Sehr wahrscheinlich wird die Regierung morgen, Mittwoch, die Nachbesetzung jener drei Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs verkünden, die mit Jahreswechsel in Ruhestand getreten sind. Der Presse zufolge schlägt die ÖVP Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter, die FPÖ Anwalt Michael Rami und den Linzer Rechtsprofessor Andreas Hauer für das mächtige Höchstgericht vor, das entscheidet, ob Gesetze und deren Anwendung mit der Verfassung vereinbar sind. Brigitte Bierlein soll Berichten zufolge die erste Präsidentin des Gerichtshofs werden, Christoph Grabenwarter Vizepräsident. Alle Ernennungen muss der Bundespräsident vornehmen – er könnte Kandidaten theoretisch auch ablehnen.
Das ist eine Entscheidung, die so oder so die Republik auf Jahrzehnte prägen wird – Verfassungsrichter bleiben in aller Regel, bis sie 70 werden.
Aber der Schichtwechsel am Höchstgericht hat auch eine Nebenfront mit Einfluss auf den gerade zu Ende gegangenen niederösterreichischen Wahlkampf – oder eben: gerade nicht.
Es geht, wieder einmal, um die Frage der Mindestsicherung. Der niederösterreichische Landtag hatte Ende 2016 mit den Stimmen von ÖVP, FPÖ und Teilen der Stronach-Überbleibsel die Paragraphen 11a und 11b des NÖ Mindestsicherungsgesetzes beschlossen. Und damit, die Sozialleistung auf maximal 1.500 Euro pro Familie zu deckeln – und sie an die Aufenthaltsdauer im Land zu knüpfen: Wer weniger als fünf der letzten sechs Jahre in Niederösterreich gelebt hat, erhält nur verminderte Mindestsicherungssätze.
Das traf nicht nur auf Protest von links, auch das Landesverwaltungsgericht meldete Zweifel an, dass diese Regelung mit der Verfassung vereinbar sei und legte sie anlässlich zweier Fälle im vergangenen Juli dem Verfassungsgerichtshof vor. Das Höchstgericht nahm sich vor, die Sache in seiner Dezembersession zu entscheiden – zufällig einen Monat vor der Landtagswahl in Niederösterreich.
Wie Addendum aus den Kreisen des Verfassungsgerichtshofs erfahren hat, standen die Zeichen in der Session darauf, dass die Deckelung verfassungswidrig sei: Sowohl der vorbereitende Richter als auch die Mehrheit in dem 14-köpfigen Gremium würden die Meinung vertreten, die Novelle verstoße gegen den Gleichheitssatz und sei daher aufzuheben.
Was, wie man argumentieren kann, peinlich für die niederösterreichische ÖVP gewesen wäre, die gerade mit einer „Arbeit muss sich auszahlen“-Linie gegen überbordende Sozialleistungen in den Wahlkampf eingestiegen war.
Nur: Im Dezember ist es zu keiner Entscheidung gekommen. Und zwar, weil ein Mitglied des Gerichts ein sogenanntes „Koreferat“ angemeldet hat – das heißt, einer der 14 Richter wollte eine andere Meinung als jener vertreten, der die Entscheidung vorbereitet hatte. Um ihm Gelegenheit zu geben, diese abweichende Rechtsmeinung auszuformulieren und zu begründen, hat das Richtergremium seine Entscheidung über die Deckelung der Mindestsicherung vertagt – sie wird jetzt frühestens im März fallen, mehr als einen Monat nach der Landtagswahl.
Es gibt drei Perspektiven, unter denen man diese Vorgehensweise betrachten kann. Die erste ist eine sehr allgemeine, verfahrenstechnische. Sie besagt, dass solche Koreferate und Vertagungen grundsätzlich nichts Ungewöhnliches sind, immer wieder und zu unterschiedlichsten Anlässen vorkommen. Mehr noch, dass sie ein wichtiges Instrument in der Willensbildung des Höchstgerichts sind, das von gut begründeten Diskussionen und informierten Abstimmungen lebt.
Eine andere Sichtweise auf diese Vertagung schaut die außergewöhnlichen Umstände an, unter denen sie stattfindet: Denn zwischen Dezember- und Märzsession sind, wie eingangs erwähnt, gleich drei Mitglieder des Gerichts in Ruhestand getreten: Präsident Gerhart Holzinger, Eleonore Berchtold-Ostermann und Rudolf Müller. Entsprechend der Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofs wird die Deckelung der Mindestsicherung in der Märzsession nun nur noch von den elf verbliebenen Mitgliedern des ursprünglichen Gremiums entschieden. Selbst wenn die neuen Richter bis dahin schon ernannt sind, rücken sie in bereits begonnene Beratungen nicht mehr nach.
Das heißt, dass die Vertagung der Sache nicht nur eine Verzögerung bedeutet – sie könnte theoretisch auch die Mehrheitsverhältnisse in der Sache und damit die Entscheidung ändern. Wäre es bei der ursprünglichen Abstimmung zum Beispiel 7:6 für eine Aufhebung gestanden (der Vorsitzende stimmt in der Regel nicht mit), und nun zwei Richter ausgeschieden und eine zum Vorsitzenden geworden, die für die Aufhebung gewesen wären, stünde es nun bei der neuerlichen Beratung 4:6 gegen die Aufhebung. (Das ist, wie man noch einmal betonen muss, theoretisch: Wie die Mehrheitsverhältnisse im Gericht nach der ausformulierten Gegenposition sein werden – oder wie es ohne diese Gegenargumente gestimmt hätte – kann man nur spekulieren. Aber es verdeutlicht, wie entscheidend diese Vertagung sein könnte.)
Schwerer wiegt aber die politische Sichtweise der Dinge – und zwar eine, die von zumindest einer im Landtagswahlkampf aktiven Partei hinter vorgehaltener Hand erzählt wird. Dass nämlich besagter Richter, der mit seiner abweichenden Meinung die Verschiebung der Entscheidung bis nach der Landtagswahl bewirkt hatte, das mit voller Absicht getan habe, um das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten.
Nun könnte sich aber jeder Verfassungsrichter darauf berufen, eben eine fundierte andere Rechtsmeinung ausformulieren zu wollen, um seine richterliche Pflicht zu erfüllen. Weil das eine valide Argumentation ist, die aber kein Richter offen zu führen vermag, weil die Beratungen des Gerichts totaler Vertraulichkeit unterliegen, nimmt Addendum davon Abstand, Details wie den Namen des Richters zu nennen, der für die Verschiebung der Entscheidung bis hinter die Landtagswahl verantwortlich ist. (Wir haben sowohl den betreffenden Verfassungsrichter als auch VfGH-Sprecher Wolfgang Sablatnig um eine Stellungnahme ersucht. Sablatnig hat für beide darauf verwiesen, dass der Verfassungsgerichtshof seine Beratungen nicht kommentiert.)
Details über die Diskussion der Richter wird die Öffentlichkeit nie erfahren, weil der Verfassungsgerichtshof nicht die (etwa in den USA übliche) Praxis kennt, uneindeutige Entscheide mittels „dissenting opinion“ auch öffentlich auseinanderzusetzen. Auch deswegen kann man davon ausgehen, dass das Verfassungsgericht in den kommenden Jahren noch stärker politisch wahrgenommen wird – wenn nämlich zu den bisher ausschließlich aus dem Umfeld von SPÖ und ÖVP stammenden Richtern auch solche treten, die der FPÖ nahestehen.