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Im Kontext – Die Reportage: Ausgeliefert – Jugendliche in Wohneinrichtungen
25. Januar 2018 Niederösterreich 47 min
„Therapeutischen Gemeinschaften“ (TG) und der Verein „Morgenstern“ stehen seit einiger Zeit in der Kritik: zu wenige und schlecht ausgebildete Mitarbeiter, finanzielle Probleme. Nun tauchten noch schwerwiegendere Vorwürfe auf.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Niederösterreich und ist Teil 6 einer 13-teiligen Recherche.

Ausgeliefert – Jugendliche in Wohneinrichtungen

Überforderte Sozialpädagogen, die Jugendliche misshandeln. Jugendliche, die aus Heimen weggewiesen werden und in der Kriminalität landen. Zwei niederösterreichische Wohneinrichtungen für Jugendliche stehen in der Kritik. Die Politik zieht unterschiedliche Schlüsse daraus.

In Wohneinrichtungen sollen Jugendliche, die psychische und physische Gewalt erlebt haben und zum Teil selbst gewalttätig oder drogensüchtig waren, wieder an ein normales Leben in der Gesellschaft herangeführt werden. Ihnen sollen schulische und berufliche Ausbildung ermöglicht und Zuneigung und familiäre Wärme entgegengebracht werden. Keine leichte Aufgabe für Sozialpädagogen, Psychologen und Hilfsbetreuer. Und offenbar auch keine leichte Aufgabe für die kontrollierenden Beamten und die Landespolitik.

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Schwere Vorwürfe

Zwei dieser Einrichtungen in Niederösterreich, die „Therapeutischen Gemeinschaften“ (TG) und der Verein „Morgenstern“ stehen seit einiger Zeit in der Kritik: zu wenige und schlecht ausgebildete Mitarbeiter, finanzielle Probleme. Nun tauchten noch schwerwiegendere Vorwürfe auf.

Wie schwierig es ist, die Situation in den Betreuungseinrichtungen von außen objektiv zu beurteilen, offenbart sich am Beispiel der „Therapeutischen Gemeinschaften“, die sich vor allem um jene Kinder kümmert, die unter den Schwererziehbaren die schwierigsten Fälle sind.

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Vom Security zum Jugendbetreuer

Einer, der ohne Ausbildung für die TG am Standort Ebenfurth gearbeitet hat, ist der 30-jährige Dominik Vock. Nach acht Jahren beim Bundesheer habe er bei den TG für eine Securityfirma zu arbeiten begonnen. „Nach drei Monaten habe ich dann als Betreuer gearbeitet.“ Etwa neun Monate später, sagt Vock, übernahm er, ohne geeignete Kenntnisse zu besitzen, allein Nachtdienste für acht Kinder der Betreuungseinrichtung. „Und nach eineinhalb Jahren hab ich – ohne Ausbildung – zwei neue Mitarbeiter eingewiesen.“ Vock, der mittlerweile nicht mehr für die TG arbeitet, und eine weitere ehemalige Betreuerin erheben zudem schwere Vorwürfe, in der TG Ebenfurth seien Kinder und Jugendliche von Mitarbeitern körperlich misshandelt worden.

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Körperliche Misshandlungen

Als Vocks Kronzeuge dient der heute 16-Jährige Manuel (Name geändert), der Gewalt in der TG am eigenen Leib erfahren haben will und seit einiger Zeit bei seinem ehemaligen Betreuer Vock lebt. Er sei „an den Haaren gezogen, aufs Bett geschmissen und kalt abgeduscht“ worden, schildert der 16-Jährige. Vock, der mittlerweile gekündigt hat, erstattete am 10. Jänner 2017 Anzeige wegen des Verdachts des „Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen“. Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt hat das Verfahren bereits im Mai 2017 eingestellt.

Dennoch setzte der zuständige Landesrat Franz Schnabl (SPÖ) eine Sonderkommission ein, die die Vorwürfe klären soll. Das Ergebnis soll im Februar 2018 vorliegen.

TG-Chef Hermann Radler versucht nun, sich gegen die Anschuldigungen zu wehren. Er erstattete Anzeigen, schickte Sachverhaltsdarstellungen an die Staatsanwaltschaft und reichte eine Beschwerde beim Psychotherapiebeirat ein.

Mordpläne

Unterdessen kam es zu mehreren Wendungen im Fall Michael, jenes 18-Jährigen, der angegeben hatte, in Einrichtungen der TG erniedrigt worden zu sein und mehrere Wochen in einem Auto genächtigt hatte. Er zog alle Vorwürfe der Misshandlungen zurück. Zudem sei er von den Therapeutischen Gemeinschaften nicht vor die Tür gesetzt worden, sondern habe deren Angebot für betreutes Wohnen ausgeschlagen, weil er dann besachwaltet worden wäre.

Und jetzt wurde Michael auch noch auf freiem Fuß angezeigt. Ihm wird angelastet, von einem geplanten Mord gewusst zu haben. Das Verbrechen soll von Andreas D., 18, ausgeheckt worden sein. D., der ebenfalls Misshandlungsvorwürfe gegen die TG Jaidhof erhoben hatte und ebenfalls ein Klient des angehenden Psychotherapeuten Laggner war, soll geplant haben, das Auto des TG-Geschäftsführers Hermann Radler zu rauben und diesen zu ermorden. Michael soll den Plan kurz vor der geplanten Ausführung verraten haben. D. wurde am 17. Jänner 2018 von der Polizei festgenommen und sitzt derzeit in U-Haft.

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38 junge Erwachsene verlieren ihr Zuhause

Anders gelagert, aber ebenfalls nicht unkompliziert, ist die Situation des im niederösterreichischen Markt Piesting beheimateten Vereins „Morgenstern“. Hier sorgen eine mehrfache Vergewaltigung und die Wegweisung eines Schutzbefohlenen für gehörige Turbulenzen. Hinzu kommt, dass die zuständigen Politiker unterschiedliche Schlüsse aus den Vorfällen ziehen.

Der Verein Morgenstern betreut 65 Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischer Beeinträchtigung. In mehreren Einrichtungen in und um Markt Piesting wohnen und arbeiten die jungen Menschen. Auch Lehrlingsausbildung wird angeboten. Das Ziel des 1998 gegründeten Vereins ist, die jungen Leute in die größtmögliche Unabhängigkeit zu begleiten.

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Die Arbeit mit Tieren hilft Jugendlichen mit psychiatrischen Diagnosen oder einer traumatischen Vergangenheit, zurück ins Leben zu finden.
Foto: Peter Mayr | Addendum
Marie und Patrick (Namen geändert) haben einander in der Psychiatrie kennengelernt und sind im Verein Morgenstern enge Freunde geworden. Patrick muss demnächst gegen seinen Willen ausziehen.
Foto: Peter Mayr | Addendum
Renate Goldmann hat den Verein Morgenstern vor 25 Jahren gegründet und fürchtet nun um ihr Lebenswerk.
Foto: Peter Mayr | Addendum
Diese Werkstätten könnten bald leer stehen. Noch bildet der Verein Morgenstern hier Lehrlinge aus.
Foto: Peter Mayr | Addendum

Was bringt das soziale Projekt nun ins Wanken? Einerseits wird einem 63-Jährigen aus Markt Piesting vorgeworfen, mehrere Klienten des Vereins vergewaltigt zu haben. Der Mann wohnt in der Nähe des Vereins, hat aber mit diesem nichts zu tun. Die Staatsanwaltschaft hat bereits Anklage erhoben. Dem Pensionisten drohen bis zu zehn Jahre Haft. Der Hauptkritikpunkt der Sozialabteilung des Landes Niederösterreich: Im Sommer des Vorjahres sei ein 18-Jähriger Klient vom Verein einfach auf die Straße gesetzt worden. Die zuständige Landesrätin Barbara Schwarz (ÖVP) ortet daher unter anderem „Verletzung der Aufsichtspflicht“. Der Vertrag mit dem Verein wurde aufgelöst, obwohl die Vertragsplätze erst vor rund einem Jahr aufgestockt worden waren. Schwarz: „Mir fehlt die Vertrauensbasis.“

Ein Brandstifter?

Renate Goldmann, die Geschäftsführerin des Vereins, sieht hingegen keinen Grund für die Vertragsauflösung. „Wir haben gemeinsam mit der Polizei eingeleitet, dass dieser Mensch ausgeforscht worden ist“, sagt sie über den mutmaßlichen Vergewaltiger. Das Problem mit dem 18-jährigen Klienten, der den Verein im Vorjahr verlassen musste, sei anders gelagert gewesen. Der Jugendliche habe das Bedürfnis gehabt, „alle anzuzünden“, wie Goldmann sagt. Er sei von sich aus in die Psychiatrie gegangen, dort aber nach einer Woche wieder entlassen worden. Wieder zurück im Verein, habe er alle Brandmelder abmontiert und gesagt: „Ich werde euch alle anzünden.“ Da die Polizei in dem Fall nicht einschreiten hätte können, sei ihr nichts anderes übrig geblieben, als den Jugendlichen aus dem Haus zu weisen. Nicht ohne ihn mit Adressen zu versorgen, an die er sich wenden könnte, wie sie sagt.

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„Es ist als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.“

Die 38 jungen Erwachsenen, die vom Verein Morgenstern betreut werden, fallen in den Zuständigkeitsbereich von Landesrätin Schwarz, die für die Behindertenhilfe zuständig ist. Sie müssen den Verein verlassen und werden in den nächsten Wochen in anderen Betreuungseinrichtungen untergebracht. Die Betroffenen sind schockiert. Klientin Marie-Theres, 22: „Es ist, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Die Minderjährigen fallen hingegen in die Zuständigkeit von Landesrat Schnabl (Kinder- und Jugendhilfe). Sie und die Klienten aus anderen Bundesländern dürfen weiterhin in den Morgenstern-Einrichtungen betreut werden. Da es sich um andere Räumlichkeiten und Mitarbeiterinnen handle, bestehe für ihn kein Handlungsbedarf, gibt Schnabl in einer schriftlichen Stellungnahme bekannt.

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Politische Konsequenzen

Kritik an Schwarz wird laut, weil sie im Falle Morgenstern zu restriktiv reagiere. Immerhin verlieren bis zu 20 Personen ihre Jobs, 38 Klienten werden aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen. Die Grüne Landeschefin Helga Krismer forderte bei einer Podiumsdiskussion am 18. Jänner im Hinblick auf die betroffenen Menschen, dass man sich „zusammenraufen und einen neuen Vertrag aushandeln“ solle. Der Leiter der Abteilung Soziales im Amt der niederösterreichischen Landesregierung, Martin Wancata, bekräftigte aber, dass keine Möglichkeit bestehe, einen neuen Vertrag zu schließen.

Zu hart, zu lasch

Zu lasch agiert den niederösterreichischen Grünen hingegen Landesrat Schnabl. Der SPÖ-Landesparteichef habe die Sonderkommission, die die Vorkommnisse in den Therapeutischen Gemeinschaften in Ebenfurth und Jaidhof untersuchen soll, erst unter dem Druck der Öffentlichkeit eingesetzt. Die Vorwürfe waren schon länger bekannt, so Krismer von den Grünen, die im Dezember 2017 eine neue Sachverhaltsdarstellung zum Thema TG bei der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt eingebracht haben. Indra Collini, die Spitzenkandidatin der NEOS für die niederösterreichische Landtagswahl, forderte am 16. Jänner, „Sofortmaßnahmen, bis klar ist, was mit den betroffenen Kindern in den Therapeutischen Gemeinschaften wirklich passiert ist“. „Mein Zugang ist, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und dann die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen“, erwidert Schnabl, der die in Kürze vorliegenden Ergebnisse der Sonderkommission abwarten will. 

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