Die Bilder und Szenarien könnten unterschiedlicher nicht sein. Während sich am Nachmittag die syrische Regierung mit einer pompösen Show in der Al-Assad-Sporthalle mit Lasershow, Musik und pathetischen Siegesreden als Befreier von Aleppo feiert, zelebrieren am Abend des 24. Dezember die verbliebenen Christen in der Stadt nach vielen Jahren Krieg und Terror mit großen Feiern wieder Weihnachten in ihren Kirchen und Kathedralen.
Diesmal ist die Stimmung deutlich positiver als im vergangenen Jahr. Chöre singen, lange Gebete auf Arabisch und Aramäisch werden rezitiert, Pfadfinder beziehen Stellung vor den Kirchen, um das Fest mit einem lauten Marsch einzutrommeln. Draußen vor den Gebetshäusern stehen junge muslimische Mädchen mit weißem Hijab und machen Instagram-Selfies vor bunt geschmückten Weihnachtsbäumen.
Noch vor zwei Jahren stand der Ostteil von Aleppo, kontrolliert von Rebellen und dschihadistischen Gruppen, unter Dauerbeschuss von Regierungstruppen und ihren russischen Verbündeten. Eine Schlacht, die sich über Monate zog und zigtausende Menschen das Leben kostete, und in der viele Teile der Stadt dem Erdboden gleich gemacht wurden. Weihnachten wurde von den in Aleppo verbliebenen Christen auch während der Belagerung trotz alldem gefeiert, freilich unter völlig anderen Voraussetzungen, erzählt Joseph, ein junger Student, nach der Weihnachtsfeier in der Franz-von-Assisi-Kirche der Maroniten. Und zwar nicht wie heute in den vollen Säulenhallen, sondern im viel kleineren Kreis und in den Kellern unter dem mehrheitlich von Christen bewohnten Viertel. Während dort gesungen wurde, hörte man oben die Mörser einschlagen. Die Mitternachtsmette wurde, wenn überhaupt, am Nachmittag abgehalten, und auf die Straße traute sich später dann niemand mehr, zu groß war die Angst vor Scharfschützen, Sprengfallen und vor Entführungen.
Seit Ende 2016 kehrt in Aleppo langsam so etwas wie Normalität zurück. Geschäfte in allen Teilen der Stadt, auch im fast völlig zerstörten Ostteil, öffnen wieder ihre Pforten, Märkte bieten Obst und Gemüse an, ein paar Stunden am Tag gibt es wieder Strom, und nach und nach werden die Häuser wieder an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen. Ein wahrer Luxus, erzählt Joseph: „In den schlimmsten Zeiten mussten wir 200 Meter tiefe Brunnen im Stadtgebiet graben, um an die dringend benötigten Wasservorräte heranzukommen, denn die Rebellen hatten unsere Wasserversorgung aus dem Norden abgeschnitten.“
Auch in zerstörten Vierteln werden die Marktstände mittlerweile wieder aufgebaut. (Aleppo, Zeitrafferaufnahme)
Wie viele Christen heute noch in Aleppo leben, weiß keiner genau. In ganz Syrien waren es vor dem Krieg rund 1,6 Millionen, rund zehn Prozent der Bevölkerung. Während des Krieges sind zwischen 500.000 und 800.000 Christen aus dem Land geflohen. Genaue Zahlen sind nicht feststellbar, einerseits ließen sich nur wenige Christen als Flüchtlinge in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien registrieren, da die Angst, sich in einem Flüchtlingslager als Christ bekennen zu müssen, einfach zu groß war. Andererseits geht aus den offiziellen und international anerkannten Flüchtlingsstatistiken der UNHCR die Religionszugehörigkeit nicht hervor.
Die christlichen Gemeinden in Syrien standen seit Beginn des Krieges zwischen den Fronten. Da die syrische Regierung seit den siebziger Jahren als Schutzherrin der religiösen Minderheiten in Syrien auftritt, standen die Minderheiten unter Generalverdacht, nach wie vor die Regierung zu unterstützen. Zudem wurden sie im Bürgerkrieg in Dörfern rund um Damaskus und im Norden von Dschihadisten und IS-Schergen systematisch verfolgt, getötet und vertrieben.
Alle jene, die das Geld aufbringen konnten, flohen ins Ausland, andere versuchten in Damaskus und Aleppo bei ihren Glaubensbrüdern Schutz zu finden. Während die Städte in den Regierungsgebieten heute weitgehend sicher sind, ist an Rückkehr in die ländlichen Regionen noch nicht zu denken. So lebten vor Beginn des Bürgerkriegs in der Region Dschasira im Nordosten Syriens rund 150.000 Christen, heute sind es nur wenige Tausende. Außerdem: „Wohin sollen sie zurückkehren?“, fragt eine NGO-Mitarbeiterin. „Schau dich um! Es gibt schlichtweg keine Häuser oder Geschäfte mehr.“
Exodus nennen die verbliebenen Christen die Abwanderungen. Ein extremes Beispiel bietet die armenische Christengemeinde, wo schätzungsweise über 80 Prozent aus Aleppo und Damaskus ins Ausland abgewandert sind. Das ist die größte Sorge der kirchlichen Oberhäupter und beschäftigt auch den Großmufti von Syrien, Ahmad Badr ad-Din Hassun.
Sie alle stellen sich mittlerweile nicht mehr die Frage, wie man die Christen zu einer Rückkehr bewegen kann, sondern vielmehr, wie man den Exodus verlangsamen oder gar aufhalten kann. Denn langfristig gesehen verschiebt sich das kulturelle Gleichgewicht der syrischen Gesellschaft, so schwinden die damit verbundene Vielfalt und auch der wirtschaftliche Fortschritt, den der Multikulturalismus einer Gesellschaft bringen kann.
Wer im Land geblieben ist, muss schauen, wie er über die Runden kommt. Arbeit gibt es kaum, und wer eine bekommt, muss mit rund 160 Dollar pro Monat, das ist das durchschnittliche Einkommen, seine ganze Familie ernähren.
Dazu kommt, dass die Jungen, die vornehmlich vor dem Militärdienst geflohen sind, nicht zurückkommen können. Viele haben sich im Westen schon eine Existenz aufgebaut und Asylstatus.
Eine Rückkehr wäre zudem viel zu gefährlich. Wer nach Syrien einreisen will und den Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, wird in der Regel direkt von der Grenze weg eingezogen, heißt es. Der Dienst, der vor dem Krieg rund 24 Monate dauerte, wurde auf unbestimmte Zeit verlängert. Da der Regierung die Soldaten ausgehen, gibt es davon auch keine Befreiung mehr, wie sie früher zum Beispiel für Studenten galt oder für jene, die sich für ein paar Tausend Dollar freikaufen konnten.
Am ehesten kehren gegenwärtig ältere Menschen zurück, und auch das nur vereinzelt. So wie Asma, eine elegante 80-jährige Dame aus Aleppo. Die schlimmsten zwei Kriegsjahre hat sie bei ihrer Tochter in Wien verbracht, dann kehrte sie doch wieder zurück in ihre Heimat. Sie vermisste ihren Bruder, ihre Freunde, aber auch den syrischen Schmäh, wie sie sagt. Wien war ihr dann doch zu steif und zu einsam. Gegen den Willen ihrer Tochter und ihrer Enkelkinder reiste sie schließlich alleine zurück nach Aleppo.
An einen nachhaltigen Frieden mit Zukunftsperspektiven für die Jungen glauben aber nur noch die Wenigsten, auch wenn die Lage in Syrien heute deutlich besser ist als noch vor zwei, drei Jahren. So sind Reisen zwischen den großen Städten derzeit relativ problemlos möglich, die Menschen sind am Abend wieder auf den Straßen unterwegs – damit kehren auch die Staus zurück.
Dennoch traut sich auf die Frage, wie es morgen wird, niemand so wirklich einen positiven Ausblick zu geben. Zu viele Kehrtwendungen hat dieser Krieg gemacht. An dieses Auf und Ab und die Ungewissheiten haben sich die syrischen Bürger längst gewohnt. Sie wissen: Zu groß sind die militärischen Abhängigkeiten und geopolitischen Interessen von Fremdmächten, wie der Türkei, Russland oder dem Iran, die weitgehend das Schicksal von Syrien in ihren Händen halten.
Heute haben die Menschen im Norden mehr Angst vor einem Einmarsch und einer Okkupation der Türkei als vor der Regierung im Süden. Auch den angekündigten Abzug der USA kann niemand richtig einordnen. Dazu tun sich neue Allianzen auf, wie etwa die der Kurden und der Armee der syrischen Regierung, die gemeinsam gegen den türkischen Präsidenten mobilmachen. Auch der Einfluss des Iran im Land selbst und auf die Hisbollah im Libanon, die gemeinsam gegen Israel auftreten, ist nur schwer kalkulierbar und könnte jederzeit zu einem Flächenbrand ausarten. Dazu kommt, dass die Ideologie der radikalen Islamisten noch lange nicht besiegt ist.
Viele Bürger lassen sich auch nicht von den wirtschaftlichen Versprechen Russlands oder Chinas täuschen, denn sie wissen, dass für einen ernsthaften Wiederaufbau und einen lang ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung die Sanktionen des Westens gelockert werden müssen – und das wird, solange Präsident Assad noch im Amt ist, nicht so schnell passieren.
Mor Ignatius Ephräm II., Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche (der zweitgrößten Konfession in Syrien), bringt in der St.-Georgs-Kathedrale in Bab Touma, Damaskus, die Lage in einem halb zynischen, halb optimistischen Ton auf den Punkt: „Frieden, wie definieren Sie das? Ist Frieden eine Zeit ohne Gewalt, oder ist Frieden ein respektvolles Zusammenleben? Ersteres ist vielleicht schon sehr bald möglich, aber Letzteres? Das wird noch sehr lange dauern. Aber wir schaffen das.“