Es ist still geworden um die Identitäre Bewegung. Gab es vor einigen Jahren noch viel (Medien-)Rummel rund um sie und ihren Frontmann Martin Sellner, war die Löschung ihrer Social-Media-Kanäle eher eine Randnotiz. Wenn man heute auf YouTube nach „Martin Sellner“ sucht, findet man einige Videos mit ihm (etwa Interviews auf Oe24) oder über ihn, nicht aber von ihm. Sein Kanal, dem gut 100.000 User gefolgt waren, existiert nicht mehr. Sellner selbst meinte dazu, sein Anwalt sei „bereits aktiv“. Dazu, ob Plattformen wie YouTube und Co. völlig autonom über Löschungen entscheiden dürfen, gibt es unterschiedliche Ansichten.
Das Ende von Sellners Kanälen scheint jedenfalls das Ende eines Prozesses zu sein, der mit dem Terroranschlag in Christchurch vom März 2019 begonnen hat. Einige Wochen später folgte eine gemeinsame Stellungnahme von Facebook, Microsoft, Google, Twitter und Amazon, der Christchurch Call to Action. Darin gelobten die fünf Konzerne, „sicherzustellen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Hass und Extremismus zu bekämpfen, der zu terroristischer Gewalt führt“. Schließlich wurden sie schon lange dafür kritisiert, ihr Geschäftsmodell auf hochproblematischen – wenn auch nicht illegalen – Inhalten aufzubauen. Klicks vor Moral sozusagen.
Als „white supremacist“ gelten Inhalte, die auf der Vorstellung einer genetisch bedingten und zu bewahrenden Überlegenheit weißer Menschen beruhen.
Die Kontroverse dreht sich also um grundsätzlich legale, aber höchst streitbare Inhalte, von denen sich viele Menschen angegriffen fühlen. Ein Drahtseilakt, der neben den Social-Media-Anbietern auch Richter beschäftigt, die bislang unterschiedliche Antworten gefunden haben.
So gab es in den USA bereits eine Reihe von Verfahren rund um Twitter, Facebook, Google oder Yahoo, in denen eine Verpflichtung zur Veröffentlichung bestimmter Inhalte zurückgewiesen wurde – schließlich haben Unternehmen ihrerseits ein Recht auf freie Meinungsäußerung und eine Art „digitales Hausrecht“.
Dazu gehört auch eine aus dem Februar 2020 ergangene Entscheidung aus San Francisco, derzufolge YouTube trotz seiner Marktdominanz kein „öffentliches Forum“ sei. Dementsprechend verneinte das Gericht eine Bindung an die Redefreiheit im 1. Zusatzartikel zur US-Verfassung. Hintergrund war eine Klage des Kanals „PragerU“, der „aggressives männliches Verhalten“ gefördert und den Islam verunglimpft haben soll. Daher wurden die Videos zwar nicht zensiert, wohl aber konnte der Betreiber keine Werbeeinnahmen machen. Einige Videos waren außerdem nur eingeschränkt, also für Erwachsene, verfügbar. Ein Sprecher von PragerU sah darin eine „Zensur konservativer Ideen vonseiten der großen Social-Media-Unternehmen“.
Deutsche Gerichte haben wiederum einen anderen Weg gewählt. Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich schon 1958 festgehalten, dass die Grundrechte auch Private verpflichten können. Eine Ansicht, die später im Zusammenhang mit dem Frankfurter Flughafen und Stadionverboten – die nicht willkürlich ausgesprochen werden dürfen – bestätigt wurde.
2019 wurde diese Haltung erstmals auf den Online-Bereich ausgeweitet. Auslöser war eine Klage der rechtsextremen Kleinstpartei „Der III. Weg“, deren Facebook-Kanal im Zuge der EU-Wahlen wegen „Hassrede“ zunächst gesperrt und später gelöscht wurde. Daraufhin reichte sie eine Klage ein. Da es noch kein endgültiges Urteil gab, ordnete das Bundesverfassungsgericht im Vorfeld die Entsperrung des Kanals an, wobei es auch auf die Marktdominanz von Facebook verwies. Durch die Sperre würden im Vorfeld einer Wahl vollendete Tatsachen geschaffen, die in keinem Verhältnis zu den Aufwendungen für Facebook stünden.
Die Folgenabwägung geht zum Teil zugunsten der Antragstellerin [die Partei „der Dritte Weg“] aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Antragstellerin eine Nutzung ihres Internetangebots auf Facebook versagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zur Wiedereröffnung des Zugangs hätte verpflichtet werden müssen, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens einstweilig zur Wiederherstellung des Zugangs verpflichtet würde, sich später aber herausstellte, dass die Sperrung beziehungsweise Zugangsverweigerung zu Recht erfolgt war. Dies gilt jedenfalls für den Zeitraum bis zur Durchführung der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahl), für den die Antragstellerin eine besondere Dringlichkeit in ihrem Antrag dargelegt hat.
Die Antragstellerin bedient sich des Angebots der Antragsgegnerin, das nach deren Werbeangaben von über 30 Millionen Menschen in Deutschland monatlich genutzt wird, um ihre politischen Auffassungen darzulegen und zu Ereignissen der Tagespolitik Stellung zu nehmen. Die Nutzung dieses von der Antragsgegnerin zum Zweck des gegenseitigen Austausches und der Meinungsäußerung eröffneten Forums ist für die Antragstellerin von besonderer Bedeutung, da es sich um das von der Nutzerzahl her mit Abstand bedeutsamste soziale Netzwerk handelt. Gerade für die Verbreitung von politischen Programmen und Ideen ist der Zugang zu diesem nicht ohne weiteres austauschbaren Medium von überragender Bedeutung. Durch den Ausschluss wird der Antragstellerin eine wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen Botschaften zu verbreiten und mit Nutzern des von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens betriebenen sozialen Netzwerks aktiv in Diskurs zu treten. Diese Möglichkeiten blieben ihr bei Nichterlass einer einstweiligen Anordnung verwehrt und würden dazu führen, dass die Wahrnehmbarkeit der Antragstellerin und ihrer Foren für diese Zeit in erheblichem Umfang beeinträchtigt wäre. Das gilt mit besonderer Dringlichkeit für den Zeitraum bis zum Abschluss der unmittelbar bevorstehenden Europawahl, an der die Antragstellerin als politische Partei mit einem gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 EuWG vom Bundeswahlausschuss zugelassenen Wahlvorschlag teilnimmt und für den allein sie eine besondere Eilbedürftigkeit geltend macht.
Nun liegt die Sache im Fall Sellners und der Identitären Bewegung freilich anders. Er ist kein Politiker, sie keine Partei, und es stehen auch keine Wahlen an. Gleichzeitig gibt es in Deutschland keine grundsätzlichen Vorbehalte dagegen, private Großunternehmen in die Pflicht zu nehmen, um höchst streitbare Inhalte zulassen zu müssen. Wie österreichische Richter damit umgehen würden, ist unklar. Hierzulande gibt es dazu noch keine Rechtsprechung. Vielleicht ändert sich das ja bald.