kritik aus Ungarn oder Polen rührt an den Grundsätzen des globalen Migrationspakts: Wie mit Migration umgehen? Ist sie wirklich unvermeidlich, wo liegen die Chancen, wo die Risiken?
Fest steht, dass die weltweite Migration in Zukunft weiter zunehmen wird. Zum einen aufgrund der weltweiten Bevölkerungsentwicklung, bis 2050 prognostizieren die Vereinten Nationen ein Anwachsen auf 9,77 Milliarden Menschen. Gleichzeitig sind viele junge Menschen dazu bereit, ihr Land dauerhaft zu verlassen, in Subsahara-Afrika sind es 44 Prozent, in Nordafrika 42 Prozent, in Lateinamerika und der Karibik 41 Prozent – was auch an anhaltender wirtschaftlicher Stagnation und fehlenden Perspektiven liegt, die ILO geht bis zum Jahr 2050 von 900 Millionen arbeitslosen Menschen: Vor allem viele der jüngeren unter ihnen werden sich in reichere Länder mit attraktiveren Arbeitsmärkten begeben.
Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass die EU mehr Zuwanderung braucht. 2016 (neuere Zahlen gibt es noch nicht) lag die Beschäftigungsrate bei 71,1 Prozent, für das Jahr 2020 werden 75 Prozent angepeilt. Laut der Europäischen Kommissarin für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität würden damit auf jeden Beschäftigten im Schnitt 1,26 Beschäftigungslose (Kinder, Arbeitslose und Pensionisten) kommen. Bei einer Beschäftigungsrate von 75 Prozent (die noch nicht erreicht sind), errechnet die Kommission einen Bedarf von zusätzlichen 30 Millionen Arbeitskräften bis ins Jahr 2060 (sonst würde das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Beschäftigungslosen auf 1 zu 1,6 steigen).
Um das Demografieproblem zu lösen, sprach der EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos im Dezember 2015 davon, dass Europa in den nächsten zwanzig Jahren mehr als 70 Millionen Zuwanderer brauche. Der oben genannte Kommissionsbericht ist mit Schätzungen allerdings zurückhaltender und spricht lediglich davon, dass es aufgrund der Überalterung ein „Vielfaches“ der 30 Millionen fehlenden Arbeitskräfte brauche. Genauere Zahlen zum konkreten Bedarf sind nicht möglich, entscheidend seien Alter und der Beschäftigungsrate zukünftiger Einwanderer, zumal sie und ihre Familien auch in Pension gehen oder arbeitslos werden (könnten). Der Bericht gelangt daher zu dem Schluss, dass Migration alleine das europäische Demografieproblem nicht lösen könne, da die „Anzahl der zusätzlichen Migranten aus Drittländern unter diesen Bedingungen auf eine unrealistische Höhe ansteigen müsste“. Im globalen Migrationspakt gibt es zu den Bedürfnissen der Zielländer keine genaueren Ausführungen.
Millionen zusätzliche Arbeitskräfte wird die EU bis 2060 benötigen.
Aus rein rechtlicher Sicht bringt der Pakt nichts fundamental Neues. Zahlreiche Menschenrechtsverträge und die einschlägigen europarechtlichen Regeln beinhalten Bestimmungen zur Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten, Diskriminierungsverbote oder eine Verpflichtung zur Gewährleistung von sozialer Grundversorgung. Neu ist der spezifische Fokus auf Migranten und die verstärkte Kooperation.
Auch das Spannungsfeld zwischen Migration und Souveränität besteht schon länger. Souveränität gilt allgemein nicht (mehr) als ein absolutes Recht, auch nicht im Zusammenhang mit Grenzen. Bereits in der Flüchtlingskonvention von 1933 (dem Vorläufer der Genfer Flüchtlingskonvention) wurde erstmals ein vertragliches Verbot festgelegt, einen Flüchtling in ein Land zurückzuschicken oder an der Grenze abzuweisen, wenn er dadurch verfolgt werden könnte (allerdings wurde dieser Vertrag von lediglich neun Ländern ratifiziert; außerdem hatte das Vereinigte Königreich die Bestimmung, wonach man niemanden an der Grenze abweisen darf, zurückgewiesen).
Diese Verpflichtung fand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Eingang in die Genfer Flüchtlingskonvention: Ihr Artikel 33 enthält ebenfalls ein Zurückweisungsverbot und damit eine starke Einschränkung der Souveränität – allerdings mit der Ausnahme für Fälle, in denen ein Flüchtling ein Sicherheitsrisiko für den Aufnahmestaat bedeutet.
Weitere maßgebliche Einschränkung der Souveränität wurde im internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (dem auch Australien oder die USA angehören) und der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt. Ihnen zufolge darf niemand – also auch nicht Migranten oder Schwerverbrecher oder Terroristen – in ein Land geschickt oder an der Grenze abgewiesen werden, wenn dort Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen. Die maßgeblichen Verpflichtungen der USA, Australien und Ungarn bestehen also unabhängig vom globalen Migrationspakt. Jedenfalls im Falle der USA und Australiens sind die Konsequenzen für Verletzungen allerdings überschaubar.
Bislang wurden die Verhandlungen auf Beamtenebene (unter Einbeziehung der betroffenen Ministerien) geführt. Nachdem alle Verhandlungspartner sich eingebracht haben (Österreich war beispielsweise die verbesserte Kooperation bei Rückführungen ein besonderes Anliegen), beschlossen die beiden Verhandlungsführer Mexiko und die Schweiz im Juli, einen finalen Text vorzulegen. Im Dezember wird es nun darum gehen, ob und inwieweit sich alle Länder mit diesem Dokument anfreunden können. Bislang ist nicht bekannt, ob es neben Österreich, Ungarn und Polen auch in anderen europäischen Ländern intensivere Debatten geben wird.
Neben dem Ausstieg, der vor allem von der FPÖ getrieben wurde, hätte die Regierung andere Möglichkeiten gehabt: Von einer simplen Abwesenheit bei der Annahme selbst, bis hin zu einer Erklärung, einzelnen Zielsetzungen oder Passagen nicht zuzustimmen. Rechtlich hat eine pauschale Verweigerung der Teilnahme am globalen Migrationspakt keine Konsequenzen. Die politische Signalwirkung nach Innen und nach Außen steht freilich auf einem anderen Blatt.
Dieser Absatz wurde am 31.10.2018 leicht verändert, da die österreichische Bundesregierung angekündigt hat, dem Migrationspakt fernzubleiben.
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