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YouTube gegen Sellner
3. August 2020 News Lesezeit 9 min
Mitte Juli sperrten YouTube und Twitter die Kanäle der „Identitären Bewegung“ und deren Frontmanns Martin Sellner. Zuvor war er bereits von Facebook und Instagram verbannt worden. Auslöser dürfte ein Bericht einer US-amerikanischen NGO gewesen sein, Google und Twitter selbst geben sich bedeckt. Sellner selbst möchte jetzt klagen. Ganz chancenlos wäre er nicht.
Bild: Herbert Pfarrhofer | Apa

Es ist still geworden um die Identitäre Bewegung. Gab es vor einigen Jahren noch viel (Medien-)Rummel rund um sie und ihren Frontmann Martin Sellner, war die Löschung ihrer Social-Media-Kanäle eher eine Randnotiz. Wenn man heute auf YouTube nach „Martin Sellner“ sucht, findet man einige Videos mit ihm (etwa Interviews auf Oe24) oder über ihn, nicht aber von ihm. Sein Kanal, dem gut 100.000 User gefolgt waren, existiert nicht mehr. Sellner selbst meinte dazu, sein Anwalt sei „bereits aktiv“. Dazu, ob Plattformen wie YouTube und Co. völlig autonom über Löschungen entscheiden dürfen, gibt es unterschiedliche Ansichten.

Das Ende von Sellners Kanälen scheint jedenfalls das Ende eines Prozesses zu sein, der mit dem Terroranschlag in Christchurch vom März 2019 begonnen hat. Einige Wochen später folgte eine gemeinsame Stellungnahme von Facebook, Microsoft, Google, Twitter und Amazon, der Christchurch Call to Action. Darin gelobten die fünf Konzerne, „sicherzustellen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Hass und Extremismus zu bekämpfen, der zu terroristischer Gewalt führt“. Schließlich wurden sie schon lange dafür kritisiert, ihr Geschäftsmodell auf hochproblematischen – wenn auch nicht illegalen – Inhalten aufzubauen. Klicks vor Moral sozusagen.

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YouTube CEO Susan Wojcicki

Schweigen bei Google und Twitter

Im Juni 2019 erfolgte ein Update der Richtlinien von YouTube, „um bessere Handhabe für rechtsextreme Inhalte zu haben“. Auch Inhalte, die vorgeben, „dass Angehörige geschützter Gruppen von Natur aus anderen unterlegen seien“, werden entfernt. Ebenso verbietet YouTube das Verlinken zu „hasserfüllten Inhalten“ auf anderen Plattformen oder Websites.

Daraufhin ist die Anzahl der gelöschten Videos um das Fünffache gestiegen, mehr als 25.000 Kanäle wurden gesperrt. Neben prominenten US-amerikanischen YouTube-Kanälen, die als „white supremacist“ eingestuft wurden – wie jenem des rechtslibertären Youtubers Stefan Molyneux oder David Duke (dem laut der Anti Defamation League „bekanntesten Rassisten und Antisemiten Amerikas“) – war auch Martin Sellners Kanal betroffen. Die Sperre währte aber nur kurz, ein Sprecher von YouTube erklärte damals, dass die in den Videos vertretenen Positionen zwar von vielen als „höchst angriffig“ („deeply offensive“) wahrgenommen werden, aber nicht gegen die Richtlinien verstoßen.

Was sich seitdem geändert hat, ist unklar. Von Twitter haben wir keine Antwort bekommen, Google hat auf unsere Anfragen mit allgemeinen Verweisen auf ihre „strengen Richtlinien zum Verbot von Hassrede (,hate speech‘)“ geantwortet. „Jeder Kanal, der mehrfach oder auf schwerwiegende Art und Weise gegen diese Richtlinien verstößt, wird gelöscht.“ Die Kanäle Sellners hätten gegen die Richtlinien verstoßen.

Konkrete Videos oder Aussagen wollte YouTube uns keine nennen, wir mussten uns mit Verweisen auf den Transparenzbericht zum Thema Hate Speech, die Richtlinien zu Hassrede und allgemeinen Informationen zur Löschung von Kanälen begnügen.

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Die Auslöser: Black Lives Matter und ein NGO-Bericht

Viel Raum für Spekulation also. Der primäre Auslöser dürfte die in den USA schon länger währende Rassismus-Debatte sein, die durch die „Black Lives Matter“-Proteste zusätzlich an Fahrt aufgenommen hat. Das US-amerikanische Center for Strategic and International Studies (CSIS) hat in seinem Bericht vom Juni 2020 betont, dass rechtsextreme Attentäter andere Formen von Terrorismus überholt haben und für die Mehrheit der Anschläge in den USA seit 1994 verantwortlich seien. In den letzten sechs Jahren sei es außerdem zu einem starken Anstieg gekommen, 2019 waren sie für zwei Drittel aller vereitelten und tatsächlichen Anschläge verantwortlich, zwischen Jänner und Anfang Mai 2020 sogar für 90 Prozent. Dementsprechend warnt der Bericht vor einer weiteren Zunahme im Zuge der anstehenden Präsidentschaftswahlen.

Der zentrale Auslöser für die Löschung dürfte ein Bericht des Global Project Against Hate and Extremism von Anfang Juli 2020 gewesen sein, eine US-NGO, die sich mit rechtsextremen Gruppierungen auseinandersetzt. Laut deren (Mit-)Gründerin Heidi Beirich habe Twitter selbst ausdrücklich bekannt gegeben, den Account von Sellner und zahlreichen weiteren Kanälen auf Grundlage ihres Berichts vorgenommen zu haben. Im Falle von YouTube sei die Sache ihr zufolge weniger eindeutig. So hatte bereits im Vorjahr eine andere, britische NGO (Faith Matters), die offiziell mit der Videoplattform bei der Durchsetzung der Richtlinien zusammenarbeitet, die Löschung seines Kanals gefordert und die langsame Reaktion nach dem Anschlag von Christchurch scharf kritisiert.

Dass YouTube und Twitter (im Übrigen auch die vor allem bei jüngeren Menschen immer beliebter werdende chinesische Kurzvideo-Plattform TikTok) die Kanäle von Sellner und der Identitären Bewegung mehr oder weniger gleichzeitig gesperrt haben, ist damit wohl kein Zufall. Die Entscheidung scheint dieses Mal außerdem endgültig: Sellner, die unterschiedlichen Kanäle der „Identitären Bewegung“ und zahlreiche weitere Accounts sollen auch keine neuen Kanäle anlegen können. Selbst ein neues Video, auf dem Sellner von einem ihm freundlich gesonnenen YouTuber interviewt wird, wurde sogleich gelöscht.

Martin Sellner spricht bei einer Demonstration der Identitären Bewegung im April 2019.

Streitfrage „Deplatforming“

Youtube und Twitter ziehen damit nach, den Anfang hatten Facebook und Instagram gemacht, wo die einschlägigen Kanäle bereits 2018 gesperrt wurden. Man spricht dabei von „Deplatforming“, Englisch für „von der (Social-Media-)Plattform entfernen“. Bestimmte Nutzer oder Organisationen sollen bei Youtube und Co. also keine Bühne (mehr) bekommen. Außerdem verlieren sie damit eine zentrale Einkunftsquelle, ihre Kanäle und Videos werden schließlich oft von Spendenaufrufen begleitet.

Eine durchaus umstrittene Vorgehensweise, wie etwa der deutsche Verein netzpolitik.org ausführt: So gibt es rund um Sperrungen ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit für die betroffenen Kanäle (das allerdings bald wieder abklingt). Außerdem verlagern die Betroffenen ihre Aktivitäten dann schlichtweg auf andere Plattformen, allen voran auf Telegramm oder die Streaming-Plattform BitChute, die gezielt eben jenen Inhalten ein Zuhause gibt, die anderswo unerwünscht sind. Hier bleiben die Nutzer gewissermaßen unter sich, sie werden also nicht mehr – etwa in Kommentaren unter den Videos – mit anderen Meinungen konfrontiert, vielmehr erfolgt eine wechselseitige Bestärkung. Die traditionellen Social Media-Plattformen sind entgegen einer weitläufiger Meinung eben keine solchen „Echokammern“.

Der Haupteinwand gegen „Deplatforming“ bezieht sich allerdings auf die großen Social-Media-Betreiber selbst, sie haben aufgrund ihrer Dominanz maßgeblichen Einfluss auf öffentliche Debatten. YouTube ist die mit Abstand wichtigste Video-Plattform, in Österreich liegt der Marktanteil bei gut 80 Prozent. Die Betroffenen können sich bei Sperren nur schwer wehren, die Entscheidung liegt bei den Betreibern selbst. Juristische Mittel sind teuer und nehmen viel Zeit in Anspruch. Oft lässt sich nur schwer sagen, wo und auf welcher Grundlage man klagen kann. Die US-amerikanische NGO Freedom House warnt daher davor, dass auch Demokratien dazu neigen, wesentliche Entscheidungen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit auf schlecht vorbereitete und oft intransparent agierende Technologieunternehmen auszulagern. Ebenso haben der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf freie Meinungsäußerung und eine Reihe weiterer Juristen aus dem Bereich der Menschenrechte kritisiert, dass der erhöhte öffentliche Druck auf Social-Media-Unternehmen zu überschießender Zensur und vorauseilendem Gehorsam führen kann.

Andererseits handelt es sich bei Google, Facebook und Co. letztlich immer noch um private Unternehmen. Damit dürfen sie eigentlich frei darüber entscheiden, wer seine Inhalte hochladen darf und wer nicht. Aufgrund ihrer dominanten Marktposition haben sie auch eine entsprechende Verantwortung, den richtigen Umgang mit problematischen Inhalten zu finden. Ob sie das aus einer Grundüberzeugung oder aus Sorge um ihren Ruf tun, ist dabei unerheblich.

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Als „white supremacist“ gelten Inhalte, die auf der Vorstellung einer genetisch bedingten und zu bewahrenden Überlegenheit weißer Menschen beruhen.

Rechtsprechung: USA vs. Deutschland

Die Kontroverse dreht sich also um grundsätzlich legale, aber höchst streitbare Inhalte, von denen sich viele Menschen angegriffen fühlen. Ein Drahtseilakt, der neben den Social-Media-Anbietern auch Richter beschäftigt, die bislang unterschiedliche Antworten gefunden haben.

So gab es in den USA bereits eine Reihe von Verfahren rund um Twitter, Facebook, Google oder Yahoo, in denen eine Verpflichtung zur Veröffentlichung bestimmter Inhalte zurückgewiesen wurde – schließlich haben Unternehmen ihrerseits ein Recht auf freie Meinungsäußerung und eine Art „digitales Hausrecht“.

Dazu gehört auch eine aus dem Februar 2020 ergangene Entscheidung aus San Francisco, derzufolge YouTube trotz seiner Marktdominanz kein „öffentliches Forum“ sei. Dementsprechend verneinte das Gericht eine Bindung an die Redefreiheit im 1. Zusatzartikel zur US-Verfassung. Hintergrund war eine Klage des Kanals „PragerU“, der „aggressives männliches Verhalten“ gefördert und den Islam verunglimpft haben soll. Daher wurden die Videos zwar nicht zensiert, wohl aber konnte der Betreiber keine Werbeeinnahmen machen. Einige Videos waren außerdem nur eingeschränkt, also für Erwachsene, verfügbar. Ein Sprecher von PragerU sah darin eine „Zensur konservativer Ideen vonseiten der großen Social-Media-Unternehmen“.

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Private Unternehmen und die Menschenrechte

Deutsche Gerichte haben wiederum einen anderen Weg gewählt. Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich schon 1958 festgehalten, dass die Grundrechte auch Private verpflichten können. Eine Ansicht, die später im Zusammenhang mit dem Frankfurter Flughafen und Stadionverboten – die nicht willkürlich ausgesprochen werden dürfen – bestätigt wurde.

2019 wurde diese Haltung erstmals auf den Online-Bereich ausgeweitet. Auslöser war eine Klage der rechtsextremen Kleinstpartei „Der III. Weg“, deren Facebook-Kanal im Zuge der EU-Wahlen wegen „Hassrede“ zunächst gesperrt und später gelöscht wurde. Daraufhin reichte sie eine Klage ein. Da es noch kein endgültiges Urteil gab, ordnete das Bundesverfassungsgericht im Vorfeld die Entsperrung des Kanals an, wobei es auch auf die Marktdominanz von Facebook verwies. Durch die Sperre würden im Vorfeld einer Wahl vollendete Tatsachen geschaffen, die in keinem Verhältnis zu den Aufwendungen für Facebook stünden.

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Die Bundesverfassungsgericht-Entscheidung im Wortlaut

Die Folgenabwägung geht zum Teil zugunsten der Antragstellerin [die Partei „der Dritte Weg“] aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Antragstellerin eine Nutzung ihres Internetangebots auf Facebook versagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zur Wiedereröffnung des Zugangs hätte verpflichtet werden müssen, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens einstweilig zur Wiederherstellung des Zugangs verpflichtet würde, sich später aber herausstellte, dass die Sperrung beziehungsweise Zugangsverweigerung zu Recht erfolgt war. Dies gilt jedenfalls für den Zeitraum bis zur Durchführung der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahl), für den die Antragstellerin eine besondere Dringlichkeit in ihrem Antrag dargelegt hat.

Die Antragstellerin bedient sich des Angebots der Antragsgegnerin, das nach deren Werbeangaben von über 30 Millionen Menschen in Deutschland monatlich genutzt wird, um ihre politischen Auffassungen darzulegen und zu Ereignissen der Tagespolitik Stellung zu nehmen. Die Nutzung dieses von der Antragsgegnerin zum Zweck des gegenseitigen Austausches und der Meinungsäußerung eröffneten Forums ist für die Antragstellerin von besonderer Bedeutung, da es sich um das von der Nutzerzahl her mit Abstand bedeutsamste soziale Netzwerk handelt. Gerade für die Verbreitung von politischen Programmen und Ideen ist der Zugang zu diesem nicht ohne weiteres austauschbaren Medium von überragender Bedeutung. Durch den Ausschluss wird der Antragstellerin eine wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen Botschaften zu verbreiten und mit Nutzern des von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens betriebenen sozialen Netzwerks aktiv in Diskurs zu treten. Diese Möglichkeiten blieben ihr bei Nichterlass einer einstweiligen Anordnung verwehrt und würden dazu führen, dass die Wahrnehmbarkeit der Antragstellerin und ihrer Foren für diese Zeit in erheblichem Umfang beeinträchtigt wäre. Das gilt mit besonderer Dringlichkeit für den Zeitraum bis zum Abschluss der unmittelbar bevorstehenden Europawahl, an der die Antragstellerin als politische Partei mit einem gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 EuWG vom Bundeswahlausschuss zugelassenen Wahlvorschlag teilnimmt und für den allein sie eine besondere Eilbedürftigkeit geltend macht.

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Gute Chancen für Sellner?

Nun liegt die Sache im Fall Sellners und der Identitären Bewegung freilich anders. Er ist kein Politiker, sie keine Partei, und es stehen auch keine Wahlen an. Gleichzeitig gibt es in Deutschland keine grundsätzlichen Vorbehalte dagegen, private Großunternehmen in die Pflicht zu nehmen, um höchst streitbare Inhalte zulassen zu müssen. Wie österreichische Richter damit umgehen würden, ist unklar. Hierzulande gibt es dazu noch keine Rechtsprechung. Vielleicht ändert sich das ja bald. 

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