Das ist eine Geschichte über den letzten Rückzugsort der Identitären Bewegung: Telegram.
In ihrem Zentrum steht die „Telegram-Elite“ – rund 60.000 Fans von Martin Sellner, dem Sprecher der Bewegung in Österreich. Sie sind der harte Kern der Gefolgschaft von Martin Sellner. Von Instagram, Facebook, Twitter, YouTube und TikTok ist der 31-Jährige verbannt. Was passiert nun auf seinem Kanal?
Wir haben 750.000 Nachrichten aus 162 Kanälen im Telegram-Netzwerk um Martin Sellner analysiert und den letzten Rückzugsort erstmals vermessen.
Im Zentrum der Recherche stehen vier Erkenntnisse:
„Das totalitäre System wirft jeden raus, der patriotische und inländerfreundliche Inhalte auch nur liked.“ „Der Zensur zum Trotz: Unser Büro ist die Strasse!“ Das schreibt Martin Sellner seiner „Telegram-Elite“ neuerdings. Die Sperre auf diversen Plattformen hat Martin Sellners digitale Reichweite empfindlich getroffen. Auf YouTube verlor er rund 100.000 Abonnenten. Auf Twitter waren es 40.000 Follower.
Für seinen Telegram-Kanal waren das hingegen gute Nachrichten.
Zwar sind die Mitgliederzahlen nur etwa halb so groß wie die damalige Zahl der Abonnenten auf YouTube, doch gerade auf Telegram gehört er damit zu den zehn größten Kanälen im deutschsprachigen Raum. Der WhatsApp-Konkurrent ist nicht nur Messengerdienst, sondern bietet auch Funktionen an, die einem sozialen Netzwerk ähneln. So ist es bei Telegram möglich, Kanäle zu erstellen und viele Menschen gleichzeitig zu erreichen, ohne dass diese auf die Chatnachricht antworten können. Seit seiner Sperre ist die Reichweite von Martin Sellner weiter gestiegen.
Die Linie stellt dar, wie viele Menschen Inhalte, die innerhalb einer Woche von Sellner verschickt wurden, durchschnittlich sehen. Ältere Nachrichten erhalten aufgrund der damals geringeren Mitgliederzahl weniger Aufrufe. Plötzliche Anstiege stehen immer mit der Löschung von Kanälen auf anderen Plattformen in Verbindung. Die nun möglicherweise endgültige Sperre verschaffte ihm innerhalb einer Woche fast 10.000 neue Abonnenten und somit in Zukunft wohl auch höhere Aufrufzahlen.
In der Vergangenheit waren neurechte Influencer bereits häufig von Löschungen einzelner Videos oder gar Kanälen, dem sogenannten Deplatforming, konfrontiert. So auch 2019, als bekannt wurde, dass Martin Sellner mit dem Attentäter von Christchurch korrespondierte. In der Folge veröffentlichten befreundete YouTuber Solidaritätsbekundungen und luden Sellner zu Interviews ein, was seine Bekanntheit förderte. Durch das zunehmend rigide Vorgehen von YouTube fingen Sellner und andere Mitglieder der Identitären Bewegung zusätzlich an, ihre Telegram-Kanäle aktiv zu promoten, um bei Löschungen nicht von der Anhängerschaft abgekoppelt zu sein. Seit dem „Deplatforming“ fordert Sellner seine Anhänger verstärkt dazu auf, ihm in die „Katakomben der Informationsgesellschaft“ zu folgen – das sind soziale Netzwerke wie das russische Facebook-Pendant VKontakte, Parler, BitChute oder DLive.
Ein Rechtsextremist ermordete in der neuseeländischen Stadt 51 Menschen, als diese eine Moschee besuchten. Der Attentäter hatte zuvor dem Identitären-Chef 1.500 Euro gespendet.
Zwar betrachtete Sellner selbst Unterdrückung von Kritik und Meinungen stets als förderlich, da sie Mitgefühl wecke und stets für Empörung in der Szene und damit Klicks sorgt, jedoch bricht der Bewegung damit die wichtigste Plattform nach und nach weg. Bei unserer Analyse von 90 neurechten Influencer-Kanälen und 80 öffentlichen Gruppenchats wird deutlich, dass YouTube die mit am Abstand am häufigsten referenzierte Website ist.
Telegram dient als Kanal dafür, Anhänger über neue Videos zu informieren, befreundete Kanäle zu promoten oder um Shitstorms zu koordinieren. Zudem ist der Algorithmus von YouTube dafür verantwortlich, dass beliebige Benutzer Empfehlungen für derlei Videos angezeigt bekommen . An zweiter und dritter Stelle liegen Nachrichtenseiten, die besonders im Umfeld der Neuen Rechten gelesen werden. Auf journalistenwatch.com veröffentlichten Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der Chefideologe der Neuen Rechten Götz Kubitschek und Martin Sellner Artikel. Epochtimes.de ist der deutsche Ableger eines ursprünglich chinesischen Mediums mit Sitz in New York, das sich durch eine Blattlinie gegen Zuwanderung in der Szene einen Namen gemacht hat.
In mehreren Gruppen sind wir darauf gestoßen, dass gezielt Inhalte öffentlich-rechtlicher Medien oder politischer Feinde geteilt werden, um negative Bewertungen zu erzeugen. Sellner selbst orchestrierte über Telegram eine gezielte Manipulation des Twitter-Algorithmus, indem er gewisse Hashtags trenden ließ und seine Anhänger dazu anhielt, einen Tweet mit ebensolchen abzusetzen. Das ist Teil seines Zieles der „Themeninvasion“. Strategie ist „die ständige Wiederholung und Normalisierung eines Begriffs und seiner Idee, die sich vom Rand ins Zentrum fortpflanzt“.
So beschrieb er seine Medienstrategie in diesem Interview.
Die Neue Rechte ist generell aber uneinheitlich und schwer zu definieren. Man grenzt sich klar von historischem Nationalsozialismus und biologischem Rassismus ab, was allerdings nicht bedeutet, dass die Strömung die systematische Abwertung und Diskriminierung „Anderer“ ablehnt. Unter dem Deckmantel der Erhaltung von „westlicher“ oder „heimischer“ Kultur, welche über verschiedenste Faktoren wie Religion, Ethnie oder Herkunft definiert wird, werden willkürliche Trennlinien zwischen den „Kulturen“ und „Völkern“ gezogen. Dadurch werden Feindbilder kreiert, es werden Wir-Sie-Dichotomien gelebt und verschiedenste negative Stereotypen auf Menschen projiziert. Der Lösungsvorschlag der Neuen Rechten: Ethnopluralismus. Pluralismus, ein weitläufiger und durchaus positiv besetzter Begriff in progressiven Gesellschaften wird so verwendet, um eine gegenteilige Position zu vertreten. Ethnopluralisten wollen die Durchsetzung von homogenen Ethnostaaten, in denen die von ihnen als eigen angesehene Kultur „unvermischt“ gelebt werden kann. Die radikale Konsequenz dieses Konzepts ist eine weltweite Apartheid der „Völker“, wie auch immer diese kategorisiert werden.
Oliver Janich forderte seine Anhänger beispielsweise dazu auf, dieses Video der ZDFheute Nachrichten auf YouTube negativ zu bewerten und zu kommentieren. Mit Erfolg: Mehr als 13.000 Nutzer bewerteten das Video negativ und hinterließen zahllose Kommentare.
Die Identitäre Bewegung und ihre Mitglieder betonten öffentlich allerdings stets, dass sie nicht rechtsextrem seien. Bei unserer Recherche stießen wir jedoch auf zahlreiche antisemitische Äußerungen in den Kommentarspalten Sellners, die nicht gelöscht wurden. Sellner, der selbst in seiner Jugend Hakenkreuze auf Synagogen geklebt hatte, scheint diese Kommentare zu tolerieren, während dies bei Aufrufen zu Gewalt und Bewaffnung nicht der Fall ist. Sie werden in innerhalb kürzester Zeit entfernt. Auch klar nationalsozialistische Äußerungen wurden entfernt. Diese konnte Addendum überprüfen, indem im Zeitraum zwischen Jänner bis März 2020 alle 30 Minuten Nachrichten automatisiert heruntergeladen wurden, um entfernte zu erkennen. Eine Anfrage zur Moderationspraxis in seinem Channel ließ Martin Sellner unbeantwortet.
Dahingegen versucht sich die Identitäre Bewegung von Anhängern von Verschwörungstheorien abzugrenzen. Dass es dennoch mehrere Berührungspunkte gibt, zeigt sich ebenso in den analysierten Kanälen. Eine Funktion von Telegram ermöglicht es nämlich, Inhalte anderer Kanäle weiterzuleiten. Die Nachrichten werden dann mitsamt Verweis zum Ursprungskanal angezeigt – dabei handelt es sich um sogenannte Forwards. Mit diesen Daten lässt sich ein Netzwerk visualisieren, das die Berührungspunkte zeigt.
Nachdem wir die Weiterleitungen der Kanalbetreiber betrachtet haben, legen wir nun einen Fokus auf einen Aspekt, auf den diese nicht so viel Einfluss haben. Den Nutzern. Um zu analysieren welche Nutzer in welche Kanälen sind haben wir die User extrahiert, die aktiv einen Kommentar verfasst haben. Damit konnten wir für jeweils zwei Kanäle ermitteln, wie viele Nutzer sie sich teilen und damit gemeinsame Zielgruppen ermitteln. Es bildet sich ein Netzwerk.
Im August 2019 wurde eine neue Aktion der Identitären auf Telegram ins Leben gerufen. Nachdem der Messengerdienst eine neue Funktion herausbrachte, mit der es möglich wurde, öffentliche Chatgruppen zu erstellen, die ohne Einladung betreten werden können, kam es zur Gründung zahlreicher „Patriotengruppen“ in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Ziele waren die lokale Vernetzung, die Organisation von Stammtischen und offenbar die Akquise von Mitgliedern.
Der Erfolg war bis dato mäßig: Durchschnittlich sind den noch nicht wieder aufgelösten Gruppen 75 Nutzer beigetreten, aber die wenigsten – durchschnittlich sind es vier Mitglieder – beteiligen sich aktiv an Debatten. 23 Gruppen sind gänzlich inaktiv, also niemand kommentiert oder teilt Inhalte. Zwölf Gruppen wurden gelöscht. 60 Gruppen sind noch aktiv. In ihnen postet zumindest ein Nutzer Inhalte. Vereinzelt – etwa in Vorarlberg und Erfurt – gibt es überdurchschnittlich aktive Gruppen. Interessant ist, dass diese aufgrund der Verbreitung von zu extremen Inhalten sogar von den Identitären abgesondert wurden und in Folge nicht mehr in der Linkliste, die als Verzeichnis für die Lokalgruppen dient, aufscheinen. Dennoch florieren die Gruppen aufgrund lebhaften Austausches von QAnon-Inhalten oder anderen konspirativen Theorien, die beispielsweise 5G hinter dem Ausbruch von COVID-19 sehen oder Bill Gates unterstellen, er wolle den Menschen Mikrochips durch Impfungen implantieren.
Korrektur, 4.8:
Das Magazin info-direkt.eu wurde in einem der Telegram-Netzwerk den Identitären zugeordnet. Diese Kategorisierung war falsch. Das Medium wird nun in der Kategorie „Andere“ geführt.
Für die Datenanalyse haben wir die Programmierschnittstelle (API) von Telegram benutzt, die es ermöglicht, Nachrichten von Kanälen herunterzuladen. Da viele Kanäle eine Kommentarfunktion unterstützten, die durch eine Telegram-unabhängige Erweiterung umgesetzt wird, hat Addendum eine eigene Lösung programmiert, um auch an diese Daten zu kommen. Die Datenakquise der gelöschten Nachrichten wurde umgesetzt, indem das Programm alle 30 Minuten die Nachrichten der letzten drei Tage heruntergeladen hat. Dies geschah im Zeitraum zwischen Jänner und März. Im Analyseprozess konnten wir dann die Nachrichten finden, die zu einem späteren Zeitpunkt fehlten.
Für die Analyse der Nutzerüberschneidungen hat Addendum die Namen der Autoren der Telegram-Nachrichten extrahiert. In öffentlichen Kanälen mit externer Kommentarfunktion war es aber häufig so, dass nur der Anzeigename und nicht der eindeutig identifizierbare Benutzername angezeigt wurde. Folglich behandelten wir einen „Michael“, der sowohl in Sellners als auch in Oliver Janichs Kanal aktiv war, als zwei verschiedene Personen. War der Anzeigename aber nicht derart generisch, beispielsweise „Michael Landecker“, behandelte wir ihn als eine Person, die somit eine Nutzerüberschneidung zwischen den beiden Kanälen darstellte.
Im Laufe des Rechercheprozesses war das Buch „Die rechte Mobilmachung“ von Patrick Stegemann und Sören Musyal sehr hilfreich. Das Buch schaffte eine gute Orientierung über die verschiedenen neurechten Influencer und erleichterte die Zuordnung zu diversen Gruppierungen.