Für die europäische Medienwelt ist der 4. März 2018 ein entscheidender Tag: In der Schweiz wird über die Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren abgestimmt. Die Debatte, die an jene rund um die Abschaffung der GIS-Gebühren hierzulande erinnert, wird unter dem Schlagwort „No Billag“ geführt.
Die Billag AG ist die schweizerische Erhebungsstelle für Radio- und Fernsehgebühren.
Die schweizerischen Gegner der „Zwangsgebühren“ argumentieren mit der Freiheit des Einzelnen und der Unternehmen. Aber auch Marktverzerrung und Verdrängung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden ins Treffen geführt.
Ganz anders die Befürworter der SRG, deren Angebot Sendungen in allen vier Landessprachen umfasst: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde „einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt und zu einer funktionierenden Demokratie in der Schweiz“ leisten. Damit ist das Prinzip des sogenannten Public Value angesprochen, also des „öffentlichen Werts“ des Rundfunks für die Gesellschaft als solche.
Das Prinzip des Public Value geht auf den Harvard-Professor Mark H. Moore zurück. Der Wirtschaftswissenschaftler kam zum Ergebnis, dass das Ziel betrieblicher Tätigkeit im öffentlichen Sektor die Schaffung von Public Value sei. Allerdings gestand Moore auch ein, dass sich Public Value grundsätzlich nicht „messen“ lasse.
Dem steht der sogenannte Private Value im privaten Sektor gegenüber.
Die britische BBC war die erste Rundfunkanstalt, die sich mit dieser neuen Public-Value-Lehre beschäftigte. Sie erstellte ein eigenes Manifest, mit dem einerseits die Einhebung von Gebühren begründet wurde, das andererseits aber auch eine Rechenschaftspflicht gegenüber den Gebührenzahlern vorsah: Die erbrachten Leistungen sollten hinsichtlich ihres Public Values beurteilt werden.
Die Public-Value-Debatte ergriff nach und nach andere Länder, auch Österreich. Hierzulande mündete sie im Jahr 2010 in einigen Änderungen des ORF-Gesetzes (ORF-G).
Die zentrale Public-Value-Bestimmung des Gesetzes ist der sogenannte öffentlich-rechtliche Kernauftrag: Das ausgewogene Gesamtprogramm müsse demnach anspruchsvolle Inhalte gleichwertig enthalten. Die Jahres- und Monatsschemata des Fernsehens seien so zu erstellen, dass jedenfalls in den Hauptabendprogrammen (20 bis 22 Uhr) in der Regel anspruchsvolle Sendungen zur Wahl stünden. Und es sei gegenüber kommerziellen Sendern in Inhalt und Auftritt auf die Unverwechselbarkeit des ORF zu achten. Außerdem seien die Qualitätskriterien laufend zu prüfen und hätten sich insbesondere Sendungen und Angebote in den Bereichen Information, Kultur und Wissenschaft durch hohe Qualität auszuzeichnen.
Ein weiteres Beispiel ist die Bestimmung des § 31c ORF-G. Demnach dürfen Mittel, die dem ORF aus Programmentgelt zufließen, nicht in einer zur Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags nicht erforderlichen wettbewerbsverzerrenden Weise verwendet werden. Gemeint ist etwa der Erwerb von Senderechten zu überhöhten, nach kaufmännischen Grundsätzen nicht gerechtfertigten Preisen – oder die Vergabe von kommerzieller Kommunikation zu niedrigen Preisen, die lediglich dazu dienen, den Marktanteil am Werbemarkt zulasten der Mitbewerber anzuheben.
Um die Erfüllung dieses öffentlich-rechtlichen Kernauftrags des ORF und damit die Sendung von Public Value sicherzustellen, wurde unter anderem ein Qualitätssicherungssystem eingeführt (§ 4a ORF-G). Neben der Entwicklung qualitativer Kriterien sollen damit auch die den einzelnen Programmkategorien zuzurechnenden Anteile des Angebots „festgeschrieben“ werden.
Für die Erstellung dieses Qualitätssicherungssystems ist der Generaldirektor zuständig. Und der – politisch besetzte und geheim abstimmende – ORF-Stiftungsrat hat zuzustimmen. Die Überprüfung, ob den Qualitätskriterien entsprochen wurde, ist dann von einem weisungsfreien Sachverständigen vorzunehmen. Dieser wird ebenfalls vom Generaldirektor mit Zustimmung des Stiftungsrats bestellt.
Welche ORF-Inhalte entsprechen aber nun dem öffentlich-rechtlichen Auftrag, und welche sind als Public Value zu qualifizieren?
Der Stiftungsrat besteht aus 35 Mitgliedern, die auf jeweils 4 Jahre bestellt werden wie folgt: 6 Mitglieder von der Bundesregierung auf Vorschlag der im Nationalrat vertretenen Parteien, wobei jede im Hauptausschuss vertretene Partei durch mindestens ein Mitglied vertreten sein muss, je ein Mitglied von den Bundesländern – insgesamt also 9 –, weitere 9 Mitglieder von der Bundesregierung, 6 Mitglieder vom Publikumsrat und 5 vom Zentralbetriebsrat.
Weitere Mechanismen zur Überprüfung der Qualität bestehen in Meinungsumfragen, in Empfehlungen des Qualitätsausschusses des ORF-Publikumsrates sowie in der jährlichen Analyse der Kriterien und Verfahren zur Qualitätssicherung durch den ORF selbst.
Eine Erklärung versucht der ORF selbst, und zwar in seinen seit einem knappen Jahrzehnt jährlich herausgegebenen Public-Value-Berichten. Aufgeschlüsselt nach fünf „Qualitätsdimensionen“ werden die ausgestrahlten Inhalte des vergangenen Jahres dargestellt. Teils detaillierter, teils weniger detailliert, manche mit Sendezeiten, manche mit Reichweiten, sehr wenige unter Angabe der einzelnen Sendung.
Darüber hinaus hat der ORF jeweils bis zum 31. März einen Jahresbericht zu erstellen. Dieser relativ detaillierte Bericht soll ebenfalls über die Erfüllung der gesetzlichen Aufträge des ORF Auskunft geben. Vor allem ist er aber dem Nationalrat vorzulegen und kann dort diskutiert werden. Zuvor erhalten ihn noch der Bundeskanzler – und: die Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria).
Individueller Wert, Gesellschaftswert, Österreichwert, Internationaler Wert, Unternehmenswert
Die KommAustria ist jene mit dem KommAustria-Gesetz (KOG) eingerichtete Behörde, die für die Rechtsaufsicht des ORF und seiner Tochtergesellschaften zuständig ist. Das umfasst unter anderem auch die Prüfung, ob das Verfahren zur Erstellung und Überarbeitung des genannten Qualitätssicherungssystems eingehalten wurde. Diese Überprüfung ist, wenn keine eigene Beschwerde erhoben wurde, allerdings nur alle zwei Jahre verpflichtend.
Außerdem kann die KommAustria in bestimmten Fällen von sich aus Prüfungen gegen den ORF einleiten, hat Einsichtsrechte in Unterlagen und ist berechtigt, Verwaltungsstrafen zu verhängen.
Aber auch die sogenannte Auftragsvorprüfung für neue oder geänderte Angebote oder Programme des ORF liegt in der Kompetenz der KommAustria. Dafür wurde zwar ein eigener Public-Value-Beirat eingerichtet, bestehend aus Mitgliedern mit kommunikationswissenschaftlichen Fachkenntnissen. Allerdings sind erstens die entscheidungsrelevanten Kriterien eher „weich“. Zweitens entscheidet letztendlich gar nicht dieses Expertengremium, sondern die KommAustria selbst: Der Beirat hat nur ein Recht zur Stellungnahme. Und drittens werden die Mitglieder des Beirats von der Bundesregierung selbst bestellt.
Als neue Angebote gelten gemäß § 6 Abs 2 ORF-G (i) Programme oder Angebote gemäß § 3 ORF-G, die erstmals veranstaltet oder bereitgestellt werden und sich wesentlich von den vom Österreichischen Rundfunk aufgrund der §§ 3 bis 5 ORF-G bereits zum Zeitpunkt der Auftragsvorprüfung erbrachten Programme oder Angebote unterscheiden, oder (ii) bestehende Programme oder Angebote gemäß § 3 ORF-G, die so geändert werden, dass sich das geänderte Programm oder Angebot voraussichtlich wesentlich vom bestehenden Programm oder Angebot unterscheiden wird.
So ist, neben einer Prüfung der Marktauswirkungen, vor allem dann auf Genehmigung des neuen Angebots zu entscheiden, wenn zu erwarten ist, dass es zur Erfüllung der sozialen, demokratischen und kulturellen Bedürfnisse der österreichischen Bevölkerung und zur wirksamen Erbringung des öffentlich-rechtlichen Kernauftrags beiträgt (§ 6b Abs 1 ORF-G).
Die Genehmigung kann zwar unter der Erteilung von Auflagen erfolgen. Konkrete Inhalte des Angebots dürfen jedoch selbst von der KommAustria nicht im Wege von Auflagen vorgeschrieben werden.
Eine wirksame Kontrolle des ORF durch die KommAustria erfordert vor allem eins: ihre Unabhängigkeit. Die Mitglieder sind zwar unabhängig und weisungsfrei, außerdem bestehen umfangreiche Unvereinbarkeitsbestimmungen für deren Bestellung. Allerdings können ehemalige Mitarbeiter des ORF Mitglieder der Behörde werden – sie müssen nur ein Jahr abwarten. Mit einem Abänderungsantrag im Parlament wurde die ursprünglich geplante Wartefrist von vier Jahren aus dem KommAustria-Gesetz (KOG) verhindert. Hinzu kommt, dass die Mitglieder vom Bundespräsidenten über Vorschlag der Bundesregierung bestellt werden, was theoretisch politische Einflussnahmen ermöglicht.
Andererseits ist die KommAustria aber auch wirtschaftlich stark mit dem ORF verbunden (§ 35 KOG): Zur Finanzierung des Aufwands, den die KommAustria und die Rundfunk- und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR-GmbH), die die KommAustria als „Geschäftsapparat“ im Fachbereich Medien unterstützt, haben, erhalten sie neben Mitteln aus dem Bundeshaushalt auch Finanzierungsbeiträge der sogenannten Branche Medien – und damit auch des ORF, der sogar der Hauptbeitragszahler ist. Die Finanzierungsbeiträge berechnen sich nach dem Verhältnis des jeweiligen Umsatzes des Beitragspflichtigen zum Gesamtumsatz der Branche.
Das bedeutet: Je mehr Umsatz der ORF im Verhältnis erzielt, desto größer ist der Anteil der Finanzierungsbeiträge, die er abzuführen hat. Damit besteht eine finanzielle Beziehung zwischen genau jenen, die unter anderem für die Public-Value-Kontrolle der Angebote und Programme des ORF zuständig sind, und dem ORF selbst.
Die RTR-GmbH ist auch für den Aufbau und die Führung eines Public-Value-Kompetenzzentrums zuständig. Aus Sicht der Unabhängigkeit problematisch ist, dass Bestellungs- und Aufsichtskompetenzen hinsichtlich der RTR-GmbH teils direkt beim Bundeskanzler beziehungsweise dem zuständigen Bundesminister liegen.
Abgesehen vom ORF sind die in Österreich niedergelassenen Rundfunkveranstalter und die nach dem AMD-Gesetz zur Anzeige verpflichteten Mediendiensteanbieter Teil der Branche Medien und damit beitragspflichtig.
Es bestehen also mehrere Problemfelder. Die Kontrolle, ob und inwieweit Public Value gesendet und der öffentlich-rechtliche Kernauftrag erfüllt wird, unterliegt in weiten Teilen der Selbstorganisation des ORF.
Zwar hat die Einrichtung der KommAustria zu einer verbesserten, externen Public-Value-Kontrolle geführt. Dass der Instanzenzug von der KommAustria weiter zum Bundesverwaltungsgericht und, schließlich, zum Verwaltungs- beziehungsweise Verfassungsgerichtshof führt, tut sein Übriges dazu.
Wie beschrieben bergen jedoch unter anderem die Bestellungsmodalitäten von Entscheidungsträgern mögliche Interessenkollisionen und politische und wirtschaftliche Verzahnungen. Dasselbe gilt für das Fehlen gesetzlicher Regelungen, welche Inhalte genau dem öffentlichen Auftrag entsprechen und was als Public Value zu qualifizieren ist – und was nicht. Denn die derzeitige Rechtslage führt zu einem nicht unerheblichen Ermessensspielraum des ORF.