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Bauer versus Umweltschützer – Wenn im Essen der Wurm drin ist
22. Oktober 2018 Pestizide Lesezeit 7 min
Dürfen Landwirte auf ihren Feldern Chemikalien versprühen, um damit unser Essen zu produzieren? Um diese Frage streiten Erzeuger und Umweltschützer, Letztere mit einem Großteil der Bevölkerung im Rücken. Wie unversöhnlich sind Ackernde und Essende?
Dieser Artikel gehört zum Projekt Pestizide und ist Teil 4 einer 9-teiligen Recherche.
Bild: Addendum

Lorenz Mayr zieht sich seinen Gesichtsschutz über und öffnet den knackenden Schraubverschluss eines Plastikkanisters. Während der 36-jährige Landwirt das Behältnis behutsam über einen Messbecher hält, fließt dort hinein ein weißlich-beiges, dickflüssiges Konzentrat. Bei exakt 1,5 Litern bricht der Strahl ab. „Mehr darf es nicht sein, sonst ist es überdosiert. Mit weniger würde die Wirkung nachlassen“, erklärt Mayr und schüttet das Mittel in sein Spritzfass, wo es sich in 270 Litern Wasser löst. Genau die Menge, die der Landwirt auf einem Hektar seiner Erdäpfel-Fläche in der Ortschaft Steinabrunn im Weinviertel versprühen will.

Das Mittel wirkt gegen die Kraut- und Knollenfäule, jene verheerendste aller Kartoffelkrankheiten, die durch den Pilz Phytophthora infestans verursacht wird. Kaum ein Erdäpfelfeld in der Welt, das der Schädling nicht attackiert; vor allem in feuchten Jahren. Die unsichtbaren Sporen kommen über die Luft, treiben ihre Keimschläuche in das Pflanzengewebe und lassen Blätter oben braun und an der Unterseite pilzrasenbewuchert zurück. Infizierte Knollen sind wegen stinkender Fäulnis ungenießbar.

Die Phytophthora war Mitte des 19. Jahrhunderts für den Hungertod von rund einer Million Iren verantwortlich. Und irgendwie auch dafür, dass John F. Kennedy erschossen wurde. Denn ohne die große Hungersnot zwischen 1845 und 1852 wären Kennedys Vorfahren wohl nicht, gemeinsam mit einer weiteren Million Iren, in die USA ausgewandert und John F. 1960 nicht zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt geworden.

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Krautfäule und Kartoffelkäfer

Als Kartoffel-Anbauer Lorenz Mayr an diesem Junimorgen mit seinem Traktor und der angebauten Feldspritze hinausfährt, ist es kurz nach fünf Uhr morgens. Kühlere Temperaturen und Tau verbessern die Wirksamkeit seiner Spritzbrühe, die zusätzlich zum Fungizid („Pilztöter“) gegen die Krautfäule auch ein Insektizid („Insektenvertilger“) gegen den Kartoffelkäfer enthält. Solche Maßnahmen mit chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln sind ein wesentlicher Bestandteil der Landwirtschaft – neben Sortenwahl, Fruchtfolge, Saatzeitpunkt, Bodenbearbeitung oder Düngung.

Doch kein anderer seiner Arbeitsschritte wird von der Öffentlichkeit so kritisch beäugt. „Ich hab’ das selbst schon erlebt: Du fährst mit der Pflanzenschutzspritze raus, und die Leute überholen dich und hupen dich an, weil sie glauben, du vergiftest die Umwelt“, schildert der Landwirt und ärgert sich dabei: „Es wird uns vorgeworfen, dass wir aus Profitgier Pestizide einsetzen. Mir kommt das schon vor wie eine Hetze gegen die Bauern. Aber wir produzieren gesunde und sichere Lebensmittel. Ich weiß das! Meine Frau nimmt unseren eigenen Weizen zum Brotbacken, weil wir wissen, dass er gesund und sicher ist.“

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„Die Menschen aus der Stadt fallen aus allen Wolken, wenn sie uns mit der Spritze fahren sehen“, sagt Landwirt Lorenz Mayr in der „Im Kontext“-Reportage „Gift im Essen: Brauchen wir Pestizide?“

Der deutsche Bioland-Verband teilt auf Twitter ein Foto von Global 2000 und argumentiert damit gegen den Einsatz von Pestiziden. Allerdings setzen auch Bioland-Bauern „Ackergifte“ ein. Vor allem im Weinbau, bei Erdäpfeln, aber auch im Obst- und Gemüseanbau.

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„Monsanto-Knecht“

Wer sich als praktizierender Landwirt in die Tiefen der allgemeinen Agrar- und Umweltdebatte begibt, dem kann ein dickes Fell in der Tat nicht schaden. „Giftspritzer“, „Umweltsau“ oder „Monsanto-Knecht“ gehören dabei noch zu den harmloseren Liebkosungen, mit denen man als Bauer umgehen können muss. Vor fünf Jahren musste der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) ein heftig kritisiertes Video wieder zurückziehen.

Darin wurden in einem Acker eingegrabene Babys von einem Flugzeug mit Gift besprüht; gefolgt vom Schriftzug „Pestizide. Hergestellt, um zu töten.“

Abseits verbaler Giftspritzereien gibt es aber auch viel sachliche Kritik an der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Demnach seien das behördliche Zulassungs- und Überwachungssystem löchrig, die Umweltauswirkungen fatal und die Effekte auf die menschliche Gesundheit ungewiss .

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Ökologischer Kollaps

Szenenwechsel. Interviewtermin in der Neustiftgasse im siebten Wiener Gemeindebezirk. In einem Besprechungsraum von Global 2000 wartet Helmut Burtscher-Schaden, Umweltchemiker und Pestizid-Experte der Umweltschutz-Organisation. Der Autor des Buchs „Die Akte Glyphosat“ spricht mit Bedacht, ohne alarmierende Gestik und Mimik. Seine Botschaften sind dennoch deutlich: „Was ich wirklich als das grundlegende Problem beim Einsatz dieser Pestizide sehe, ist, dass wir wirklich auf einen ökologischen Kollaps zusteuern mit dem System, wie wir derzeit unsere Ernährung sichern“, gibt Burtscher-Schaden zu Protokoll. Er spricht vom Zurückdrängen der Insekten, von Amphibiensterben und schließlich auch von Folgen für die menschliche Gesundheit, die aus seiner Sicht unklar seien. „In welchem Ausmaß die Pestizide zu den gesundheitlichen Problemen beitragen, mit denen wir uns derzeit konfrontiert sehen, also einer Zunahme an bestimmten Erkrankungen, die als Zivilisationskrankheiten bekannt sind, wissen wir nicht.“

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Helmut Burtscher-Schaden, Umweltchemiker von Global 2000: „Wir steuern auf einen ökologischen Kollaps zu!“ Ausschnitt aus der „Im Kontext“-Reportage „Gift im Essen: Brauchen wir Pestizide?“

Nicht zurückentwickeln

Im Gegensatz zu manchem Politiker oder Aktivisten trommelt Burtscher-Schaden nicht für vermeintliche Pauschallösungen oder selbsterdachte Patentrezepte. „Ich wäre froh, ich hätte jetzt die Lösung, wie wir das Ruder noch rechtzeitig rumreißen, aber wovon ich überzeugt bin: Pestizide sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.“

Burtscher-Schaden sieht in der Weiterentwicklung und Förderung der biologischen Landwirtschaft einen wichtigen Schritt in Richtung einer Lösung. Die Anwendung moderner Technik, wie zum Beispiel der digitalisierten Präzisions-Landwirtschaft, will er dabei auch für biologische Anbaumethoden nicht ausschließen. Klug eingesetzt, könnten solche Technologien auch in der konventionellen Landwirtschaft den Einsatz chemischer Pestizide stark reduzieren. „Es ist nicht so, dass wir uns jetzt zurückentwickeln sollten.“ Zudem sieht Umweltschützer Burtscher-Schaden in der Erforschung „agrarökologischer Methoden“ wie etwa der Förderung von Nutzinsekten Luft nach oben.

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Gifte in der Biolandwirtschaft

Über die Frage, ob die biologische Landwirtschaft die Lösung der Pestizid-Problematik bringen kann, wird immer wieder gestritten, die Forderung nach ihrem Ausbau oft mit einer „pestizidfreien Landwirtschaft“ und einer Landschaft „ohne Ackergifte“ in Verbindung gebracht; Formulierungen, die im besten Fall als irreführend einzustufen sind. Auch wenn manche Kulturen, wie zum Beispiel Getreide, bei Bio tatsächlich weitgehend ohne Pestizide auskommen.

Ebenso wahr ist, dass auch Biobauern Gifte versprühen, vor allem bei Erdäpfeln, Wein, Obst oder Gemüse. Ihr Repertoire ist allerdings auf rund 25 Wirkstoffe beschränkt, die den Biorichtlinien zufolge als „natürlich“ gelistet sind. Was sie allerdings nicht davon abhält, als Nervengift Insekten zu töten (z.B. Pyrethrum) oder sich als Schwermetall im Boden anzureichern (z.B. Kupfer).

Und trotzdem: Etliche Studien bescheinigen der Biolandwirtschaft positive Auswirkungen auf Umwelt und Artenvielfalt. Gleichzeitig werden diese Effekte dadurch wieder aufgefressen, dass Bio-Methoden geringere Erträge bringen und deshalb zur Erzeugung gleicher Lebensmittelmengen mehr Fläche beanspruchen.

Einfache Lösungen scheinen also nicht in Sicht.

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Glyphosat ist der meistdiskutierte Pestizid-Wirkstoff der vergangenen Jahre. Landwirt Lorenz Mayr erklärt, warum er den Unkrautvertilger als wichtiges Werkzeug des Bodenschutzes sieht. (Ausschnitt aus der „Im Kontext“-Reportage „Gift im Essen: Brauchen wir Pestizide?“)

Der Drahtwurm

Landwirte wie Lorenz Mayr benötigen diese Lösungen allerdings in jeder neuen Anbausaison. Wir treffen ihn im Herbst wieder. Es ist einer jener Tage, an denen man Bauer sein möchte. Milde Septemberluft liegt über dem Weinviertel, ein sonniger Tag kündigt sich an, und schon frühmorgens tuckern links und rechts der Landstraße die Kartoffel-Roder scheinbar gemütlich über die Felder. Mayr steht auf der Arbeitsplattform seines Roders, ihm gegenüber seine Mutter Maria. Beide sortieren Erdäpfel. Zu klein geratene, faule oder anderweitig beschädigte werfen sie auf den Boden.

Die Spritzung vom Juni habe gut gewirkt, aber das Jahr sei viel zu trocken gewesen. Der fehlende Regen sorgt jetzt für Ertragsausfälle. Und: Mayr schnappt einen der über das Förderband kugelnden Erdäpfel und zeigt mit dem Finger auf die Knolle. Ein etwas mehr als zwei Zentimeter langer Wurm schiebt sich gerade aus dem Inneren. „Momentan schauen wir hilflos zu, wie der Drahtwurm uns die Erdäpfel wegfrisst“, klagt Mayr. Während in der Stadt vom Insektensterben die Rede ist, spricht der Weinviertler Landwirt von einer Insektenplage, die ihm heuer in allen seinen Kulturen zu schaffen gemacht habe.

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Kartoffeln und Bienen

Den Drahtwurm konnten Kartoffelanbauern bis vor ein paar Jahren noch mit dem Wirkstoff Fipronil bekämpfen. Er wurde als Granulat „Goldor Bait“ beim Legen der Saatknollen im Frühjahr mit in die Erde gebracht. Weil Fipronil aber als bienengefährlich eingestuft ist, wurde das Mittel vom Markt genommen. Zum Unverständnis des Kartoffelbauers: „Das Granulat ist 20 cm unter den Boden gekommen. Die Biene kommt da nicht hin.“

Landwirte wie Mayr sehen durch den Wegfall immer weiterer Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffe ihre Ernten in Gefahr. Den Anbau von heimischen Zuckerrüben sieht er gänzlich auf der Kippe, weil die bis heuer zugelassenen Neonicotinoid-Beizmittel gegen den Erdfloh von der EU verboten wurden.

Erdäpfel mit Fraßschäden durch den Drahtwurm werfen Mayr und seine Mutter postwendend zurück auf den Acker, auch wenn sie teilweise noch genießbar wären. „Die gleichen Handelsketten, die sich für ein Verbot des Insektizids ausgesprochen haben, sagen jetzt: Den kannst du wegschmeißen.“ 

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